Der Wahlerfolg Sinn Féins bei den Wahlen in Irland am 8. Februar 2020 scheint auf den ersten Blick überraschend. Nimmt man die innerparteiliche Entwicklung von Sinn Féin und den politischen Kontext in dem die Wahlen in Irland stattfanden, näher in den Blick, zeigt sich, dass der Wunsch nach einer linken Alternative zur Regierung von Leo Varadkar nicht von ungefähr kam. Wie sich jedoch Sinn Féin bei einer Regierungsbildung positionieren kann, hängt maßgeblich davon ab, ob sich entweder die zersplitterte Linke zumindest taktisch einen lässt oder eine der beiden alteingesessen Parteien Fin Gael oder Fianna Fáil auf Regierungsbeteiligung einlässt. Beide Möglichkeiten stellen Sinn Féin jedoch vor große Herausforderungen.
Florian Weis ist Referent für Migration und Demokratie im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Johanna Bussemer ist Referatsleiterin Europa und Referentin für London in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die Entwicklung Sinn Féins zum irischen Wahlsieger 2020
Der Erfolg von Sinn Féin (SF) bei den vorgezogenen irischen Parlamentswahlen hat auch außerhalb Irlands und Großbritanniens relativ große Aufmerksamkeit erfahren. Diese geht einher mit Verwunderung darüber, wie Leo Varadkar, der amtierende Premierminister (Taoiseach) der seit 2011 regierenden Mitte-Rechts-Partei Fine Gael (FG) so eindeutig verlieren konnte, wo er doch in der für Irland so wichtigen Brexit-Frage als ein kompetenter und durchsetzungsstarker irischer Interessenvertreter gegenüber Boris Johnson und der EU in Erscheinung trat. Auch scheint er, der erste offen schwule Premierminister, Sohn eines indischen Einwanderers, den spektakulären Modernisierungsschub der irischen Gesellschaft ideal zu verkörpern, der sich in den beiden Volksabstimmungen der letzten Jahre mit Ergebnissen von weit über 60 Prozent für die Zulassung der Ehe von homosexuellen Paaren und für die Streichung des Abtreibungsverbotes aus der Verfassung ausdrückte. Schließlich schien auch die ökonomische Entwicklung Varadkar in die Karten zu spielen – hat Irland doch, oberflächlich betrachtet, die tiefe Krise nach 2008 mittlerweile weit besser überstanden als etwa Griechenland, Spanien und auch Portugal. Warum also haben sowohl FG als auch ihr ewiger Kontrahent Fianna Fáil (FF) an Stimmen und mehr noch an Sitzen verloren? Wie ist der auf den ersten Blick vielleicht überraschende Wahlerfolg von Sinn Fein zu erklären?
Hierfür gibt es verschiedene Ursachen. Zum einen hat Leo Varadkar diesen gesellschaftlichen Modernisierungsschub zwar vielleicht verkörpert, aber nicht geschaffen oder auch nur wesentlich vorangebracht. Dieser geht vielmehr auf langfristige kulturelle Veränderungen und auf das Wirken von zivilgesellschaftlichen Gruppen und sozialen Bewegungen zurück, denen sich Parteien, allen voran Sinn Fėin und linke Gruppen, unterstützend anschlossen. Hier sind insbesondere die Kampagnen für das Recht auf die «Homo-Ehe» und gegen das Abtreibungsverbot zu nennen. Fine Gael und Fianna Fáil hatten an diesen den geringsten Anteil. Neu entsteht in Irland, Dublin ist zurzeit im Hinblick auf Mieten die viertteuerste Stadt Europas, eine lebendige Bewegung rund um das Thema «Housing», nachdem vor einigen Jahren die «Right2Water»-Kampagne bereits sehr erfolgreich war.
