Nachricht | International / Transnational - Nordafrika «Ich glaube nicht, dass sich für uns Palästinenser etwas ändern wird»

Ein Interview mit der palästinensisch-kanadischen Juristin Diana Buttu über die Auswirkungen der Wahlen in Israel auf Palästina und die palästinensische Zivilbevölkerung.

Chris Whitman: Was erwarten Sie von den nächsten vier Jahren? Kann es sein, dass das Wahlergebnis sich positiv auswirkt für die Palästinenser im Hinblick auf ein mögliches Ende der Besatzung oder eine mögliche Konfliktlösung?

Diana Buttu: Ich glaube nicht, dass sich für uns Palästinenser etwas ändern wird. Ich glaube, dass sich erst etwas ändern wird, wenn wir anfangen uns anders zu verhalten. Es ist jetzt an der Zeit, Israel in die Isolation zu drängen, beispielsweise durch die Boycott, Divestment and Sanctions Bewegung (BDS, dt. Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen) und Rechenschaft von Israel einzufordern. Aber ich glaube nicht, dass das Wahlergebnis etwa dazu führt, dass Israel eine Initiative in Richtung bilaterale Friedensverhandlungen mit Palästina startet. Das wird nicht passieren. Als ich am Verhandlungstisch saß, war nie die Rede davon, dass Palästinensern Rechte zugesprochen werden. Ausgangspunkt der israelischen Verhandlungslogik war immer Israels Moralität und Großzügigkeit, aber nie die Anerkennung der Rechte der Palästinenser. Israel ist auf dem Weg der Straffreiheit in den letzten Jahren so weit gekommen, dass ich einfach nicht mehr daran glaube, dass diese Mentalität, andere um ihre Rechte zu bringen, durch Verhandlungen oder Konferenzen verändert werden kann. Ich glaube nicht, dass sich irgendetwas durch einen bilateralen Prozess ändert und ehrlich gesagt glaube ich, dass auch Abu Mazen (Mahmud Abbas) zum ersten Mal realisiert hat, dass der bilaterale Prozess mit Israel gescheitert ist.

Whitman: Sie haben vor einiger Zeit gesagt, Sie haben das Gefühl, dass Abu Mazen mit seinem Glauben an eine bilaterale Lösung an seine Grenzen stößt. Was meinen Sie, ob und wie die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) auf die Wahlen reagieren sollte?

Buttu: Es besteht ein großer Unterschied darin, was die PA macht und was sie machen sollte. Im Moment ist sie passiv und wartet ab, was passiert, welche Regierungskoalition gebildet wird, wie die Welt reagiert und wie die USA Netanyahu unter Druck setzen. Die Frage ist also eher, was sie tun sollte. Ich habe nicht unbedingt etwas gegen den jetzigen Ansatz der PA, aber sobald in Israel eine Regierung gebildet ist, wird es Zeit, dass sie Israels Isolierung vorantreibt. Unabhängig von der Zusammensetzung der Regierungskoalition muss sie Israels Rechenschaft einfordern und Maßnahmen wie die BDS-Bewegung vorantreiben. Der einzige Grund für diese Abwartehaltung ist, dies später als Munition zu nutzen, wenn es darum geht Isolierung, Rechenschaftspflicht und BDS anzustreben. Allerdings sieht die PA es nicht so. Sie hofft darauf, dass eine „positivere Person“ eine wichtige Rolle in der Regierung übernimmt und dass die internationale Gesellschaft etwas unternimmt.

Whitman: Können Sie Beispiele dafür geben, was Sie damit meinen, dass Israel weiter isoliert wird? Was bedeutet so eine Isolierung auf diplomatischer, praktischer, politischer und ökonomischer Ebene?

Buttu: Meiner Meinung nach wäre der erste Schritt UN-Resolutionen voranzutreiben, die zu einem umfangreichen Boykott Israels aufrufen, selbst wenn sie nur von der Generalversammlung ausgesprochen werden würden. Bisher wurde so etwas noch nie versucht. Alles, was sie machen müssten, ist sich anzuschauen, was die Südafrikaner Anfang der Sechsziger gemacht haben. Dann würden sie sehen, wie systematisch die Südafrikaner vorgegangen sind und dass 1965 bereits Resolutionen auf dem Tisch lagen, die zu Boykott gegen Südafrika aufgerufen haben. Ich glaube, das ist die Basis, von der aus Palästina starten sollte.

Whitman: Wie sollten Palästinenser aus den besetzten Gebieten auf der Mikroebene reagieren? Sollte sich die Zivilgesellschaft in den besetzten Gebieten mit diesen Themen auseinandersetzen, die Sie gerade genannt haben?

