Was die beiden Wahlsiege 2019 tatsächlich wert sind, wird sich für Polens Nationalkonservative erst bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2020 herausstellen. Im Mai 2019 hatte die von Jarosław Kaczyński geführte Formation etwas überraschend die Nase bei den Wahlen zum Europäischen Parlament vorne gehabt. Um die begehrten Stimmen hatte sie mit der Losung «Polen – das Herz Europas» geworben. Dahinter stand die Überzeugung, dass künftig die von Kaczyński verfolgte Linie eines Europas der Vaterländer und weniger einer Integration der Gesellschaften in Brüssel das Sagen haben werde. Diese Hoffnung wurde zwar enttäuscht, doch war der Ausgang der Wahlen Frühjahr ein verheißungsvolles Zeichen für die Parlamentswahlen im Herbst des gleichen Jahres.
Holger Politt leitet das Regionalbüro Ostmitteleuropa der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.
Auch die wurden schließlich siegreich bestritten, denn die Nationalkonservativen konnten mit 235 Abgeordnetensitzen ihre absolute Mehrheit im Sejm verteidigen. Allerdings wurden einige wichtige Ziele verfehlt, was beträchtliche Unruhe in das Regierungslager brachte. Erstens wurde trotz einer massiven Wahlkampagne und trotz offensichtlicher Wahlgeschenke für bestimmte Wählergruppen – so beispielsweise Zusatzzahlungen für die Rentner – kein einziger Abgeordnetenplatz dazugewonnen. Zweitens hatte die Opposition zusammengerechnet deutlich mehr Stimmen zusammenbekommen als das Kaczyński-Lager, so dass das Wahlsystem schließlich für die Sitzverteilung im Sejm den Ausschlag gab, bei dem eine gleiche Stimmenzahl deutlich mehr Abgeordnetensitze einbringt, wenn sie nur von einer Liste und nicht von mehreren Listen zusammengezählt erreicht wird. Und drittens schließlich hatte die strikt auf die geltende Verfassung von 1997 pochende Opposition im Oberhaus – dem Senat – einen hauchdünnen Vorsprung erreicht, denn von den in einem Wahlgang gewählten 100 Wahlkreissiegern kamen 51 aus ihren Reihen. Das gelang, weil die drei Oppositionslisten im Verfassungsspektrum sich darauf geeinigt hatten, jeweils nur mit einem Kandidaten oder einer Kandidatin anzutreten.
Kaczyński quittierte den Ausgang der Parlamentswahlen entsprechend, meinte sogar, das Regierungslager hätte mehr Stimmen holen müssen, was also seine Enttäuschung ausdrückte, nicht noch mehr Abgeordnetensitze erreicht zu haben. An die eigene Anhängerschaft gewandt, warnte er eindringlich, dass eine Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen im späten Frühjahr 2020 für die Nationalkonservativen eine politische Katastrophe sein würde. Damit drückte er klar aus, dass Amtsinhaber Andrzej Duda der unumstrittene Kandidat des Regierungslagers ist. Dessen Scheitern würde – so Kaczyński im Herbst 2019 – das gesamte politische Gefüge, wie es sich seit dem Herbst 2015 in Polen herausgebildet habe, infrage stellen.
Damals erklärten der frischgewählte neue Staatspräsident Duda und führende Nationalkonservative unumwunden, dass die Veränderung der Verfassung eines der innenpolitischen Hauptziele sei. Kaczyński hatte die Verfassungsänderung schließlich als eine dringende Aufgabe für die Zeit nach den Wahlen von 2019 und 2020 herausgestellt, vorausgesetzt, die Mehrheitsverhältnisse im Sejm würden weiter deutlich zugunsten der Nationalkonservativen verschoben, wovon er damals fest ausging. Das ist nun – wie zu sehen – nicht eingetreten, insofern geht es im Frühjahr 2020 nicht mehr darum, den Durchbruch zu verfassungsändernden Verhältnissen zu erreichen, sondern allein um die Sicherung des Wahlsiegs vom Herbst 2019.
Polens direkt gewählter Staatspräsident besitzt die Möglichkeit, die von den beiden Parlamentskammern verabschiedeten Gesetzesvorhaben mit einem sogenannten Veto zurückzuweisen, also nicht zu unterschreiben. In einem solchen Falle kann der Sejm das Präsidentenveto mit einer qualifizierten Mehrheit von drei Fünfteln der Stimmen bei einem Quorum von mindestens der Hälfte aller Abgeordnetenstimmen, also 230, zurückweisen. Bei insgesamt 460 Abgeordnetensitzen im Sejm braucht es – bei vollständiger Anwesenheit – also 276 Stimmen, um ein Präsidentenveto sicher überstimmen zu können. Und diese Zahl ist die Bemessungsgrundlage, mit der Kaczyński im Herbst 2019 auf das Wahlergebnis schaute, denn die erreichten 235 Sitze sind zu weit von dieser Zahl entfernt. Somit der unmissverständliche Schluss: Der Staatspräsident muss auch in den nächsten fünf Jahren dem eigenen politischen Lager gewogen sein.
