Serbien befindet sich im Baufieber. An allen Ecken und Enden des Landes wird gebaut. Straßen, Autobahnen, Brücken, Plätze, Shopping-Malls, ja ganze Stadtteile werden aus dem Boden gestampft. Auch wenn häufig der genaue Mehrwert für die Bevölkerung unklar bleibt, tönt und brüstet sich Staatspräsident Aleksandar Vučić in der Öffentlichkeit damit, bald mehr gebaut zu haben als der ehemalige jugoslawische Staatspräsident Tito. Solche und ähnliche Tito-Vergleiche mögen zwar bizarr anmuten, doch sie werden mit Kalkül ausgesprochen. Die Systemlegitimität der postjugoslawischen Klein- und Kleinststaaten steht weiterhin durchaus auf tönernen Füßen, das Grundgefühl vieler Menschen neigt auch nach 30 Jahren Kapitalismuserfahrung der Einschätzung zu, es im Sozialismus besser gehabt zu haben. Mit ihrer Tito-Komparatistik begibt sich die Vučić-Administration aber nicht auf den plumpen Pfad einer teilweise mit religiösem Furor vorgetragenen Negation des jugoslawischen Sozialismus. Dies ist weiterhin vor allem primäres Merkmal des katholisch-inquisitorischen, schäumend-irrationalen Antikommunismus der kroatischen Rechten. Im Falle von Aleksandar Vučić und seiner Entourage wird hingegen anerkannt, dass in Jugoslawien bedeutend in die Infrastruktur investiert worden ist, und zwar je bedeutender, desto besser. Denn nur dann und dadurch erstrahlen er und seine politischen Handlanger in der gewünschten Glorie, nur dann wird auch dem letzten Jugonostalgiker klar, dass heute, unter Vučićs strenger aber fürsorglicher Regentschaft, sogar noch mehr und noch bombastischer gebaut wird als im sozialistischen Jugoslawien.
Krunosalv Stojaković leitet das Regionalbüro Südosteuropa der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Belgrad.
In einem jüngst veröffentlichten Beitrag des Wirtschafts-Portals Telegraf Biznis erläutert Belgrads omnipräsenter Vizebürgermeister Goran Vesić, dass das Belgrader Stadtbild gegen Ende des gerade vergangenen Jahres durch stolze 324 Baukräne und nahezu 3000 Baustellen geziert worden sei, und dass allein 2019 über 250 Baugenehmigungen für über eine Million Quadratmeter städtischen Baulands erteilt worden seien. Der Immobilienboom hat also in Belgrad ein neues Zuhause gefunden, und das trotz großer gesellschaftlicher Proteste wie im Falle des baupolitischen Flaggschiffs Belgrade Waterfront, das sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem finanz- und umweltpolitischen Desaster entwickeln wird.
Hinter den glänzenden Fassaden der entstehenden Neubauten jedoch verbirgt sich ein Bausektor, der weitgehend unkontrolliert erscheint und auf brutalste Weise die Arbeitskraft und Gesundheit der darin beschäftigten Arbeiter ausbeutet. Im Jahr 2018 beispielsweise verunglückten in Serbien 53 Arbeiter auf ihrem Arbeitsplatz, davon 15 auf den zahlreichen Baustellen, einige von ihnen arbeiteten «schwarz», waren also weder versichert noch ausgebildet oder angelernt. Folgt man den Angaben der serbischen Bauministerin Zorana Mihajlović, waren in 2018 in Serbien offiziell knapp 97.000 Personen im Bausektor beschäftigt. Nimmt man Vergleichsdaten aus der Bundesrepublik für das Jahr 2018, so kamen auf bundesdeutschen Baustellen auf 100.000 im Bausektor beschäftigte Personen 1,1 Unfälle mit Todesfolge. Auf serbischen Baustellen liegt die Unfallrate mit Todesfolge somit um mehr als das fünfzehnfache über derjenigen der Bundesrepublik! Selbst wenn wir die Zahl der auf serbischen Baustellen irregulär beschäftigten Personen großzügig nach oben schrauben und von zusätzlichen 50.000 irregulär Beschäftigten ausgehen, bleibt die Statistik weiterhin das, was sie real ohnehin ist: Ausdruck brutalster Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, dargebracht auf dem Altar des exorbitanten Profitstrebens einiger weniger Baulöwen und der Profilneurose lokaler Politiker. Auch im Jahr 2019 sah die Todesrate auf serbischen Baustellen weiterhin düster aus, bis Ende Oktober zählte die Statistik insgesamt 38 Todesfälle am Arbeitsplatz, davon 18 tödliche Unfälle am Bau.