Buttu: Ich wünschte, ich hätte eine Antwort auf diese Frage. Im Idealfall ist es so, dass es eine umfassende Strategie seitens der Regierung gibt und die Gesellschaft dieser Strategie folgt. Die Zivilgesellschaft ist allerdings weitgehend von der palästinensischen „Normalbevölkerung“ getrennt. Ich glaube, so eine Abspaltung von der breiten Bevölkerung existiert lediglich bei den Gruppen des populären Widerstands nicht. Diese bekommen jedoch kaum internationale Aufmerksamkeit. Wir müssen ein Szenario konstruieren, in dem die Regierung eine Strategie vorgibt und die Menschen dieser folgen können, um ihre Anstrengungen besser zu bündeln. Vereinfacht gesagt, glaube ich schon, dass die Zivilgesellschaft zur Zeit eine wichtige Rolle spielt, aber diese muss noch weiter gestärkt werden. Vielleicht ist das genau der Schritt nach vorne: Die Basisorganisationen dazu bringen, den populären Widerstand zu erhöhen mit der Hoffnung, dass die Zivilgesellschaft Verbindungen zur internationalen Gemeinschaft hat, an die dann angeknüpft werden kann. BDS ist ein Beispiel dafür, dass so etwas um die Welt gehen kann und internationale Aufmerksamkeit erlangt. Allerdings brauchen wir eine vertikale Integration zwischen den Basisorganisationen und der palästinensischen Führung. Ich habe jedoch wenig Glauben daran, dass die PA viel dafür tun wird. Wenn es Erfolge geben wird, wird es an den Menschen auf der ganzen Welt liegen, die Druck ausüben. Die PA wird davon natürlich profitieren, obwohl sie nicht die Initiatoren sein werden. Ob ich glaube, dass die Palästinenser mehr tun sollten? Ich glaube, sie unternehmen bereits sehr viel. Der Widerstand ist weiterhin riesig. Ich persönlich wäre nicht in der Lage, eine militärische Besatzung 50 Jahre lang auszuhalten. Die Palästinenser tun das und es zeigt, dass sie großes Durchhaltevermögen besitzen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir mehr fordern können als das, was sie bereits leisten.

Whitman: Vor einem Monat hat die PA den Verkauf von Produkten sechs großer israelischer Firmen de facto verboten. Empfinden Sie das als einen positiven Schritt nach vorne oder eher als eine symbolische Geste, die auf lange Sicht nicht aufrechterhalten werden kann?

Buttu: Ich glaube nicht, dass diese Firmen langfristig in der Westbank vollständig boykottiert werden, da die PA sich selten an das hält, was sie sagt. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass es ein großer Schritt für die PA war, zu einem Boykott von israelischen Produkten aufzurufen. Sie haben sich davon distanziert,  Israel und israelische Produkte anzupreisen und rufen stattdessen zum Boykott auf. Das ist ein großer Schritt, der allerdings nicht reicht. Ich glaube, dass dies auf jeden Fall lediglich einen symbolischen Charakter hat, aber in dieser Symbolik kann natürlich ein Anfang liegen.

Whitman: Die Vereinte Arabische Liste hat sich 13 Plätze in der Knesset sichern können. Sehen Sie das als einen Erfolg für die palästinensischen Bürger Israels? Hat die Liste besser abgeschnitten, als Sie es geglaubt haben und was sind Ihre Erwartungen an die Liste?

Buttu: Ich habe gemischte Gefühle und bin ehrlich gesagt innerlich sehr zerrissen, weil ich nicht möchte, dass das israelische System legitimiert wird. Wenn man wählen geht, legitimiert man das System und meint zu glauben, dass Veränderungen aus dem Inneren des Systems kommen können. Daran glaube ich nicht. Deswegen möchte ich auch nicht das israelische System legitimieren und kann nicht glauben, dass nur, weil wir mehr Sitze haben, Veränderungen einsetzen werden. Ich bin allerdings glücklich darüber, dass die vier politischen Parteien ihre Unterschiede beiseite gelegt und zueinandergefunden haben. Sie haben realisiert, dass ihre Unterschiede im Vergleich zu der Diskriminierung, dem Rassismus und der Apartheid unter der sie alle leben, nebensächlich sind. Ich glaube, sie haben endlich verstanden, dass es etwas gibt, was sie vereint und dass das viel größer ist, als das, was sie trennt. Allerdings zähle ich mich nicht zu denen, die glauben, dass nun massive Verändungen passieren werden. Dennoch zeigt es, dass es jetzt selbst in der fragmentierten Gemeinschaft der palästinensischen Israelis einen Sinn dafür gibt, dass sie sich gemeinsam gegen den Rassismus, die Apartheid, den Kolonialismus und die ethnische Säuberung stellen muss. Ich habe mich außerdem sehr darüber gefreut, dass sie eine ehrliche und saubere Kampagne geführt haben: Sauber in dem Sinne, dass sich niemand abschätzig über andere Kandidatinnen und Kandidaten geäußert hat, und ehrlich, da sie klargemacht haben, dass sie keine Wunder vollbringen können. Ich glaube, dass sie jetzt als Vereinte Liste mehr internationale Aufmerksamkeit gewinnen können. Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, dass dies die ersten Wahlen waren, bei denen jüdische, anti-zionistische Israelis ihre Stimme für den Außenseiter abgeben konnten.