Ergebnisse der Wahlen in Irland seit 2011 im Vergleich
| 2020[1] | 2016 | 2011 | 2019 (160) | 2016 (158) | 2011 (166) |
FG | 20,9% | 25,5% | 36,1% | 35 | 49 | 76 |
FF | 22,2% | 24,3% | 17,5% | 38[2] | 45 | 20 |
SF | 24,5% | 13,8% | 9,9% | 37 | 23 | 14 |
Labour | 4,4% | 6,6% | 19,5% | 6 | 7 | 37 |
SOL-PBP | 2,6% | 3,9% | (2,7%)[3] | 5 | 6 | 5 |
Green P. | 7,1% | 2,7% | 1,8% | 12 | 2 | 0 |
SD | 2,9% | 3,0% | --- | 6 | 3 | --- |
Independent | 12,2% | 15,7% | 12,1% | 20 | 23 | 14 |
Andere | 3,2% | 4,3% |
| 1 | 0 | 0 |
[1] Siehe https://www.rte.ie/news/election-2020/results/#/national.
[2] Der Parlamentspräsident (Ceann Comhairle) wird, ein wenig vergleichbar dem Speaker des britischen Unterhauses, automatisch wiedergewählt. Er gehört seit geraumer Zeit Fianna Fáil an und wird daher in dieser Übersicht FF zugeordnet.
[3] Vorläuferformationen linker, z.T. „trotzkistischer“ Allianzen bestanden bereits vor 2016, als unter dem Namen AAA-PBF (Anti-Austerity Alliance/ People before Profit kandidiert wurde.
It’s the economy, stupid?
Dieser Bill Clinton und den «New Democrats» in den 1990er-Jahren zugeschriebene Satz, der auch ein wesentlicher Ausgangspunkt des Denkens von Tony Blairs «New Labour» und Gerard Schröders «Dritter Weg»-SPD war, hat in vielen Ländern an Bedeutung verloren. Der Aufschwung rechtspopulistischer und rechtsnationalistischer Formationen in Deutschland, den USA, Italien und vielen anderen Ländern speist sich nicht in erster Linie aus aktuellen ökonomischen Entwicklungen, die auch etwa von vielen AfD-Wähler*innen als relativ gut eingeschätzt werden. So richtig es ist, dass Irland die dramatische Krise vor zehn Jahren mittlerweile recht gut überstanden hat und dafür auch bessere Voraussetzungen aus dem langen Boom der rund 15 Jahre zuvor mitnahm, die das Land zum «keltischen Tiger» machten, so sehr hat der damalige Absturz Verunsicherung und Ablehnung des dominierenden wirtschaftsliberalen Modells und der beiden Mitte-Rechts-Parteien hinterlassen. Dies hat Varadkar angesichts guter Wachstumsraten und einer niedrigen offiziellen Arbeitslosigkeit ebenso unterschätzt wie er die Brexit-und Europa-Frage überschätzte. Für die meisten Wähler*innen spielte diese aber kaum eine Rolle, vielmehr standen gravierende Defizite im Gesundheitswesen, in der Wohnungspolitik und allgemein der öffentlichen Dienstleistungen im Vordergrund. Wie sehr mögen Jeremy Corbyn und die Labour Party sich ein ähnliches Szenario im Dezember letzten Jahres gewünscht haben…
Nach bald einem Jahrhundert: Das «2-½-Parteien-System» könnte sein Ende gefunden haben
Nachdem sich 1926 FF unter der Patriarchenfigur des irischen politischen Systems, Ėamon de Valera, dessen prominente politische Laufbahn vom Osteraufstand 1916 bis zum Ende seiner Präsidialfunktion 1973 dauerte, von SF und der damaligen IRA (Irish Republican Army) löste, dominierten im Wesentlichen zwei Parteien die irische Politik, eben FF und, zunächst unter anderem Namen, FG. Nachdem de Valera für FF 1932 erstmals Premierminister wurde, stellte seine Partei in den folgenden 80 Jahren für rund zwei Drittel dieser Periode den Taoiseach, die restliche Zeit fiel die Position an FG. Die Finanzkrise, die Irland so tief abstürzen ließ, beendete die Hegemonie von FF, für die noch 2007 rund 42 Prozent der Wähler*innen votiert hatten, rund doppelt so viele wie bei den folgenden drei Wahlen. FG dominierte nun fast ein Jahrzehnt die irische Politik, nur um jetzt selbst ihr schlechtestes Ergebnis seit 60 Jahren zu erreichen. FF und FG zusammen vereinen nur noch rund 43 Prozent der Stimmen auf sich, 2007 waren es noch fast 70 Prozent. Erstmals haben beide Parteien, die noch nie zusammen regiert haben, in den letzten drei Jahren aber eine Duldung der FG-Minderheitsregierung durch FF ausprobierten, selbst gemeinsam keine Mehrheit der Sitze im Parlament (Dáil Eireen) mehr. Möglicherweise ist damit ein Parteiensystem nach rund 90 Jahren an sein Ende gekommen, das sich von der übrigen europäischen Aufteilung dadurch radikal unterschied, dass zwei Parteien der gemäßigten Rechten bzw. des Mitte-Rechts-Lagers die politische Landkarte dominierten, deren Unterschiede im Wesentlichen aus dem irischen Bürgerkrieg 1922/23 und einer teilweise unterschiedlichen sozialen Basis (FG stärker bürgerlich und städtisch, FF etwas stärker ländlich verankert) herrührten, nicht aber aus grundsätzlichen ideologischen Differenzen wie zwischen linken und konservativen Formationen in anderen Ländern.
