Nachricht | International / Transnational - Krieg / Frieden - Asien - Palästina / Jordanien - Westasien im Fokus «Gazastreifen und Westjordanland sind sich fremd geworden»

Ein Gespräch mit Ute Beuck, Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah.

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Autorin

Katja Hermann,

Ute Beuck, Rosa-Luxemburg-Stiftung Palästina
Ute Beuck, Rosa-Luxemburg-Stiftung Palästina

Die seit 2007 anhaltende Blockade des Gazastreifens sowie die Folgen der drei Gaza-Kriege (2008/9, 2012, 2014) haben schwerwiegende Auswirkungen auf das Leben der Menschen in dem kleinen Küstenstreifen. Seit Jahren warnen die UN vor einer humanitären Katastrophe und davor, dass Gaza in absehbarer Zeit unbewohnbar sein wird. 2018 ist ein besonders unruhiges Jahr in Gaza. Seit dem Frühjahr protestieren Palästinenser*innen an den Zäunen, die Gaza von Israel abtrennen, für das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge. Bei den Demonstrationen wurden nach Angaben von OCHA, der UN-Koordinierungsstelle für humanitäre Hilfe in den besetzten palästinensischen Gebieten, bislang mehr als 200 Palästinenser*innen durch das israelische Militär getötet und mehr als 21.000 Menschen erlitten Verletzungen. Im November gab es erneut Tote und Verletzte, nachdem eine verdeckte israelische Militäraktion im Gazastreifen aufgeflogen war.

Mit Ute Beuck sprach Katja Hermann, Leiterin das Westasien-Referats der Rosa-Luxemburg-Stiftung, über die andauernde palästinensische Spaltung, die schwierige Lage im Gazastreifen und neue Bündnisse.
 

Katja Hermann: Die schlechten Nachrichten aus dem Gazastreifen reißen nicht ab. Was bedeutet die erneute Eskalation für die Menschen in Gaza?

Ute Beuck: Im Vergleich zu dem, was die Menschen im Gazastreifen in diesem Jahr bereits durchmachen mussten, stellt die jüngste Eskalation keinen besonderen Höhepunkt dar. Auch die Bombardierung von militärischen Stellungen im Gazastreifen durch Israel ist kein außergewöhnliches Vorgehen.

Was aber interessant ist, ist, dass Israel und die Hamas gerade in diesen Tagen dabei waren, ein langfristiges Waffenstillstandsabkommen umzusetzen. Dass ein relativ kleines Vorkommnis wie eine schiefgegangene verdeckte Militäroperation – seit 2015 sind ca. 200 ähnlicher Operationen durchgeführt worden - zu einem derartigen Gewaltausbruch führte, zeigt klar, wie fragil die gesamte Situation ist und wie wenig es braucht, um eine Spirale der Gewalt in Gang zu setzen. Auf der anderen Seite wurden die gegenseitigen Übergriffe nach drei Tagen erstaunlich schnell wieder eingestellt, was auf die Wiederaufnahme der Waffenstillstandsvereinbarungen hindeutet. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass trotz aller Kriegsrhetorik auf beiden Seiten, keine Seite ein Interesse an Kampfmaßnahmen hat. Hamas nicht, weil sie weiß, dass sie keine Chance hat zu gewinnen. Israel wiederum befürchtet, im Zuge der Kampfhandlungen die Verantwortung für den Gazastreifen wieder zu erlangen, die sie, nebenbei gesagt, aus völkerrechtlicher Sicht immer noch hat, aber nicht wahrnimmt.

Der sogenannte Versöhnungsprozess zwischen Fatah und Hamas dauert nun schon viele Jahre, ohne dass sich eine Einigung abzeichnet. Was macht es für die rivalisierenden Akteure so schwierig, diese Spaltung zu überwinden?

Die Schuld für den stockenden Versöhnungsprozess schieben sich beide Akteure, Fatah und Hamas, gegenseitig zu. Die genannten Gründe, wie beispielsweise die Probleme bei der Integrierung der Mitarbeiter*innen der Hamas in die Institutionen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), kann man getrost als vorgeschoben betrachten. Solche Fragen ließen sich lösen, wenn es einen echten politischen Willen gebe. Nicht unterschätzen sollte man dagegen, dass der sogenannte «Bruder-Krieg» zwischen Angehörigen der Fatah und Hamas im Gazastreifen 2007 zu einem tiefen Misstrauen geführt hat, das noch anhält und das einem positiven, offenen Verhandlungsprozess im Weg steht. Die Hamas erklärte sich im Herbst 2017 zu dem Versöhnungsprozess bereit, da sie sich aufgrund ihrer desaströsen finanziellen Lage nicht in der Lage sah, den notwendigen Aufbauprozess im Gazastreifen nach dem verheerenden Krieg von 2014 zu leisten. Sie wollte verhindern, den Rest Rückhalt, den sie noch in der Bevölkerung hatte, gänzlich zu verlieren.

