Einschätzung eines linken Aktivisten in Bagdad zur derzeitigen Lage im Irak und den Demonstrationen, die vor zwei Tagen begonnen haben. Das Gespräch fand am Telefon am 3. Oktober 2019 statt, da die irakische Regierung das Internet abgestellt hat.
Die Gründe für den Ausbruch der Demonstrationen sind vielfältig und reichen in die letzten Jahre zurück: Die soziale und wirtschaftliche Lage im Irak hat sich seit den Demonstrationen 2018 nicht verbessert, die Arbeitslosigkeit ist sogar gestiegen, im Moment gibt es im Irak etwa 13 Millionen Arbeitslose, unter anderem aufgrund der fehlenden Investitionen und der schlechten Wirtschaftslage im Land. Nur der Staatsapparat bietet sich als Beschäftigungssektor an. Der Ausbruch erneuter Demonstrationen in Ägypten vor etwa zwei Wochen ermutigte viele Aktivist*innen im Irak, zu einer Demonstration in Bagdad am 1. Oktober 2019 aufzurufen.
Bereits im Vorfeld hatte die irakische Regierung organisierte Streiks in Bagdad unterdrückt und aufgelöst, so zum Beispiel der Streik der Ingenieur*innen sowie der Pädagogikstudierenden und der Tiermediziner*innen. Insgesamt geht es hier um etwa fünf Streikbewegungen, an denen in Bagdad etwa 500 Personen teilgenommen haben und die etwa sechs Monate andauerten. Die Reaktionen auf die Streikbewegungen löste landesweiten Ärger aus, da die Streikenden zur gebildeten Schicht gehörten und es für viele Iraker*innen unverständlich erschien, wie ihnen und ihren gerechtfertigten Forderungen mit so viel Gewalt begegnet wurde. Ende September entließ die Regierung zudem Abd Al-Wahhab Al-Saadeh, ein Militärführer des Befreiungskrieges in Mosul gegen ISIS. Al-Saadeh ist in weiten Teilen der Bevölkerung extrem beliebt, unter anderem deswegen, weil er sich von vielen anderen Militärführern durch seine nicht konfessionelle Einstellung unterscheidet.
Diese verschiedenen Ereignisse führten zu einer Welle des Zorns im Land und schließlich zum breiten Aufruf zur Demonstration am 1. Oktober. Dem Aufruf folgte eine große Masse, obwohl die politischen Parteien und Strömungen die Teilnahme an den Demonstrationen verboten hatten, darunter auch die Irakische Kommunistische Partei, die Sadr-Strömung sowie die Kommunistische Arbeiterpartei*, die an den Demonstrationen in den letzten Jahren teilgenommen hatten. Und diese Zurückhaltung der Parteien ermutigte die Menschen, an der Demonstration teilzunehmen, da die Position der Parteien den nicht-konfessionellen und säkularen Charakter der Demonstration unterstrich. Für viele waren die Forderungen der Demonstrant*innen demnach grundsätzliche Forderungen, wie die Bekämpfung von Korruption, Armut und Arbeitslosigkeit, die alle Iraker*innen etwas anging (und nicht nur eine bestimmte Gruppe oder Konfession).
Der 1. Oktober wurde absichtlich als Tag der Demonstration gewählt, da der Dienstag ein normaler Arbeitstag ist und diejenigen, die zur Demonstration aufgerufen haben, in der Mehrheit arbeitslos sind. Die Demonstration wurde zu einer riesigen Demonstration, an der etwa 800.000 bis 1 Millionen Menschen teilnahmen. Die Reaktion der Sicherheitskräfte war von Anfang an extrem gewalttätig, was die meisten Menschen überraschte. Die Polizei, Armee und ihre Hilfskräfte schossen auf die Demonstrierenden und bewarfen sie mit Tränengas.
Trotz dieser gewalttätigen Reaktion demonstrierten die Menschen weiter, bis die Sicherheitskräfte die Demonstrierenden in ihre Wohnviertel und Häuser verfolgten. Am nächsten Tag wurden die Demonstrationen fortgesetzt und die Sicherheitskräfte verfolgten die Demonstrierenden weiterhin bis um 4 Uhr morgens. Etwa 500 Menschen wurden getötet und weitere 1000 verletzt. Die Armee trat nun mit Panzern auf und schoss weiterhin auf die Demonstrierenden. Es gibt Bilder von Kindern, die durch die Waffen der Sicherheitskräfte schwere Verbrennungen erlitten. Die Demonstrationen weiteten sich in weitere Teile des Landes aus und einige Gebäude von politischen Parteien, Regierungsgebäude in Maysan (in Südostirak) sowie Moscheen in Babel und Maysan wurden angezündet. Zusätzlich zur Armee und den Sicherheitskräften fingen die verschiedenen Milizen an, die Demonstrierenden anzugreifen und in ihren Wohnvierteln zu verfolgen.
In Ghazaliyeh, einem armen Wohnviertel in Bagdad gab es gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen der Kharasani Miliz und dem Sawa’ed Stamm, nachdem die Kharasani Miliz das Viertel gestürmt hatte. Das Internet wurde im ganzen Land abgestellt und die Milizen stürmen weiterhin die Häuser der Demonstrant*innen und erschießen diese. Vor zwei Tagen wurden in Basra zwei unserer Freunde in ihrem Haus erschossen, nachdem sie auf einer Demonstration in Basra Nothilfe geleistet haben. Es waren Sarah Taleb und Hussein Adel, ein junges Paar, die beide in der Protestbewegung aktiv waren. Sie wurden mit zehn Pistolenschüssen ermordet.
Die Demonstrationen sind friedlich; die Gewalt, die wir sehen ist die Gewalt des Staates und der mit dem Staat verbundenen Milizen, die den Forderungen der Demonstrierenden nach grundlegenden Rechten mit Gewehren und Panzern, mit dem Ausrufen des Notzustandes, Ausgangssperren und dem Abstellen des Internets begegnen. Und trotz allem werden wir den einzigen Weg, den wir kennen, fortsetzen: Den Weg der Revolution.
Gesprächsführung und Übersetzung: Miriam Younes/Sarah Wansa, Beirut-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
* Anmerkung der Autor*innen: Die Kommunistische Arbeiterpartei änderte allerdings ihre Position später und unterstützte die Demonstrationen.