Narendra Modi und seine Hindunationalisten gewinnen erneut die Parlamentswahlen in Indien. Damit sichert sich der amtierende Premierminister eine zweite Amtszeit. Die linken Kräfte verlieren weiter an Bedeutung.
Ein Sieg von Veena George schien möglich. Aber die Fernsehjournalistin und Kandidatin der Kommunistischen Partei Indiens/Marxistisch (CPI/M) konnte sich in ihrem Wahlkreis Pathanamthitta im südindischen Kerala am Ende nicht durchsetzen. Noch vor drei Jahren war sie dort mit großen Vorsprung ins Landesparlament gewählt worden. Jetzt verlor sie gegen ihren Konkurrenten von der Kongresspartei. Beide hatten sie gegen die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) von Premierminister Narendra Modi gekämpft, die in Kerala keine Sitze gewinnen konnte. Modis Strategie des Trennens und Polarisierens verfing im Süden Indiens nicht.
Doch das ist eine Ausnahme. Insgesamt ging die BJP erneut mit absoluter Mehrheit und gestärkt aus den Parlamentswahlen hervor. Mehr als 600 Millionen Menschen hatten in der sechswöchigen Abstimmung ihre Stimmen für ein neues Unterhaus abgegeben. Die Wahlbeteiligung lag mit 67 Prozent höher als bei den Parlamentswahlen vor fünf Jahren.
Schon in der Nacht vor der offiziellen Auszählung der Wahlergebnisse am 23. Mai tauchten die ersten Plakate auf, die Modi als Sieger zeigten – winkend und mit Rosenblüten bedeckt. Die Botschaft: «BJP – Die Nummer 1. Noch einmal eine Modi-Regierung». Wenig später war es dann offiziell: Modi und die BJP hatten sich eine zweite Amtszeit gesichert. Insgesamt 352 von 542 Unterhausmandaten konnten die BJP und die mit ihr verbündeten Parteien erringen. Die Kongresspartei und alle anderen folgen abgeschlagen auf den Plätzen. Die linken Parteien errangen dabei nur noch fünf Sitze. 2014 waren es zehn, 2004 noch 56 – heute kaum mehr vorstellbar.
Die Marke Modi hat gezogen: «Wer gegen mich ist, ist gegen Indien!» Fast überall auf dem Subkontinent konnte die BJP gewinnen. Der Lotus, das Parteisymbol, blühte auch im Osten, wo jahrzehntelang linke Kräfte stark waren. Der Mann aus Gujarat hat einen Kult um sich etabliert. Und er bestimmt die Spielregeln. Er entscheidet, ob und wie er mit der Presse spricht, ob er ins Parlament geht oder nicht. Viele Beobachter*innen gehen davon aus, dass der Druck auf Medien und Zivilgesellschaft weiter zunehmen könnte.
Für Dr. Ashok Dhawale ist das Ergebnis trotzdem überraschend. «Die Regierung Modi hat keines ihrer Versprechen gehalten», sagt der Vorsitzende des Bauernverbandes All India Kisan Sabha, der der CPI/M nahesteht. «Das ist ein sehr beunruhigendes Ergebnis für die indische Demokratie und den Säkularismus.» Modi und die BJP werden weiter den Ton angeben, der Millionen Menschen in Indien Sorge bereitet. Seit Modis Amtsantritt im Jahr 2014 hat sich die Stimmung gegen Minderheiten im Land immer weiter aufgeladen. Radikale Hindus versuchen zum Teil mit Gewalt, ein Verbot von Rindfleischverzehr durchzusetzen. Eine Bevorzugung von oberen Kasten bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen und Regierungspositionen konterkariert den Sinn von Reservierungen, die bislang sozial benachteiligten Schichten zugutekamen.
In den letzten fünf Jahren erlebte Indien eine Politik des Trennens – Hindus gegen Muslime, Arme gegen Reiche, obere gegen untere Kasten. Immer war Modi auf der Seite der Mehrheit. Auch das machte ihn zum starken Mann. Statt auf Wirtschaftspolitik, setzte er auf Sicherheit. Der Kaschmir-Konflikt wurde zum Wahlkampfthema. Die erneute Eskalation mit Pakistan Anfang des Jahres machte vergessen, dass die Arbeitslosigkeit auf einem Höchststand seit 45 Jahren ist und die Volkswirtschaft langsamer wächst als erhofft.
Modi bekam ungeachtet dessen seine zweite Amtszeit. «Gemeinsam werden wir ein starkes und integratives Indien aufbauen», twitterte er am Tag der Ergebnisbekanntgabe. Doch davon sind nicht alle überzeugt. «Ich bin weder glücklich mit dieser Regierung noch mit dem Wahlausgang», sagt Poonam Tushamad vom Schriftsteller*innen-Verband All India Dalit Writers Association, der vor allem Autor*innen aus unteren Kasten vertritt. «Die Hindunationalisten versuchen, den Zusammenhalt schwächerer Kasten zu brechen.» Identitätspolitik spiele eine wichtigere Rolle als Sachpolitik, denn da habe die BJP nicht geliefert.