Genau darin ist aber teilweise auch die Zurückhaltung der PA begründet, die Verantwortung für den Gazastreifen zu übernehmen. Die humanitäre Situation vor Ort ist katastrophal. Um die Infrastruktur und die öffentlichen Dienstleistungen wieder auf einen menschenwürdigen Stand zu bringen, benötigt es einen massiven, nicht nur finanziellen Einsatz. Die PA befürchtet bei einer nicht zeitnahen Bereitstellung dieser Leistungen, ähnlich wie jetzt die Hamas, die Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Dazu kommt, dass die von Präsident Mahmud Abbas eingeführten Sanktionen gegen den Gazastreifen im letzten Jahr bereits zu einem massiven Vertrauensverlust in der Bevölkerung geführt haben. Es ist nicht einfach, hier das Vertrauen wieder zurück zu gewinnen.

Ägypten versucht sich als Vermittlerin in den Verhandlungen zwischen Fatah und Hamas zu profilieren, hat sich aber gleichzeitig jahrelang an der Blockade des Gazastreifens beteiligt. Welche Interessen verfolgt Ägypten?

Der Nahe Osten ist seit Jahren in Bewegung und man sieht heute Allianzen, die man vor einiger Zeit noch als unmöglich bezeichnet hätte. So bietet sich auf den ersten Blick auch eine Kooperation zwischen der aus den Muslimbrüdern hervorgegangenen Hamas und dem ägyptischen Regime von al-Sisi, das in Ägypten die Muslimbrüder aus der Regierungsverantwortung geputscht hat, nicht an. Aber wie so oft sind gemeinsame Interessen ein starkes Bindeglied. Ein gemeinsames Problem beider Akteure findet sich zum Beispiel auf dem Sinai, der seit Jahren durch verschiedene Zellen des Islamischen Staates (IS) beherrscht wird - was sowohl für Ägypten als auch für die Hamas eine Bedrohung darstellt. Zudem entfernte sich die Hamas in den vergangenen Jahren schrittweise von ihrem Erbe der Muslimbruderschaft, was eine Annäherung an Ägypten einfacher gemacht hat.

Ein großer Teil der palästinensischen Bevölkerung kritisiert die Spaltung und macht sie für die desolate Lage im Gazastreifen und für die politische Schwäche der Palästinenser*innen insgesamt verantwortlich. Wie gestaltet sich der Widerstand gegen die Spaltung und von wem wird er getragen?

Von einem wirklichen Widerstand gegen die Spaltung kann nicht gesprochen werden. Die de-facto Trennung zwischen den beiden Gebieten besteht seit über zehn Jahren, d.h. gerade in der jüngeren Generation finden sich viele, die niemals Kontakt zur anderen Seite hatten. Man ist sich fremd geworden. Zwar gibt es zumindest im Westjordanland, wo viele der dort ansässigen Organisationen Ableger im Gazastreifen haben, immer wieder vereinzelte Solidaritäts-Demonstrationen. Zudem versucht man, über die gemeinsame Arbeit den Kontakt zu halten. Da aber auch Mitarbeiter*innen solcher Organisationen darauf angewiesen sind, Einreisegenehmigungen von den israelischen Behörden zu erhalten, und diese immer restriktiver ausgestellt werden, ist schon die Aufrechterhaltung von Kontakten eine echte Herausforderung.

Da sich auf offizieller Ebene Hamas und Fatah, bzw. die PA, gegenseitig für die Spaltung verantwortlich machen, ist es für die Bevölkerungen in den beiden Entitäten nicht einfach gegen die Spaltung zu agieren. Demonstrationen und anderen Meinungsäußerungen wird verstärkt mit Repression und Gewalt begegnet. So ist z.B. im Juni dieses Jahres in Ramallah eine Demonstration für die Aussetzung der PA Sanktionen gegen den Gazastreifen - mit letztlich nur ca. 1.500 Teilnehmer*innen eine relativ kleine Veranstaltung - erst unter einem Vorwand verboten worden. Als die Menschen trotzdem auf die Straßen gingen, wurde sie unter Einsatz massiver Gewalt aufgelöst. Im Gazastreifen, wo Repressionen gegen die Zivilgesellschaft deutlich stärker ausfallen, würde eine solche Demonstration gar nicht erst stattfinden.

In letzter Zeit mehren sich die Stimmen, die nicht mehr davon ausgehen, dass das Westjordanland und der Gazastreifen zukünftig eine gemeinsame Entität bilden werden. Welche Pläne oder Szenarien gibt es und was bedeuten sie für den weiteren palästinensischen Staatsbildungsprozess?

Nach über 50 Jahren Besatzung scheint die internationale Solidarität mit Palästina erschöpft und auch die Unterstützung durch die arabischen Nachbarstaaten weicht zunehmend einer pragmatischen Interessenpolitik. Zudem regiert gegenwärtig in den USA ein Präsident, der den Nahostkonflikt offenbar um jeden Preis «gelöst» bekommen will und dabei die Position eines neutralen Vermittlers, die vorherige US-Regierungen für sich in Anspruch genommen haben, aufgegeben hat. In diesem Klima kommen alte Ideen, zum Teil mit einigen Abwandlungen, wieder auf den Tisch.