Konsequenzen muss derweil niemand befürchten, weder die Bauträger noch die ausführenden Subunternehmer, und auch nicht die verantwortlichen Politiker, die zwar den Kampf gegen Schwarzarbeit angekündigt, das Jahr 2019 gar zum «Jahr der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz» ausgerufen hatten, aber in der Praxis vor allem damit beschäftigt sind, den Bauunternehmern nicht auf die Füße zu steigen. Nach einem Unfall im September 2018 auf der Großbaustelle Belgrade Waterfront, bei dem zwei Bauarbeiter aus großer Höhe stürzten und tödlich verunglückten, begnügte sich der serbische Arbeits- und Sozialminister Zoran Đorđević damit die Öffentlichkeit darüber zu unterrichten, dass keine unabhängige Untersuchungskommission zum Unfallhergang notwendig sei denn der Bauträger, die österreichische Strabag, habe eine freiwillige Selbstauskunft getätigt aus der hervorgehe, dass die betreffenden Arbeiter sowohl offiziell angemeldet und versichert waren, als dass auch alle Sicherheitsstandards eingehalten worden seien.
Es bleibt dabei, was Friedrich Engels schon vor 175 Jahren im Vorwort zu seiner Studie über die Lage der arbeitenden Klasse in England formuliert hatte: «[...] was immer sie (die Mittelklasse) zu sagen beliebt – in Wirklichkeit kein anderes Ziel kennt, als sich durch eure Arbeit zu bereichern, solange sie deren Produkt verkaufen kann [...].»
Ungeachtet solch eklatanter Verstöße gegen existierende Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz, und trotz obszön hoher Unfallraten mit Todesfolge, wurde in Serbien in den letzten fünf Jahren kaum jemand zur Rechenschaft gezogen. Knapp 50 Prozent der zu Anzeige gebrachten Fälle verjähren, ohne dass sie jemals verhandelt worden sind, und falls es einmal tatsächlich zu einer Verhandlung und Verurteilung kommt, so fallen diese unverständlich mild aus. Ein Bauunternehmer, der seine Mitschuld am Tod zweier Arbeiter auf einer Belgrader Großbaustelle selbst gestanden hatte, wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, während zwei weitere Verantwortliche eine Geldstrafe in Höhe von 250.000 Dinar, also etwas über 2.100 Euro zahlen mussten.
Kehren wir zum Schluss noch einmal auf die obsessiven Vergleiche mit Tito und dem sozialistischen Jugoslawien zurück, so lässt sich festhalten, dass im Unterschied zur blanken Ausbeutung heutzutage, die Arbeiter damals nicht nur einen viel besseren Arbeitsschutz und insgesamt bessere Arbeitsbedingungen hatten, sondern dass sie auch an Bauprojekten beteiligt waren, die gesamtgesellschaftlichen Nutzen hatten. Heute hingegen wird kein Bauarbeiter, der am Bau von Luxuswohnungen in der Belgrader Innenstadt oder am Save-Ufer engagiert ist, jemals auch nur im entferntesten daran denken können, sich und seiner Familie eine Wohnung in solch einem Objekt erstehen zu können.