Irland hat durchaus eine lange Tradition der Arbeiterbewegung, doch verhinderten die lange Zeit überschaubare Industrialisierung des Landes und die Dominanz der «nationalen» Frage sowie die Nachwirkungen der Trennlinien des Bürgerkrieges, dass die Labour Party eine der britischen Partei vergleichbare Stärke gewann. So pendelte die Partei stets zwischen 10 und 20 Prozent der Stimmen und war mehr als einmal Koalitionspartner von FG, was ihr bei den folgenden Wahlen selten gut bekam. Von der bis dahin schwersten Wahlniederlage 2016, die auf fünf Jahre Mitverantwortung für die Austeritätspolitik der FG-Labour-Regierung folgte, hat sich Labour nicht erholt und ist nun auf kaum mehr als 4 Prozent zurückgefallen. Vor allem SF, aber auch die abgespaltenen Sozialdemokraten sowie diesmal auch die Grünen haben davon profitiert. Eine Rückkehr zur traditionellen Verteilung (FF stärkste Partei, gefolgt von FG und, deutlich dahinter, Labour) erscheint auf längere Sicht sehr unwahrscheinlich zu sein. Die Auswirkungen der tiefen Krise ab 2008 haben insofern auch das irische Parteiensystem tiefgreifend verändert, wenngleich in anderer Weise als in vielen anderen europäischen Ländern. Irland bleibt eines der wenigen Länder (Portugal und Großbritannien wären noch zu nennen), in denen keine rechtspopulistische, rechtsnationalistische oder faschistische Partei vom Niedergang der dominierenden Parteien profitieren kann und parlamentarisch relevant vertreten ist. Anders als im Vereinigten Königreich kann dafür auch nicht das Wahlrecht als Erklärung herhalten, denn in den irischen Wahlkreisen mit ihren drei bis fünf Sitzen und dem System der «Single Transferable Vote» (STV) haben neue Parteien und Einzelkandidat*innen durchaus eine Chance. Vermutlich bildet die lange, bis heute anhaltende Erfahrung nahezu aller Familien von Aus- und Rückwanderungswellen eine gewisse Barriere gegen eine massive Zuwanderungsfeindlichkeit. Zudem haben 2011 und 2016, in etwas geringerem Maße auch 2019 lokal gut verankerte unabhängige Kandidat*innen manchen diffusen populistischen Protest aufnehmen können, ohne dass es dafür einer umfassenden rechten Ideologie bedarf. Schließlich ist es vor allem Sinn Féin, zum Teil auch den Grünen und anderen Kandidat*innen gelungen, sowohl die soziale Unzufriedenheit als auch diejenige über das ewige FF-FG-Wechselspiel mit den dazugehörigen Erfahrungen von Filz und Stillstand produktiv aufzugreifen.
Unaufhaltsamer Aufstieg von Sinn Féin?