Vor allem in den Bundesstaaten Nord- und Zentralindiens war die BJP erfolgreich. Dort konnte sie 70 Prozent der Wahlkreise für sich entscheiden. Dabei war sie auf dem Land sogar stärker als in den Städten – obwohl Indien Landwirtschaft seit Jahren in einer tiefen Krise steckt. Die Kongresspartei konnte von der mittelprächtigen Wirtschaftslage nicht profitieren. Gemeinsam mit ihren Verbündeten holte sie 91 Sitze – immerhin 26 mehr als bei den letzten Wahlen. Parteipräsident und Cambridge-Absolvent Rahul Gandhi verkörpert für viele Menschen eine alte, abgehobene Dynastie von Politiker*innen. Im Gegensatz zu Modi, der trotz aller Defizite noch immer als Vertreter der kleinen Leute gilt und sich selbst – so die BJP-Legende – vom Teeverkäufer zum Premierminister hochgearbeitet hat.
Die Kongresspartei konnte nur im nordwestlichen Punjab sowie in Kerala in Südindien ein wenig hinzugewinnen – dort auf Kosten der Kommunisten. Subhashini Ali, Präsidentin des kommunistischen Frauenverbandes All India Democratic Women’s Association (AIDWA) will die Kongresspartei aber nicht als Alternative zu linker Politik sehen, dafür sei ihre Wirtschaftspolitik nicht differenziert genug. «Die Hauptprobleme Bildung, Armut, Beschäftigung, Wohnen, Zugang zu Trinkwasser, Justiz und Gesundheit sind längst nicht gelöst», weiß die 71-Jährige. Doch den Hindunationalist*innen sei es gelungen, die Verantwortung dafür auf die säkulare Politik der Vergangenheit abzuwälzen. Die Antwort der BJP sei religiöser Nationalismus und Intoleranz gegenüber Minderheiten. Damit punkteten sie inzwischen auch in früheren linken Hochburgen wie Westbengalen. «Trotz alledem steht die Kommunistische Partei weiter an vorderster Front bei den Kämpfen der Menschen in Westbengalen», gibt sich Subhashini Ali kämpferisch.
Indiens Linke steckt seit Jahren in einer tiefen politischen Krise. Viele Wähler*innen sehen in den Kommunisten keine Alternative mehr. Insgesamt fehlt es an Nachwuchs. Identitätspolitisch hat die BJP das Feld übernommen. Der Linken droht ein Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit. In Westbengalen stellten sie zu Hochzeiten in den 1980ern 38 von 42 Abgeordneten des Unterhauses. 2004 waren es 35, bei den darauffolgenden Wahlen nur noch die Hälfte. 2019 hat es kein Linker aus Westbengalen mehr ins Parlament der Hauptstadt Neu-Delhi geschafft. Auch im Landesparlament des ostindischen Bundesstaates stellen sie keine zehn Prozent der Sitze. Bereits 2011 waren die Kommunisten in ihrer einstigen Bastion nach mehr als drei Jahrzehnten von der Macht verdrängt worden. In Kerala stellen sie immerhin noch die Landesregierung, aber auch dort müssen sie bangen. Hier setzte sich nur einer ihrer Kandidaten durch.
Der südindische Nachbarstaat Tamil Nadu dagegen stellt vier kommunistische Parlamentarier. Der Menschenrechtsaktivist Henri Tiphagne ist erleichtert, dass nicht in ganz Indien Modi erdrutschartig gewonnen hat: «Die Menschen, die ein säkulares Indien wollen, haben dafür gestimmt», sagt er. Tamil Nadu könne Vorbild für das ganze Land sein. «Es ist an der Zeit, mit größerer Opferbereitschaft die Bemühungen fortzusetzen, um diese Nation und ihre Ideale zu bewahren.»
In vielen Regionen Indiens, in denen die CPI/M durch das Mehrheitswahlsystem keine Chance auf einen Parlamentssitz hatte, unterstützte sie stärkere Parteien wie den Kongress. Doch der Kongresspartei gelang es nicht, genügend erfolgreiche Allianzen zu schmieden. In vielen Wahlkreisen traten Modi-Kritiker*innen gegeneinander an und nahmen sich so gegenseitig die Stimmen ab. Profitiert hat davon die BJP. Weder die Bildungsreformerin Atishi, Kandidatin von Delhis Antikorruptionspartei Aam Admi party (AAP), noch der Studenten-Protestführer Kanhaiya Kumar von der Kommunistischen Partei Indiens (CPI) konnten sich gegen ihre BJP-Mitbewerber durchsetzen. Unterdessen übernahm CPI/M-Generalsekretär Sitaram Yechury die Verantwortung für das schlechte Abschneiden. Er glaubt, dass es unter der neuen Modi-Regierung nicht leicht sein wird, Demokratie, Rechtsordnung und politische Freiheiten in Indien aufrechtzuerhalten.
Natalie Mayroth ist freie Journalistin. Sie lebt und arbeitet im Mumbai.