Das 20. und das frühe 21. Jahrhundert waren für China eine Zeit einschneidender Veränderungen im Bereich Kultur und Politik sowie für das Land insgesamt. Während des 20. Jahrhunderts war der chinesische Befreiungskampf eng mit der weltweiten sozialistischen Bewegung verflochten. Das chinesische Proletariat und mit ihr auch die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) trieben dieselben Fragen zur «Macht» um wie ihre Verbündeten in anderen Ländern: Wie übernimmt – und hält – man die Staatsmacht? Und wie begegnen an die Macht gekommene Kommunisten den konkreten Herausforderungen für eine internationalistische Politik?
Sun Wei arbeitet als Projektmanagerin für das Länderbüro Peking der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wo sie für die Entwicklung, Umsetzung und Auswertung von Kooperationen und politischen Projekten im chinesischen Raum verantwortlich ist. Übersetzung von Utku Mogultay und Lisa Jeschke für Gegensatz Translation Collective.
Chinas Erfahrungen der letzten Jahrzehnte stehen stellvertretend für die Schwierigkeiten, mit denen sozialistische Bewegungen konfrontiert sind, wenn sie die Widersprüche zwischen Nationalismus und Internationalismus angehen und überwinden wollen. Die vergangenen 100 Jahre des Internationalismus in China lassen sich in drei verschiedene Kapitel unterteilen.
1921–1949
Das erste Kapitel reicht von der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 1921 bis zur Gründung der Volksrepublik China (VRC) im Jahr 1949. Die KPCh gründete auf zwei wesentlichen ideologischen Prinzipien: der «Diktatur des Proletariats» und dem proletarischen Internationalismus. Dies betonte Cai Hesen, einer der führenden Revolutionsfiguren Chinas, der 1920 gegenüber Mao Zedong als erster den Namen «Kommunistische Partei Chinas» vorgeschlagen hatte. Der Nationalismus – ein wichtiges Mittel der KPCh zur Mobilisierung der chinesischen Bevölkerung für den nationalen Befreiungskampf – war zu dieser Zeit stark mit einer internationalistischen Haltung verwoben.
Die 1919 auf Initiative der Sowjetunion gegründete Kommunistische Internationale (Komintern) leistete einen aktiven Beitrag zum Aufbau der KPCh, die dann auch die chinesische Landessektion innerhalb der Komintern vertrat. Tiefst überzeugt vom Anspruch der Komintern, das globale Proletariat zu repräsentieren, bewies die KPCh ihre Loyalität, indem sie sich bei den Verhandlungen über die Unabhängigkeit der Mongolei sogar auf die Seite der Sowjetunion stellte.
Mit der Zeit geriet die Komintern allerdings immer mehr zum verlängerten Arm der sowjetischen Außenpolitik. Dass die Sowjetunion in Bezug auf den Internationalismus den Ton angab, führte zu Konflikten zwischen KPCh und Komintern und steht beispielhaft für das angespannte Verhältnis zwischen der Dachorganisation und ihren jeweiligen Landesvertretungen. Als die Interessenkonflikte immer offenkundiger wurden, stellte die KPCh ihre Beziehung zur Komintern zunehmend infrage. Die gescheiterte Revolution von 1927 kreidete man der Sowjetunion an: Die Moskauer Führungsriege hätte sich als schlechter Ratgeber erwiesen, indem sie die russische Revolutionserfahrung schematisch auf China übertragen wollte.
Während das westeuropäische Proletariat damals einzig den Kapitalismus bekämpfte, musste das Proletariat in sich entwickelnden Ländern (darunter auch China) nicht nur gegen den Kapitalismus, sondern auch gegen Imperialismus und Kolonialismus ankämpfen. Die chinesischen Kommunisten sahen im Nationalismus daher eine Voraussetzung für einen erfolgreichen Internationalismus. In einer 1938 gehaltenen Rede zur Rolle der KPCh im Bürgerkrieg betonte KP-Generalsekretär Mao Zedong, dass ein chinesischer Kommunist auch Internationalist sein muss. Er prangerte den sogenannten «Patriotismus» der deutschen und japanischen Faschisten an und machte sie für die katastrophale Situation verantwortlich, unter der die Bevölkerungen beider Länder und ihrer Nachbarn litten. In diesem Sinne betrachtete Mao den chinesischen Patriotismus als praktizierten Internationalismus, der in Form eines nationalen Befreiungskriegs zum Ausdruck kommt.
