«Vor hundert Jahren wurde Rosa Luxemburg ermordet und ihr Körper in den Berliner Landwehrkanal geworfen. In Argentinien erinnern wir uns jedes Jahr am 24. März an die 30.000 Verschwundenen der letzten Militärdiktatur, deren Körper im Río de la Plata versenkt wurden. Hier wird deutlich: Diese Geschichten haben etwas miteinander zu tun.» Claudia Korol, Journalistin und in der politischen Bildungsarbeit aktiv, führt in eine lateinamerikanische Lektüre der Briefe Rosa Luxemburgs ein.
Nicht nur die Körper, vor allem die Geschichten des Widerstands sollten verschwinden. Doch an diesem frühherbstlichen Samstag sitzt Korol im 11. Stock des renommierten Cervantes-Nationaltheaters von Buenos Aires. Dort wurde als Auftakt der Spielsaison 2019 zur Asamblea de mujeres, also zur «Frauenversammlung», eingeladen. 2018 begann das Theaterjahr hier mit Karl Marx, dieses Mal soll den «vielfältigen, andauernden Kämpfen von Frauen und Feminismen» Raum und Bühne gegeben werden.
Der Titel der Veranstaltung ist auf ein Stück des griechischen Dichters Aristophanes zurückzuführen. Er zeichnete in seiner «Weibervolksversammlung» ein Bild davon, wie die Geschichte hätte verlaufen können, wenn Frauen in die Politik der Polis eingegriffen hätten.
Was der alte Grieche vor 2500 Jahren als Komödie aufschrieb, wurde Ende März in Buenos Aires ziemlich real: Mehr als 4000 Menschen füllten über elf Stunden lang die Säle und Galerien des Nationaltheaters, um an Panels, Workshops, Filmvorführungen, künstlerischen Interventionen oder der feministischen Buchmesse Pre-FilFem 2019 teilzunehmen, alles gratis. Der öffentliche, partizipative und kollektive Charakter der Asamblea solle beibehalten werden, hieß es in der Einladung zur Veranstaltung, die zusammen mit dem Goethe-Institut, der Alliance Française und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert wurde.
Auf den Podien: Theorieproduzierende Köpfe des argentinischen Feminismus wie Rita Segato oder Marlene Wayar sowie Stars der progressiven Kunst- und Kulturszene wie Susy Shock. Auch Feministinnen aus Deutschland und Frankreich wurden zum Austausch eingeladen. Sonja Eismann, Mitbegründerin des Missy Magazins, referierte über den männlichen Blick in Kunst und Werbung. Cis-Männer mussten sich diesmal mit Plätzen im Publikum begnügen. Doch auch dort befanden sich hauptsächlich Frauen, Lesben, Trans und Travestis, Queers und Nonbinaries unterschiedlichster Altersgruppen.
Das RLS-Büro Buenos Aires trug zwei Panels zum Programm-Marathon bei, etwa die bereits erwähnte kommentierte Lektüre ausgewählter Briefe von Rosa Luxemburg. Claudia Korol und Liliana Daunes präsentieren dabei eine poetische, fühlende, liebende Rosa Luxemburg, die nicht nur materielle Verhältnisse und Produktionsbedingungen, sondern genauso persönliche Beziehungen verändern wollte. Während ihrer langen Gefängnisaufenthalte schöpfte sie vor allem Kraft aus ihren Freundschaften mit Frauen.
Damit lebte Luxemburg bereits vor über hundert Jahren, was sich in den 68ern in der Parole «Das Private ist politisch» manifestierte. Für Korol und Daunes ist ganz klar: Rosa Luxemburg war nicht nur Sozialistin, sie war auch Feministin. «Ich war, ich bin, ich werde sein», so schloss sie ihren letzten Artikel, kurz bevor sie ermordet wurde. In der Kontinuität feministischen Denkens und Handelns auf der ganzen Welt lebe Rosa Luxemburg weiter, so Korol.
Mit dem zweiten Panel unter dem Titel «Plurinationale, populare, kommunitäre Feminismen ohne Grenzen: Revolutionäre Körper und Territorien» brach die RLS mit dem gängigen Veranstaltungsformat. Auf der Bühne sitzen nicht wie sonst üblich zwei bis vier Expert*innen, sondern insgesamt 14 Vertreter*innen unterschiedlicher Kollektive aus dem ganzen Territorium Abya Yalas, des indigenen Amerika. Sie tragen Fotos und Banner mit sich, in Erinnerung an ermordete compañeras, wie die indigene Menschenrechts- und Umweltaktivistin Berta Cáceres in Honduras und die schwarze Stadträtin Marielle Franco in Brasilien.
«Freiheit für alle politischen Gefangenen in Nicaragua», heißt es auf dem Plakat einer nicaraguanischen Aktivistin, die ihren Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennt. Dafür berichtet sie über die aktuelle Situation in dem zentralamerikanischen Land: «Seit einem Jahr finden Großdemonstrationen statt, organisiert von Studierenden, Bäuer*innen und Frauen, die Freiheit und Gerechtigkeit einfordern. Die Regierung reagiert mit Repressionen. Bis jetzt zählen wir mehr als 500 Tote, Tausende Verletzte, 800 unrechtmäßige politische Gefangene.»