In einer langen Perspektive betrachtet mag der Sieg von SF die erstmals seit 1919 (und damals unter ganz anderen Umständen, weil die Partei alle Unabhängigkeitskräfte kurzzeitig vereinte) stärkste Partei wurde (24,5 Prozent der Stimmen und 37 Mandate, damit genauso viele wie FF, wenn der Parlamentspräsident herausgerechnet wird), wie ein unaufhaltsamer und stetiger Aufstieg erscheinen. Erst 1986 beendeten (P)IRA[1] und SF die Politik des «abstentionism» und strebten an, mögliche Sitze im irischen Parlament auch einzunehmen – was die Partei in Nordirland in Bezug auf das britische Unterhaus bekanntlich bis heute verweigert. Doch erst 1997 gelang es Caoimhghín Ó Caoláin, der 2019 nicht wieder antrat, in der Grenzregion zu Nordirland ein Mandat von SF zu gewinnen, bei weniger als 2 Prozent der Stimmen landesweit. Ein weiterer Durchbruch folgte 2002 mit knapp 7 Prozent der Stimmen, während die Partei 2007 stagnierte und erst 2011 auf 10 Prozent und 14 Mandate und 2016 noch einmal auf knapp 14 Prozent und nunmehr 23 Mandate anwuchs. Von weniger als 2 Prozent 1997 auf nun fast 25 Prozent der Stimmen, von einem Mandat 1997 auf nunmehr 37, das sind eindrucksvolle Zahlen, die das kontinuierliche Wachstum von SF deutlich machen. Hinzu kommen die Ergebnisse in Nordirland, wo SF schrittweise auf rund 30 Prozent der Stimmen anwuchs, nun schon seit langem die dominierende Partei des irisch-katholischen Lagers darstellt und wiederholt 7 der 18 Unterhaussitze gewann.
Doch erlebte SF in den letzten drei Jahren auch manchen Rückschlag, weshalb dieser gewaltige Wahlsieg noch bei der Ankündigung der Neuwahlen im Januar überhaupt nicht zu erwarten war, zumal SF in der Republik Irland in Umfragen notorisch überschätzt wurde. Ausdruck dieser begründeten Vorsicht war es, dass SF nur 42 Kandidat*innen aufstellte, was sich rückblickend als Fehler herausstellte, den in mehreren Wahlkreisen hätten weitere SF-Kandidat*innen sich wohl durchgesetzt. Das Ausmaß des Erfolges von SF wird noch deutlicher, wenn diese Zahlen vergegenwärtigt werden: 14 der 15 zuerst feststehenden gewählten Abgeordneten kamen von SF, 17 der landesweit besten 20 Stimmenergebnisse entfielen auf SF-Bewerber*innen.
Und doch war der Erfolg von SF zumindest in dieser Größenordnung nicht absehbar, da SF in den vergangenen Jahren bei verschiedenen Wahlen im Norden (Regionalparlament 2016, Unterhaus 2019 – die beiden entsprechenden Wahlen 2017 verliefen erfolgreicher) und Süden (Kommunalwahlen 2018, Europawahlen 2019) auch Verluste erlitten hatte.
Gleichwohl die Gründe in Norden und Süden sich jeweils unterscheiden, gibt es einige Anhaltspunkte für das gute Ergebnis, die als Erklärungen auf beide Teilen der Insel zutreffen. So ist es für die heutige Führungsgeneration um Mary Lou McDonald (50) und Michelle O’Neil (43) vorteilhaft, dass die langen Schatten der «troubles» und der (P)IRA für die Menschen in der Republik Irland langsam verblassen. Auch die Wiederherstellung der nach Proporz besetzten Regionalregierung in Belfast im Januar hat zur Wählbarkeit von SF als einer zwar oppositionellen und auch teilweise populistischen, aber konstruktiven und demokratischen Partei im Süden beigetragen. Freilich gab es auch im Wahlkampf und am Wahlwochenende ungute Erinnerungen an die (P)IRA und die Zeit der Gewalt, die selbst die eloquente und populäre McDonald in ihren Reaktionen unsicher erscheinen ließen. Dennoch ist es ihr mit dem Sieg vom 8. Februar gelungen, aus dem Schatten des Übervaters von SF, der auch ihre politische Karriere maßgeblich geprägt hat, Gerry Adams (Präsident der Partei von 1983 bis 2018) herauszutreten. Die Tatsache, dass SF nun seit 2017 im Norden und seit 2018 im Süden des Landes von Frauen geführt wird, die beide auch im Wahlkampf die präsentesten Gesichter waren, wird in nicht geringem Umfang den Anteil weiblicher Wählerinnen erhöht und zum endgültigen Abschütteln des militanten Images von SF beigetragen haben.