Die in der letzten Zeit am häufigsten in den Medien und in internen Gesprächen diskutierten Szenarien zeigen deutlich in Richtung einer endgültigen Trennung der beiden Gebiete. Im Gazastreifen könnte eine eigenständige Entität errichtet werden, evtl. mit einer Ausweitung in den Sinai in Form von Freihandelszonen oder ähnlichem. Auch vom Aufbau einer künstlichen Insel vor der Küste Gazas ist die Rede. Die Finanzierung dieser Projekte wird von den Golfstaaten erwartet.

Gleichzeitig nehmen im Westjordanland die Enteignungen sowie der Siedlungsbau in den C-Gebieten spürbar zu. Die palästinensischen C-Gebiete machen rund 60 Prozent des Westjordanlandes aus und stehen komplett unter israelischer Kontrolle. Mit Blick auf die A- und B-Gebiete, die zusammen rund 40 Prozent des Gebiets ausmachen und ganz bzw. teilweise von der PA verwaltet werden, wird die seit Jahren im Raum stehende Idee der Konföderation mit Jordanien wieder verstärkt ins Gespräch gebracht – ein Szenario, das in dieser Form von Palästinenser*innen und Jordanier*innen strikt abgelehnt wird.

Zudem wird diskutiert, die A- und B-Gebiete in einer Teilautonomie zu belassen, die von der internationalen Gemeinschaft finanziert werden müsste, während die C-Gebiete von Israel annektiert würden. Erwähnt werden muss in dem Zusammenhang, dass diese Szenarien im Rahmen des noch nicht veröffentlichten, aber immer wieder erwähnten sogenannten Jahrhundertplans der US-Regierung genannt werden – die Palästinenser*innen sind daran nicht beteiligt.

Die USA haben ihre Zahlungen an die UNRWA, das UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge, weitgehend eingestellt und die palästinensische Regierung in Ramallah hat ihrerseits Sanktionen gegen Gaza verhängt – beides mit katastrophalen Auswirkungen auf das Leben der Menschen im Küstenstreifen. Unterstützung für den Gazastreifen kommt dagegen aus Katar - das Golfemirat hat 90 Millionen US-Dollar zugesagt. Hilfszahlungen kommen nicht ohne politische Agenda, was also bedeutet diese Allianz und welche Rolle spielt der Küstenstreifen im regionalen Gefüge?

Laut Aussagen Katars sind die Hilfszahlungen allein in der humanitären Notlage im Gazastreifen begründet und dienen der Verbesserung der Lebensgrundlagen der Menschen. Allerdings wurden die jüngsten Hilfszahlungen an der palästinensischen Regierung in Ramallah vorbei an die Hamas gezahlt. Dieses Vorgehen rief in Fatah-Kreisen massiven Protest hervor und brachte Katar den Vorwurf ein, an einer weiteren Spaltung der palästinensischen Gebiete im Interesse des US-amerikanischen Jahrhundertplans und Israels zu arbeiten. Tatsache ist, dass die USA in Katar ihren größten Truppenstützpunkt in der Region haben und erst im vergangenen Jahr ein Abkommen zur gemeinsamen Terrorbekämpfung mit Katar unterzeichneten. Dies geschah kurz nachdem mehrere arabische Nachbarstaaten ihre Beziehungen zu Katar wegen seiner angeblich engen Beziehung zum Iran abgebrochen haben. Mit den jetzigen Hilfszahlungen an den Gazastreifen wird de-facto das mit Hilfe Ägyptens zu Stande gekommene Waffenstillstandsabkommen zwischen Hamas und Israel unterstützt. Sie können auch als eine Wiederannäherung zwischen Katar und Ägypten verstanden werden. Es stellt sich wieder einmal heraus, dass steigende diplomatische und militärische Bedürfnisse zu erstaunlicher Flexibilität in Bündnissen führen können.

Angesichts der zugespitzten Lage im Gazastreifen reicht es nicht, den Gazastreifen nur als entwicklungspolitische Herausforderung zu begreifen. Was müssten die großen Player wie die Europäische Union oder auch Deutschland, das sich im nächsten Jahr zum größten bilateralen Geber in den Palästinensischen Gebieten etablieren wird, tun, um eine weitere Eskalation der politischen, sozioökonomischen und humanitären Lage zu verhindern?

Der Nahostkonflikt ist ein politischer Konflikt, der auch nur politisch gelöst werden kann. Natürlich muss angesichts einer sich abzeichnenden humanitären Krise auch humanitäre Hilfe geleistet werden. Aber man sollte sich dabei bewusst sein, dass damit nur die Symptome des Konflikts behandelt werden. Der Konflikt wird dadurch nicht nur nicht gelöst, ganz im Gegenteil, der Zustand kann dadurch erst einmal zementiert werden. Wenn die großen Player ihrer Verantwortung gerecht werden wollen, haben sie auf die Einhaltung von internationalem Recht zu pochen und jenseits von verbaler Einforderung auch Maßnahmen zu ergreifen, dieses Recht durchzusetzen.