Dr. Mustafa Barghouti, Generalsekretär der Palästinensischen Nationalen Initiative (Al Mubadara), kritisiert die derzeitige palästinensiche Regierung und will einen Prozess der nationalen Einheit einleiten. Seiner Meinung nach darf die Autonomiebehörde nicht den Vorgaben Israels gehorsam folgen.
Die Fragen an den Arzt und Aktivisten stellte Katja Hermann, Leiterin des Westasien-Referates der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Benjamin Netanjahu hat erneut die Wahlen in Israel gewonnen. Es wird davon ausgegangen, dass er eine Koalition mit rechten Parteien bilden wird. Was bedeuten diese Wahlen für die zukünftigen Entwicklungen in den palästinensischen Gebieten?
Barghouti: Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung. Es bedeutet, dass sich die israelische Bevölkerung für extrem rechte Parteien entschieden hat, die ein System von Rassismus und nationaler Diskriminierung vertreten. Sie hat sich für dieselben Parteien entschieden, die [in 2018, Anm. K.H.] das Nationalitätengesetz durchgebracht haben, was die systematische Diskriminierung von Palästinenser*innen bedeutet, ob nun Bürger*innen Israels oder der besetzten Gebiete. Leider muss ich feststellen, dass dies eine Wahl für ein Apartheidsystem war. Wenn man bedenkt, dass Netanjahu drei Tage vor seiner Wiederwahl erklärt hat, er plane, die Siedlungen zu annektieren, was praktisch die Annexion der Westbank bedeutet, dann bedeutet diese Wahl, den Traum der Zwei-Staaten-Lösung zu beenden.
Wenn die Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr machbar erscheint, welche alternativen Szenarien sehen Sie dann noch?
Es gibt nur zwei Alternativen: die eine ist die, die die israelische Regierung anstrebt, nämlich Apartheid, ein System von Rassendiskriminierung, das die Palästinenser*innen in Ghettos und Bantustans[1] hält, in der Hoffnung, dass sie schließlich das Land verlassen. Unsere Alternative sieht folgendermaßen aus: wenn sie die Zwei-Staaten-Lösung absichtlich zerstört haben, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als für eine Ein-Staaten-Lösung mit allen demokratischen Rechten zu kämpfen. Wir müssen alle Palästinenser*innen in unseren Bemühungen, die Apartheid und die Rassendiskriminierung zu beenden, vereinen, und außerdem versuchen, Leute aus Israel, die an Gerechtigkeit glauben, für dieses Ziel zu gewinnen.
Glauben Sie, dass beide Gesellschaften, die palästinensische und die israelische, für die Ein-Staaten-Lösung bereit sind?
Im Moment ist natürlich die palästinensische Gesellschaft dafür viel eher bereit, während die israelische Gesellschaft für gar keine Lösung bereit zu sein scheint. Ich glaube, und zitiere meinen Freund [den Pianisten und Dirigenten, Anm. K.H.] Daniel Barenboim, dass «manchmal das Unmögliche leichter ist als das Schwierige». Die Wahl, vor der wir stehen, ist eindeutig, es geht nicht darum, dass wir uns von der Zwei-Staaten-Lösung entfernen und die Ein-Staaten-Lösung anstreben. Es geht darum, dass Israel die Zwei-Staaten-Lösung gerade zerstört hat und man da nicht weiter von einer toten Option träumen kann, sondern eine Alternative finden muss – aus der Notwendigkeit heraus, aufgrund der objektiven Wirklichkeit.
In Palästina ist derzeit viel vom Beginn einer neuen Ära die Rede und davon, dass ein neues Kapitel beginnen wird. Wie sehen Sie das?