Schließlich ist es SF diesmal gelungen, eine für den Moment überzeugende Balance zwischen den dominierenden sozialen Themen, dem (begründeten) Image, anders als FF und FG zu sein sowie der nationalen Rhetorik der Vereinigung der gesamten Insel herzustellen. Vor dem Hintergrund des Brexit und langsamer demographischer und kultureller Verschiebungen in Nordirland erscheint SF Forderung nach einer «border poll», einer Volksabstimmung über die irische Vereinigung innerhalb der nächsten fünf Jahre, nicht mehr gänzlich unrealistisch zu sein. Doch wird SF, so sehr diese Forderung eines Referendums durchaus mehrheitsfähig in der Republik Irland ist, nicht in erster Linie hierfür gewählt, sondern als eine vergleichsweise nicht-etablierte, unverbrauchte Kraft des progressiven Lagers. Paradoxer Weise könnte dies SF aber in genau der Situation näherbringen, die Gerry Adams und der 2017 verstorbene Martin McGuinness lange angestrebt hatten, nämlich in Belfast ebenso wie in Dublin zu regieren und so die Vereinigung Irlands voranzubringen. SF sollte aber nicht vergessen, das die nationale Frage für die Mehrheit ihrer Wähler*innen im Süden nachrangig ist, will sie nicht den Fehler von FG und Leo Varadkar wiederholen, der ganz auf die Ökonomie, Europa und den Brexit als Themen setzte, was an den Interessen der Mehrheit der Wähler*innen vorbeiging. SF hat überproportional bei Wähler*innen der jüngeren und mittleren Alterskohorten gewonnen, hat ihre Hochburgen in Dublin sowie in den soziologisch ganz anders beschaffenen Grenzregionen zu Nordirland wie Donegal ausbauen können und gleichzeitig auch in Gebieten im Süden und Westen Irlands zulegen können, in denen die Partei traditionell schwach war. Diese vielschichtige Wahlkoalition zusammen zu halten wird eine große Herausforderung werden, denn auch die Stimmen im Großraum Dublin kommen aus ganz unterschiedlichen Schichten, ist SF doch nach wie vor auch eine Partei der Dubliner working class. Mit weiteren Spitzenpolitiker*innen neben Mary Lou McDonald wie Eoin ŌBroin, einem explizit linken SF-Abgeordneten und wohnungspolitischen Spezialisten, dem Finanzpolitiker Pearse Doherty oder Matt Carthy kann SF möglicher Weise einen Teil dieses Wähler*innengruppen langfristig binden.
Progressive Mehrheiten?
Neben SF sind die Grünen der nächste Sieger dieser Wahlen. Mit rund 7 Prozent der Stimmen konnten sie 12 Mandate (nach nur zweien 2016) gewinnen, weil die Partei für viele Wähler*innen, deren Erstpräferenz an eine andere Partei ging, anschlussfähig ist. Klima- und Umweltfragen spielen dabei eine zentrale Rolle, zudem konnten sich die Grünen acht Jahre nach dem Ende ihrer für sie und das Land verheerenden Regierungsbeteiligung diesmal wieder als Kraft des Wandels darstellen. Anders vor allem als die weit links stehenden schottischen Grünen, aber auch die grüne Partei in England, sind die irischen Grünen eher eine gemäßigt progressive Partei der Mitte denn eine der Linken. Gerade das macht sie nun aber für alle möglichen Regierungsoptionen relevant.
Zufrieden mit den Wahlen können auch die von der Labour Party abgespaltenen Sozialdemokraten sein. Auch ohne einen landesweiten Stimmenzuwachs konnten sie ihre Mandatszahl auf sechs verdoppeln, wobei sie die einzige Fraktion stellen werden, der mehr Frauen als Männer angehören. Insgesamt stellen Frauen weniger ein Viertel der Abgeordneten im Dáil, eine Stagnation, die etwa hinter die langsame, aber stetige Zunahme des Frauenanteils im britischen Unterhaus zurückfällt.
