Nachricht | Afrika - Nordafrika Edward Saids Orientalismus – 40 Jahre später

Bericht zum Symposium organisiert von der Wissenschaftskooperation in Tunis

Information

Autorin

Jamie Woitynek,

CC BY-ND 1.0, Foto: Gray Pictures

«I would like to believe that Orientalism has had a place in the long and often interrupted road to human freedom.» (Edward W. Said, Mai 2003)

Vom 10.-12. Dezember 2018 organisierte das Programm der Wissenschaftskooperation der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis in Zusammenarbeit mit dem philosophischen Laboratorium der Universität Tunis und der Universität Tunis El Manar ein dreitägiges Symposium zu Edward Saids Ansatz des Orientalismus und der heutigen Bedeutung und Rezeption. Begleitet von einem interessierten, sehr diversen und interdisziplinären Publikum sowie Übersetzer*innen, die die drei Sprachen (Arabisch, Französisch, Englisch) für uns miteinander verbanden, hörten wir verschiedene Vorträge und Diskussionen, die sich direkt oder indirekt auf Saids Orientalismus-Ansatz bezogen.

Edward Said (1935-2003) war ein Literaturtheoretiker und -kritiker palästinensischer Herkunft, dessen wohl berühmtestes Werk «Orientalism» (1978) zu den bedeutendsten Sachbüchern der Weltliteratur zählt. Said studierte an den Universitäten Princeton und Harvard und lehrte anschließend an der Columbia University New York vergleichende Literaturwissenschaft.

In seinem Ansatz des Orientalismus analysierte Said in Anlehnung an die von Foucault geprägte Diskursanalyse (1970) die Verschränkungen von Wissen und Macht in Wissenschaft, Gesellschaft, Politik und schlussendlich im Individuum in Hinblick auf Diskurse zum so genannten «Orient». Saids kritische Analyse untersuchte einen Textkorpus französischer und britischer Wissenschaftler*innen aus dem Feld der Orientalistik zum «Orient», «der arabischen Kultur» und der «Mentalität des Arabers». Orientalismus ist dabei als eine Art des Denkens und als ein dominantes Wissenssystem («westlicher») Wissenschaft zu verstehen. Dieses orientalistische Denken und das dadurch entstehende orientalistische Wissenssystem sind durch rassistische und dogmatische Stereotypisierungs- und Otheringprozesse in Hinblick auf den so genannten «Orient» konstituiert. Diese Prozesse produzieren koloniale, unterdrückende und imperialistische Dynamiken, Strukturen und Institutionalisierungen des «Westens» über den «Orient» und sind gleichzeitig selbst Produkt Letzterer. Dabei ist bereits die dichotome und simplifizierte Aufspaltung in «Orient» und «Westen» zu kritisieren. Nicht ohne Grund ist Saids «Orientalism» eine Art Gründungsdokument für die Entstehung postkolonialer Studien gewesen und wird noch heute als Basislektüre in postkolonialer Lehre, Forschung und Kritik angeraten.

Vierzig Jahre nach Veröffentlichung von Saids bedeutsamem Werk, wurde  während des Symposiums zu Saids Orientalismus in Tunis sehr deutlich, dass Orientalismus noch immer wirkt, sich wandelt und andere Gestalten annimmt. Kulturelle, akademische und sprachliche Deutungshoheiten, die u.a. auf rassistischen Annahmen der (geistigen) Vorherrschaft des «Westens» beruhen, sind weiterhin wirkmächtig und gipfeln in Machtdynamiken, die Marginalisierungen und Eurozentrismus weiter befördern. Das Symposium war ein kritischer, akademischer und transkultureller Dialog, der eindeutig die Bedeutung des Orientalismus-Ansatzes in den Mittelpunkt stellte. Hier konnte verhandelt werden, wie wir als Akademiker*innen und Nicht-Akademiker*innen unterschiedlicher Hintergründe und unterschiedlicher gesellschaftlicher und persönlicher Privilegien mit den Ergebnissen und Strukturen multipler orientalistischer Diskurse und Realitäten und mit dem Wissen um Saids Arbeiten zu Orientalismus und «Culture & Imperialism» (1993) umgehen. Das Symposium warf so auch ein Licht auf die persönlichen, intellektuellen und akademischen Verantwortungen, Aktivismen und Achtsamkeiten, denen wir uns verpflichten (müssen), um soziale Gerechtigkeit global voranzubringen, indem wir orientalistische und rassistische Diskurse aufdecken, ihnen widersprechen und uns um eine globale, kritische Perspektive bemühen.

Insgesamt war das Symposium durch sieben Panels und zwei Plenarsitzungen mit längeren Einzelvorträgen strukturiert, wobei die einzelnen Panels thematisch sehr divers und breit gefächert waren. Mit dem Fokus auf Said, der für einen säkularen Humanismus kämpfte, fanden wir ebendiesen Humanismus, dessen Komplexitäten und seinen Zusammenhang mit Demokratisierung in vielen akademischen Beiträgen der Konferenz wieder. Dabei waren zwei der sieben Panels Doktorand*innenpanels, in denen die jungen Forscher*innen sowohl ideengeschichtliche, literaturwissenschaftliche, diskursanalytische, bildungswissenschaftliche Perspektiven sowie ihre aktuellen Forschungsprojekte ins Symposium einbrachten.

Die Vorträge der Teilnehmenden bezogen sich außerdem auf Globalisierung, kapitalistisch-neoliberale Strukturen,  gender- und queertheoretische Kritik an Saids Werk und Perspektive, Okzidentalismus, Intraorientalismus und die Frage nach Postorientalismus. Dabei wurde im Symposium stets die dichotome Aufspaltung in «Westen» und «Orient» kritisiert und an ein «darüber hinaus Denken» appelliert. Auch wurden literaturwissenschaftliche Fragen um Late Style in Said und das Konzept um Counterpoint und Koexistenz aufgeworfen. Es spielten unter anderem die Arbeiten von Gayatri C. Spivak, Michel Foucault, Antonio Gramsci, Karl Marx, Theodor W. Adorno und Frantz Fanon bedeutsame Rollen für die Einzelvorträge und auch die Diskussionen.  

Des Weiteren hörten wir Vorträge zu islamischer Geschichte, der Kritik an diversen  geschichtswissenschaftlichen Zugängen sowie der Option einer islamischen Philosophie und Spiritualität in Gleichzeitigkeit zur Forschung zu westlicher Philosophie. Zudem wurde während des Orientalismus-Symposiums über Konzepte und Möglichkeiten wie kulturelle Hybridität, Sprache, Identitäten und Multiversalismus referiert, in deren Zuge es ebenfalls um Exil, Entfremdung, Ideologiekritik, Religion und Ambiguitäten ging. Auch die Rolle Intellektueller und Selbstreflexionen waren sehr bedeutsam für den Austausch im Symposium. Neue, alte und reproduzierte Formen und Narrative von Orientalismus in Kunst, Literatur, Internet und Wissenschaft wurden analysiert und diskutiert. Auch der Komplex Geschichte und Repräsentation und damit ein (Neu-)Schreiben von Geschichte waren von Interesse.

Das Symposium «Edward Saids Orientalismus – 40 Jahre später» stach durch die multilinguale und interdisziplinäre Ausgestaltung, die äußerst interessanten, vielfältigen und kritischen Diskussionen, die große Zahl der Teilnehmer*innen und das hohe akademische und intellektuelle Niveau heraus und bekräftigte so ausdrücklich die sinnvolle, kritische und produktive Arbeit unserer Kooperationen mit öffentlichen tunesischen Universitäten und Instituten.