«Du brauchst einen Breather», also eine Möglichkeit, zwischendurch mal Luft zu holen und das Land zu verlassen, riet mir ein libanesischer Bekannter in Berlin, als vor zwei Jahren meine Ausreise nach Beirut bevorstand, wo ich die Leitung des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung übernehmen sollte.
An der Krisensituation im Libanon hat sich seitdem nichts geändert. Die Eliten stemmen sich mit aller Macht gegen politische Reformen, obwohl das Land wirtschaftlich am Boden liegt. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, und die Inflation liegt anhaltend hoch um 200 Prozent – das sind rund 17 Prozent pro Monat.
Kriegsgewinnlerin Hisbollah
Tanja Tabbara ist Juristin und Islamwissenschaftlerin und leitet seit Februar 2022 das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beirut.
Zu dieser dramatischen Krisensituation kam jetzt noch der Krieg in Gaza, der von einem militärischen Schlagabtausch zwischen Israel und der schiitischen Hisbollah an der Grenze beider Länder begleitet wird. Im Libanon trauert man um die (mutmaßlich vorsätzliche) Tötung dreier Journalist*innen, die starben, während sie über das Kriegsgeschehen in der Grenzregion berichteten.
Im Süden des Libanon ist die Zerstörung durch israelische Angriffe groß, etwa 80.000 Menschen mussten bislang Richtung Norden fliehen. Über 40.000 Olivenbäume sind durch die israelischen Phosphorbomben verbrannt, was der betroffenen ländlichen Bevölkerung ihre Lebensgrundlage entzogen hat. Eskalieren die Kampfhandlungen, wird das krisengeschüttelte Land weiter zerrüttet werden. Das weiß auch die Hisbollah, die daher darauf bedacht ist, jeden ihrer Schritte genau zu kalkulieren, um keinen Vorwand für eine Ausweitung der Kampfhandlungen zu liefern.
Seit die Hisbollah 2013 an der Seite Baschar al-Assads in den syrischen Bürgerkrieg zog, hat sie ihre Rolle als «reine» Widerstandskämpferin gegen die Besatzungsmacht Israel aufgegeben – und in der Folge den Rückhalt in weiten Teilen der Bevölkerung verloren. Bis dahin war sie auch von jenen, die ihr innenpolitisches Agieren ablehnten, als Schützerin der südlichen Grenze geduldet worden. Selbst ihre eigene Klientel – insbesondere die schiitische Jugend des Landes, die die letzten Kriege nicht selbst miterlebt hat – distanziert sich mittlerweile von der Hisbollah und sucht ihr Glück vorwiegend im Ausland. Die Hafenexplosion am 4. August 2020, deren Aufklärung die Hisbollah aktiv verhindert hat (was Spekulationen über ihre Beteiligung nährte), verstärkte die Ablehnung in der libanesischen Bevölkerung. Die Wahlen im Mai 2022 zeigten, dass die Hisbollah die Mehrheit verloren hat.
Der Krieg in Gaza bietet ihr jetzt die große Chance, sich als Widerstandsgruppe zu rehabilitieren und Ansehen zurückzugewinnen. Die drei Flügel der Organisation, der militärische, politische und soziale, sind dabei gleichermaßen engagiert. Aktuell nutzt die Hisbollah die Gunst der Stunde und betreibt Wahlkampf im Süden des Landes.
Der libanesische Staat lebt von einem Patronage-System, bei dem sich politische Führer der konfessionellen Gemeinschaften dort engagieren, wo der Staat eine große Lücke lässt: nämlich beim sozialen Sicherungssystem. Denn nach der Dauerkrise infolge jahrzehntelanger Misswirtschaft und Korruption brach das Wirtschafts- und Finanzsystem des Landes Ende 2019 nahezu vollständig zusammen. Viele Menschen haben all ihr Erspartes verloren.