Trotz eines spürbaren Verlustes an landesweiten Stimmen von gut 1 Prozent (SOL-PBP bzw. 2 Prozent (Labour) hätten die Wahlen für die weiteren Parteien des Mitte-Links-Lagers auch schlechter laufen können. Das linke, oft als «trotzkistisch» beschriebene Bündnis «Solidarity – People before Profit» hat trotz des Erfolges von SF nur eines ihrer bisher sechs Mandate verloren und bleibt vor allem in Dublin stark, ebenso wie die erneut geschrumpfte Labour Party (sechs nach sieben Sitze). Gerade SOL-PBP hat dabei von Stimmentransfers von Sinn Fėin profitiert, wie in geringerem Maße auch die Sozialdemokraten, Grünen und linke Unabhängige, was als Ausdruck des Wunsches nach einer linken Mehrheit verstanden werden kann. Beachtlich bleibt die weitgehende personelle und organisatorische Kontinuität des linken Bündnisses SOL-PBP über nun eine Reihe von Jahren hinweg.
Zum ersten Mal seit dem tiefen ökonomischen und sozialen Einbruch ab 2008 haben unabhängige Kandidat*innen nicht weiter zulegen können, doch stellen diese heterogenen 20 Unabhängigen nach wie vor einen wichtigen Machtfaktor und gleichzeitig ein lokales Ventil für Protest und Interessenvertretung dar. In der Wahlperiode von 2016 bis 2019 fanden sich die besonders progressiven unabhängigen Abgeordneten als «Independents4Change» zusammen, doch konnte sich von ihnen diesmal nur Joan Collins behaupten, nachdem die Gruppierung bei den Kommunal- und Europawahlen noch deutlich besser abschnitt, diesmal aber Stimmen vor allem an Sinn Fėin verlor. Ob sich um Joan Collins langfristig eine neue linke Partei formieren wird, die stark von Teilen der Gewerkschaften, z.B. des irischen Teils von Unite ergeben wird, bleibt abzuwarten, erscheint aber angesichts des Erfolges von SF und der Stabilität von SOL-PBP fraglich, denn auch das irische Parteiensystem biete nicht unbegrenzt vielen linken Formationen Raum.
Im Vorfeld der Wahlen hatten sowohl FG als auch FF jede Form einer Regierungszusammenarbeit mit SF ausgeschlossen. Nach den Wahlen wird diese Linie aufgeweicht werden, insbesondere bei FF. Eine historisch völlig neue, freilich durch die Tolerierung seit 2016 weniger befremdlich wirkende «große» Koalition von FF und FG würde die Unterstützung von Grünen und einigen Unabhängigen erfordern und wäre gleichwohl für beide Parteien eine ungeliebte Lösung, weniger aus ideologischen Gründen (denn hier gibt es keine relevanten Unterschiede) als aus historisch-emotionalen und wahltaktischen Erwägungen heraus. Eine SF-geführte Regierung des progressiven Wandels, wie sie SF propagiert, würde nicht nur ungewöhnlich viele Parteien versammeln müssen (Grüne, Labour, Sozialdemokraten, SOL-PBF), sondern würde mindestens 14 der 20 unabhängigen Abgeordneten zur Unterstützung benötigen und wäre wenig stabil. Neben Neuwahlen, die bereits erörtert werden, deren Ausgang aber riskant ist, bleibt eine Regierung von SF und FF, im Zusammenspiel etwa mit den Grünen oder Sozialdemokraten, eine Option, die freilich beiden Parteien aus historischer und emotionaler Abneigung viel abverlangen würde und für SF das Risiko eines Glaubwürdigkeitsverlustes bei jüngeren und linken Wähler*innen einschließt. Doch könnte die Perspektive von Mary Lou McDonald als womöglich erster Frau im Amt des Taoiseach, oder als stellvertretende Premierministerin (Tánaiste) und erster Regierungsvertreterin von SF seit den Tagen von Michael Collins in Verbindung mit der alten Idee, über eine Regierungsbeteiligung in Dublin und Belfast zur irischen Einigung zu gelangen, ein starker Anreiz sein. Und auch hierfür gilt, frei wiedergegeben, ein Satz des früheren Labour-Vorsitzenden Pat Rabbitte: «You might campaign in poetry, but you always negotiate in prose.»
[1] Provisional IRA, 1969/70 von der «Official» IRA abgespalten und später zum Inbegriff «der» IRA geworfen, von der sich nach ihrem langsamen Übergang zum Friedensprozess wiederum verschiedene Splittergruppen abspalteten.