Von Vorteil für das Regierungslager war, dass Amtsinhaber Duda ab Herbst 2019 mit dem Wahlkampf beginnen konnte. Stolz vermeldete die Präsidentenkanzlei Ende letzten Jahres, das Staatsoberhaupt habe es bald geschafft, mindestens einmal in jedem der über 300 Amtskreise Polens offiziell gewesen zu sein. Das ist ein klarer Hinweis an die Wählerschaft der Nationalkonservativen, denn deren Hochburgen liegen in der sogenannten Provinz, vor allem im Süden und Osten des Landes, dort also, wo man sich häufig abgehängt sieht gegenüber «bevorzugten» Großstädten. Tatsächlich hat sich Duda in den zurückliegenden Jahren hervorgetan durch eine auffallende Reisetätigkeit im eigenen Land, weniger durch medienträchtige Auslandsreisen. Das könnte für den Wahlausgang im Mai 2020 von Vorteil sein, gilt es doch, deutlich mehr Wählerstimmen zu mobilisieren als der politische Gegner.
Die Oppositionsparteien aus dem Verfassungsbogen treten beim ersten Wahlgang mit drei Kandidatenvorschlägen an. Auf das gemäßigte konservative Spektrum schielt Władysław Kosiniak-Kamysz, der Chef der moderaten Agrarier der PSL. Er darf, wenn es gut läuft, mit 10 Prozent der abgegebenen Stimmen rechnen, allerdings sind die Schnittmengen zur Wählerschaft des Amtsinhabers beträchtlich, was Chancen und Risiken birgt. Im Kern liberal-konservativ ausgerichtet ist Małgorzata Kidawa-Błońska, die Kandidatin der stärksten Oppositionspartei PO (Bürgerplattform), die indes konsequent den liberalen Part spielen muss und spielen wird. Ihr Hinterland sind die Großstädte, auf dem flachen Land und in der kleinstädtischen Provinz wird sie dem Amtsinhaber wenig anhaben können. Ein Ergebnis von bis zu 30 Prozent der abgegebenen Stimmen dürfte in diesem Lager als Erfolg verbucht werden. Und links wird Robert Biedroń als gemeinsamer Kandidat der im Sejm vertretenen linksgerichteten Kräfte ins Rennen gehen. Ihm werden bis zu 15 Prozent der abgegebenen Stimmen zugetraut, was also ein wenig über dem Wahlergebnis der Linkskräfte im Herbst 2019 liegen würde.
Zusammengerechnet würden die drei Oppositionellen aus dem Verfassungsbogen – so gerechnet – im ersten Wahlgang deutlich über 50 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen, doch täuscht die Rechnung ein wenig, denn ein guter Teil des günstig gerechneten Potentials der drei Kandidatenvorschläge im Verfassungsbogen kommt eben, wenn alles richtiggemacht wird, aus dem Potential der anderen, so dass sich am Gesamtpotential wenig ändern wird. Dennoch wäre ein zusammengerechnetes Ergebnis über dem des Amtsinhabers Duda im ersten Wahlgang ein starkes Hoffnungssignal für die Stichwahl. Doch bis es soweit ist, wird noch viel Wasser die Weichsel hinabfließen, außerdem hat der eigentliche Wahlkampf noch gar nicht begonnen, einstweilen sind es Vorgeplänkel. Und nicht wenige Beobachter winken bereits ab, meinen, das Rennen sei ohnehin gelaufen – für den Amtsinhaber. Denn die Gräben zwischen den beiden großen politischen Lagern – hier das Regierungslager, dort das Lager der Verfassungsopposition – seien tief und verfestigt, es werde bis Mai 2020 keine große Wählerwanderung mehr stattfinden, so dass im Grunde die Ergebnisse des letzten Jahres bestätigt würden.
Doch ist Vorsicht geboten, noch ist alle Vorhersage viel zu ungenau und wenig gesichert. Erstens hatte die Verfassungsopposition im Herbst 2019 zusammengerechnet knapp 900.000 Stimmen mehr bekommen als die Nationalkonservativen, was so gesehen also auch von einem gewissen Dilemma im Regierungslager zeugt. Zweitens sah es vor fünf Jahren – im Februar und März 2015 – auch so aus, als hätte der damalige Amtsinhaber Bronisław Komorowski den Sieg bereits in der Tasche. Die meisten Beobachter rechneten damals sogar mit einem Sieg in der ersten Runde, also mit über 50 Prozent der abgegebenen Stimmen. Es kam dann anders, allerdings gab es tatsächlich eine sogenannte Wechselstimmung im Land, auf die der Amtsinhaber nur ungenügend vorbereitet war und zudem unzureichend reagierte. Dennoch mag das als Warnung genügen, denn Präsidentschaftswahlen in Polen erwiesen sich bereits oft genug als ein Fallstrick für diejenigen, die allzu schnell als deutlicher Favorit gehandelt wurden.