Das Versprechen der Hisbollah ist simpel: soziale Dienstleistungen gegen Wahlstimmen. Die Organisation verfügt über ein breites Netz an Krankenhäusern und Schulen; Mitglieder erhalten eine Karte, mit der sie ausgesprochen günstig iranische Lebensmittel und Medikamente in den Supermärkten der Hisbollah erstehen können. Die Wahlstimme gegen eine solide Grundversorgung «einzutauschen», ist im Libanon ein überaus verlockendes Angebot, auch für christliche und drusische Familien. Denn selbst die Hilfspakete internationaler Geberorganisationen erreichen die gebeutelten Familien im Süden nur über Kanäle der Hisbollah, die sich die Freiheit nimmt, die Hilfen sehr selektiv und vorwiegend an die eigene Anhängerschaft zu verteilen, beschreibt eine Bekannte aus dem Südlibanon die Lage.
Wo steht die libanesische Linke?
Die libanesische Linke blickt entsetzt auf das Kriegsgeschehen und die Unterstützung Israels durch die meisten westlichen Staaten. Nach über 28.000 Toten ist die Wut im Land groß. Unsere Stiftungsarbeit vor Ort ist schwierig geworden, deutsche Positionen zum Krieg sind schlicht nicht vermittelbar. Die kritische Zivilgesellschaft im Libanon hat einen starken moralischen Kompass bezüglich der Gewalt in Gaza. Aus ihrer Sicht haben deutsche Akteure diesen Kompass verloren; wie sonst ließe sich das Schweigen angesichts der massiven Gewalt deuten?
Aus Deutschland kommen kaum klare Worte gegen den Krieg, dabei hätte das Land eine konstruktive, vermittelnde Rolle spielen können. Stattdessen zeigt es sich in der Wahrnehmung der Libanes*innen arrogant, selbstgerecht und kalt. Auch die einseitige Empathie in der deutschen Berichterstattung über den Krieg spielt hier eine Rolle: Anstatt zu informieren, werden die Kriegsbilder auf Abstand gehalten, vieles wirkt eigenartig manipulativ oder ist von einem geradezu missionarischen Tonfall geprägt. In unserem Büro in Beirut erreichen uns wütende Kommentare, die die deutschen Doppelstandards bei der Verteidigung der Menschenrechte anklagen.
Angst und Anspannung sind überall im Libanon zu spüren – insbesondere bei jenen, die den Krieg 2006 oder gar die israelischen Invasionen 1978 und 1982 erlebt haben. Das Tausendfache Töten in Gaza wird im Libanon bis ins Detail live im Fernsehen übertragen. Warum gebietet niemand Einhalt, fragen sich die Menschen? Die Menschlichkeit scheint unter Trümmern begraben. Man fragt sich hier: Was passiert, wenn die israelische Armee den Libanon angreift? Werden dann auch alle schweigen, wird niemand zu Hilfe kommen? Es nimmt daher nicht wunder, dass es – wie bereits im Krieg 2006 – linke Positionen gibt, die, wie meine Gesprächspartnerin, sagen: «In Friedenszeiten ist Hisbollah ein Feind wie jede andere rechte Gruppierung, aber im Krieg müssen wir sie unterstützen, wenn auch kritisch, denn sie schützt die libanesische Grenze.» Andere linke Stimmen betonen, dass der Krieg den Diskurs radikalisiere und kritische Stimmen immer weniger gehört würden.
Und in der Tat: Organisationen wie die Hisbollah werden vor dem Hintergrund des Gaza-Kriegs gestärkt, während linke Akteure und politische Alternativen, die noch vor einigen Jahren durchaus greifbar schienen, aus dem Sichtfeld verschwinden. Die Haltung des Westens ist Wasser auf die Mühlen islamistischer Prediger, denen westliche Institutionen im Land ohnehin ein Dorn im Auge sind.
Derzeit ist es etwas ruhiger geworden um jene, die zu Sündenböcken des libanesischen Politikversagens erklärt werden, nämlich die Marginalisierten der Gesellschaft, die syrischen Geflüchteten und die queeren Gruppen. Sie werden von Vielen für sämtliche Krisen verantwortlich gemacht und sahen sich bereits vor dem Krieg Hassreden von Politiker*innen und tätlichen Angriffen rechter Gruppen ausgesetzt.