Ich würde sagen, dass wir uns am Ende der Oslo-Ära befinden, was bedeutet, dass wir zur Vor-Oslo-Zeit zurückgehen müssen. Dies war eine Zeit des gewaltfreien palästinensischen Widerstandes, der drei Prinzipien folgte, an die ich immer geglaubt und die ich praktiziert habe: Selbstorganisation, Eigenständigkeit und der Kampf gegen Ungerechtigkeit, sei es die Ungerechtigkeit der Besatzung oder die Ungerechtigkeit des Apartheid-Systems. Auf die Hilfe anderer zu warten, wird nicht klappen. Wir müssen uns auf uns selbst verlassen, unsere Strukturen wieder aufbauen, uns organisieren und eine vereinigte nationale Struktur aufbauen. Das sollte eine demokratische nationale Struktur sein, da zu den größten Herausforderungen in Palästina derzeit das Fehlen von Demokratie, das Verschwinden von demokratischen Strukturen, die wir über Jahre hinweg aufgebaut haben, und das Schrumpfen von Räumen für die Zivilgesellschaft gehören. Ich glaube deshalb, dass es Zeit ist, über demokratische Teilhabe und über den Aufbau einer vereinigten nationalen Front nachzudenken. Die PLO sollte diese Struktur sein, wenn sie sich entscheidet, sich von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) [der Regierung in Ramallah, Anm. K.H.] zu lösen und wieder ihre Rolle als Führung der palästinensischen Nationalbewegung anzunehmen.
Wo sehen Sie dabei den Gazastreifen?
Der Gazastreifen ist ein Teil Palästinas. Israel versucht, Gaza von Palästina zu trennen, weil das ein Teil des sogenannten [US-amerikanischen, Anm. K.H.] «Jahrhundert-Deals» ist. Man trennt Gaza heraus und riegelt das Gebiet ab, das ist der israelische Plan. Es ist dort wie in einem offenen Gefängnis, wobei, noch nicht einmal offen, nur zum Himmel hin ist Gaza offen, alles andere ist abgesperrt. Es gibt keinen palästinensischen Staat ohne Gaza und wir werden auch nicht nur in Gaza einen Staat haben – das ist Unsinn. Der Gazastreifen ist ein sehr kleines Gebiet, es umfasst weniger als 1,5 Prozent der Fläche Palästinas und hat zwei Millionen Einwohner*innen. Es ist das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt. Gaza und die Westbank sollten eine Einheit bilden.
In Kürze wird in Ramallah eine neue palästinensische Regierung ernannt. Welche Herausforderungen hat diese vor allem zu bewältigen?
Es gibt viele Herausforderungen, aber die wichtigste ist, die Palästinenser*innen wieder zu vereinigen. Die Palestinian National Initiative (Mubadara) hat es abgelehnt, sich an der neuen Regierung zu beteiligen, obwohl ihr dies angeboten worden ist. Ein Hauptgrund dafür war, dass wir befürchten, dass diese Regierung die interne Spaltung noch vertiefen und zu einer vollständigen Trennung bringen wird. Außerdem wollten wir nicht Teil einer Regierung sein, die nicht von der Bevölkerung gewählt worden ist, insbesondere nach der Auflösung des palästinensischen Legislativrates (PLC). Das letzte Mal wurde in 2006 gewählt, wir sollten bald neue Wahlen abhalten, sehr bald. Wir haben deshalb vorgeschlagen, nicht diese Regierung zu ernennen, sondern eine Übergangsregierung der nationalen Einheit für sechs Monate einzusetzen und in dieser Zeit die Wahlen vorzubereiten, dann die Wahlen durchzuführen und anschließend eine Regierung zu bilden. Ich glaube, dass die interne Spaltung ein großes Problem darstellt, aber dass diese israelische Regierung, und die Art wie Israel die Rückzahlung unserer Steuern behindert und der PA ihre Richtlinien und Arrangements vorgibt, das allergrößte Problem darstellt. Die PA steht vor der großen Herausforderung, entweder vollkommen gehorsam zu sein und sich dem Druck Israels auszusetzen oder dagegen anzugehen. Ich glaube, sie sollte dagegen angehen.
Glauben Sie, dass es angesichts dieser Entwicklungen und Herausforderungen einen neuen Volksaufstand geben wird?
Ja, das glaube ich und ich möchte, dass er gewaltfrei sein wird. Ich setze mich dafür ein, dass er gewaltfrei sein wird. Wir haben in den letzten 15 Jahren nicht nur Modelle des erfolgreichen gewaltfreien Widerstandes gezeigt, sondern auch andere Parteien, einschließlich Hamas, von der Wirksamkeit des gewaltfreien Ansatzes überzeugen können.
[1] Bantustans – während der Apartheid etablierte Gebiete für schwarze Einwohner*innen Südafrikas, denen eine nur anscheinende Autonomie zugesprochen wurde, und die vor allem dazu dienen sollten, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe aus dem politischen System und der Gesellschaft auszuschließen