Whitman: Welche Rolle wird die Vereinte Arabische Liste in dieser Regierung einnehmen? Glauben Sie, dass sie Gesetzgebungen vorantreiben kann, die die Situation der Palästinenser verändern?

Buttu: Ich glaube zum einen,dass sie wie Torhüter fungieren werden und versuchen, eine Reihe von Gesetzen abzufangen. Zum anderen werden sie viele Gesetze und Reformen hinterfragen, die in Verbindung mit der Besatzung stehen. Sie werden keinesfalls Teil einer Koalition werden. Selbst wenn Herzog gewonnen hätte, wären sie einer solche Koalition nicht beigetreten. Sobald sie Teil einer Koalition wären, könnten sie nicht mehr gegen etwas stimmen, beispielsweise gegen einen Angriff auf Gaza. Sie würden niemals Teil einer Besatzungsregierung sein und Besatzungspolitiken mit tragen. Es ist schlimm genug, dass sie in einem Besatzungsparlament sitzen. Deswegen müssen sie Teil der Opposition sein. Ich glaube, da werden sie auch einen besseren Job machen. Mir macht allerdings Angst, dass die Vereinte Liste sehr instabil ist und die Israelis versuchen werden sie auseinanderzubringen. Sie werden versuchen Haneen Zoabi zu isolieren. Die Frage wird also sein, ob die Vereinte Liste als Vereinte Liste zusammenarbeiten kann oder ob sie sich langfristig auflöst.

Whitman: Sie haben bereits die Frage angesprochen, ob Palästinenser in Israel überhaupt an den Wahlen teilnehmen sollten. Letztendlich haben um die 63% der wahlberechtigten palästinensischen Wählerinnen und Wähler ihre Stimme abgegeben. Glauben Sie, dass im Fall, dass die Vereinte Liste sich gut behauptet, die Wahlbeteiligung in den nächsten Wahlen höher ausfallen wird?

Buttu: Je nachdem. Ich glaube, ja, aber der Grund, warum ich „je nachdem“ sage, ist, dass es zwei große Gruppen gibt, die sich gegen eine palästinensische Stimmabgabe aussprechen. Die eine ist die religiöse Gruppe geführt von Sheikh Salah und die andere die sekulär-nationalistische Gruppe. Beide vertreten die Auffassung, dass eine palästinensische Wahlbeteiligung das System legitimiert. Sie haben ihre Hardcore-Unterstützer hinter sich versammelt. Es gibt allerdings auch andere, die dies als Chance verstehen, die mit Verantwortung verbunden ist; die Verantwortung jemanden zu wählen, der dann versuchen wird, einige der rassistischen Gesetze zu blockieren. Ich glaube, es ist davon abhängig, wie es diesen zwei Lagern gelingt, Unterstützung zu gewinnen und wie gut sich die Vereinte Arabische Liste behauptet.

Diana Buttu ist eine palästinensisch-kanadische Juristin und frühere Sprecherin der “Negotiations Support Unit“ der Palästinensischen Befreiungsorganisation. Sie ist bekannt für ihre juristische Arbeit in der „Negotiations Support Unit“ während der zweiten Intifada.

Chris Whitman ist ein unabhängiger Forscher und lebt seit 2010 in Palästina. Er schloss sein Masterstudium in Middle Eastern Studies 2014 ab. Von 2011 bis 2014 war er als Koordinator für Interessensvertretung in einer lokalen Organisation tätig. Seit Januar 2015 ist er Manager of Resource Development für eine Organisation, die sich mit Arbeitnehmerrechten beschäftigt.

Übersetzung: Sarah Stötzner   

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus einem in englischer Sprache geführten Interview mit Diana Buttu. Das Original finden Sie hier.