Die Aufmerksamkeit fokussiert sich derzeit auf den Krieg, aber für meine Gesprächspartnerin scheint klar, dass rechte Kräfte, gestärkt durch den Krieg, nach dessen Beendigung ihre Aggression wieder auf die kritische Zivilgesellschaft und die marginalisierten Gruppen richten werden. Aufgelöst haben sich die rechten Gruppen jedenfalls nicht. «Die Soldaten Gottes» etwa, eine rechte christliche Gruppierung, drängt linke Protestierende weiterhin aus den Vierteln, in denen queere Gemeinschaften über die letzten Jahrzehnte ein Zuhause gefunden haben.
Deutschland macht Angst
Diese Entwicklung führt zu großer Verunsicherung, aber «die Einschüchterung der arabischen migrantischen Gemeinschaften in Deutschland macht mir aktuell mehr Angst», sagte mir die Vertreterin einer libanesischen Partnerorganisation der Rosa-Luxemburg-Stiftung kürzlich im Gespräch.
Vor dem Krieg galt Berlin als die arabische Kulturhauptstadt, und viele Eingewanderte empfanden sich in Deutschland als Teil einer diversen Gemeinschaft. Inzwischen hat sich die Wahrnehmung jedoch massiv verändert. Das liegt auch an der Einschränkung des Diskursraums: Denn andere Meinungen als jene, die der «deutschen Staatsräson» (bzw. deren enger Auslegung) entsprechen, werden in der Öffentlichkeit zunehmend marginalisiert. Mit Kindern in der Schule wird nicht konstruktiv gearbeitet, stattdessen reagieren wir mit Verboten: Unser deutscher Zeigefinger schnellt in die Höhe und verbietet das Tragen eines Palästinatuches. Viele Libanes*innen registrieren, dass die Ausgrenzung «der Anderen» wieder Konjunktur hat in Deutschland, und dass ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit infrage gestellt wird. Kunstschaffende und Wissenschaftler*innen aus Westasien oder Nordafrika leiden unter dem Rechtsruck im Schafspelz.
Das Gefühl, ausgeschlossen zu werden, schmerzt besonders diejenigen, die sich über Jahre mit kreativen Mitteln um eine diverse, integrative Gesellschaft bemüht haben. Neue Antidiskriminierungs- und Bekenntnisklauseln, die mitunter eher Diskriminierungsklauseln ähneln, schließen viele Menschen aus, die eine andere Meinung zum Krieg oder zum israelischen Staat vertreten. Für viele meiner Gesprächspartner*innen fühlt sich das wie ein Kulturkampf an. Damit wird letztlich das bestätigt, was wir angeblich verhindern wollen. Künstler*innen haben deshalb zum Boykott deutscher staatlich geförderter Institutionen aufgerufen und protestieren damit gegen die deutsche Haltung im Gaza-Krieg sowie gegen strukturellen Rassismus und die Einschränkung ihrer künstlerischen Freiheit in Deutschland. Mit dabei ist auch der libanesische Leadsänger der beliebten, aber mittlerweile aufgelösten Band Mashrou’ Leila.
Wegen des Kriegs reise ich viel zwischen Deutschland und dem Libanon hin und her. Die Situation im Libanon ist unklar und angespannt, man weiß nicht, ob es noch zu einem regionalen Krieg kommt. Trotzdem, so eng und bedrückend und wie von allen guten Geistern verlassen fühlt sich Deutschland an, dass ich immer wieder froh bin, in den Libanon reisen zu können.
Aktuell gehen Hunderttausende Menschen in deutschen Städten auf die Straße, um gegen rechts zu demonstrieren. Das gibt Anlass zu Hoffnung. Vielleicht ist es in Deutschland politisch unverfänglicher, gegen rechts zu demonstrieren, als für palästinensische Leben; aber vielleicht kommt darin auch ein Unwohlsein mit der politischen Lage in Deutschland zum Ausdruck, das sich auch auf die Haltung Deutschlands zum Krieg und den Umgang mit den arabischen Gemeinschaften im Land beziehen lässt.