Ziel dieses diversen Podiums ist es, die Verschränkung und Gemeinsamkeit der vorhandenen Konflikte und Kämpfe aufzuzeigen. Die Mapuche-Aktivistin Isabel Huala berichtet: «Meine beiden Großeltern wurden ermordet. Und trotzdem sind wir es, meine Familie und meine Community, die behandelt werden, als seien wir Terrorist*innen.» Für Dani Santana vom Colectivo Passarinho aus Buenos Aires steht fest: «All diese Morde, sowie die an Marielle Franco, Berta Cáceres und Santiago Maldonado in Argentinien haben einen Zusammenhang. Diese Menschen haben Regierungen angegriffen, denen die Verletzlichsten der Gesellschaft, schlichtweg egal sind. In Brasilien sterben vor allem junge schwarze Menschen. Das muss aufhören.»
Vicki Stéfano ist Travesti-Aktivistin und Genderreferentin der Zeitschrift «Garganta Poderosa». Seit fast zehn Jahren bildet das Medium die Lebensrealtäten der villas ab, der Armenviertel, eingefangen und verschriftlicht von den Bewohner*innen selbst. Mittlerweile gibt es Ableger in allen Provinzen Argentiniens sowie in Uruguay, Brasilien und Cuba. Stéfano berichtet von den Netzwerken der Solidarität und feministischen Mobilisierungen, die in den villas entstehen. «Wir finden die Lösungen für unsere Situation und Probleme selbst. Wir halten die Suppenküchen des Viertels am Laufen und schaffen Orte des politischen Aktivismus. Und auch wenn sie versuchen uns auszurotten: Wir sind wie Samen. Wenn sie uns vergraben, erwachsen wir von Neuem.»
In einem kollektiv verfassten Dokument heißt es: «In unseren Feminismen gibt es keine Vorsprecher*innen. Es geht darum, Privilegien zu hinterfragen, aufrichtig und ausnahmslos. Nur so sind gemeinsame antikoloniale und antirassistische Kämpfe möglich.»
Wie intersektionale feministische Ansätze in Erziehung und Pädagogik einfließen können, darum geht es der Travesti-Aktivistin und Sozialpsychologin Marlene Wayar. Derzeit wird in Argentinien heftig um die Umsetzung des bereits 2006 verabschiedeten Gesetzes der Educación sexual integral gekämpft. Idee des Gesetzes war und ist, Kindern und Jugendlichen die Infos und Möglichkeit zu geben, sich in Sexualität und Genderidentität frei zu entfalten, selbst über ihre Körper zu bestimmen und dabei Unterstützung und Rat bei ausgebildeten Lehrer*innen zu finden. Eine ziemlich gute Sache, an der Umsetzung in den Provinzen hapert es jedoch. Im Zusammenhang mit dem Recht auf Selbstbestimmung der geschlechtlichen Identität kritisiert Wayar den Namen der Veranstaltung, der sich nur auf Cis-Frauen bezieht und damit viele Menschen nicht miteinschließt.
Obwohl es noch einiges zu tun gibt: In der Asamblea wird auch bereits Erreichtes gefeiert. Mit Jubel und einem Geburtstagsständchen begrüßt die Menge Nora Cortiñas, eine der Madres de la Plaza de Mayo der ersten Stunde. Am Vortag hatte sie ihren 89. Geburtstag gefeiert. Cortiñas, auch liebevoll Norita genannt, ist eine lebende Ikone. Noch immer läuft sie bei Demonstrationen in der ersten Reihe mit und reist zu Brennpunkten in aller Welt. Nicht selten findet sie sich in Form von Stickern auf den Thermoskannen des matetrinkenden Demonstrierenden wieder.
Seit 1977 fordert sie die Aufklärung der Verbrechen der Diktatur ein. «Damals, vor 42 Jahren, traten wir Frauen erstmals aus der Unsichtbarkeit heraus und machten unsere politischen Forderungen stark. Niemand konnte uns leiden, weder der Staat, noch die Kirche, noch die Gesellschaft. Heute freut es mich unglaublich, dass die feministischen Bewegungen in Argentinien skandieren, dass ihre Kämpfe auf unseren Kämpfen aufbauen. Ich bin stolz auf die Errungenschaften von Ni una menos in den letzten Jahren.»
Im letzten Panel blickt die Anthropologin Rita Segato hoffnungsvoll in die Zukunft: «Wir sind vernetzt, zusammen und merken, es bewegt sich was. Wenn wir dieses heranwachsende Etwas zu schützen wissen, dann erleben wir eine neue historische Ära.» Ein Satz wird im Laufe des Tages immer wieder aufgegriffen, macht die Runde in den Reihen der Auditorien, zwischen den Stehtischen der Buchmesse und begleitet die Teilnehmer*innen auf ihrem Weg nach Hause: «Das Patriarchat, es wird fallen!»