1949–1978
Die nächste Zeitspanne umfasst die Periode von der Gründung der VRC bis zu den Anfängen der «Reform- und Öffnungspolitik» unter Deng Xiaoping. In dieser Phase wandelte sich der Internationalismus und spielte eine veränderte Rolle. Beim Kampf des globalen Proletariats gegen die Hegemonie des westlichen Kapitalismus wurde die Befreiung der sich entwickelnden und dekolonisierenden Länder zu einem zentralen Anliegen. Damit rückte auch eine neue Frage in den Vordergrund: Wie kann sich das Proletariat im Kampf gegen seine Ausbeutung in einer kapitalistisch dominierten Welt vereinigen?
Angesichts der seit den 1950er Jahren anhaltenden Bedrohungen sowohl durch den US-geführten kapitalistischen Westen als auch den sozialistischen Machtblock unter der Führung der Sowjetunion, war China bestrebt, seine eigene weltpolitische Position schrittweise zu stärken, und ging daher mehrere Partnerschaften mit Ländern ein, die ebenso für ihre nationale Unabhängigkeit kämpften.
Bei der Bandung-Konferenz im Jahr 1955 – der ersten internationalen Konferenz, bei der überwiegend asiatische und afrikanische Länder versammelt waren – schlug China «Fünf Prinzipien friedlicher Koexistenz» als Richtlinien für internationale Beziehungen vor: gegenseitige Achtung der territorialen Souveränität, Nichtaggression, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, Gleichberechtigung sowie eine Politik des gegenseitigen Nutzens. Obwohl es bei der Konferenz durchaus zu ideologischen Streitigkeiten kam, begrüßten die Delegierten die fünf Prinzipien und fügten sie zu den zehn Punkten hinzu, die den «Geist von Bandung» ausmachten.
Zu dieser Zeit unterstützte China aktiv die antiimperialistischen und antikolonialen Bewegungen in Asien und Afrika und beteiligte sich zudem an einer Reihe von Entwicklungsprojekten. Vielleicht weil diese Projekte allmählich ihren ideologischen Anstrich verloren und sich pragmatischer gestalteten, kam es 1971 dazu, dass die Volksrepublik China zu einem der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats gewählt wurde. Der Vorsitzende Mao soll dazu angemerkt haben: «Es sind unsere afrikanischen Brüder, die uns in die UN gebracht haben.» Dieser Verlauf wirft eine weitere Frage auf: Hat sich der Internationalismus in dieser Phase womöglich dahingehend verändert, globale Gerechtigkeit zwischen sich entwickelnden und entwickelten Ländern zu fördern?
1978–heute
In der aktuellen Phase stehen in China die Umsetzung der «Reform- und Öffnungspolitik» und der Aufbau eines Sozialismus chinesischer Couleur im Mittelpunkt. Überzeugt davon, «dass ein von Armut geprägter Sozialismus kein wirklicher Sozialismus ist», brachte die KPCh eine Reihe marktorientierter Reformen unter staatlicher Führung in Gang. Während der ersten Reformperiode in den 1980er und 90er Jahren gestaltete die KPCh die Beziehungen zu ihren langjährigen asiatischen und afrikanischen «Freunden» zunehmend unter ökonomischen Prämissen. Im Zuge seiner Fokussierung auf Wirtschaftswachstum kürzte China einerseits die den «Brüdern» geleisteten Hilfsleistungen, betrachtete sie andererseits aber immer deutlicher als potenzielle Absatzmärkte und als Lieferanten gefragter Rohstoffe.
In der Hoffnung, Teil des globalen Markts zu werden, intensivierte China seine Bemühungen zur Einhaltung der «universellen» Handelsregeln. Im Jahr 1986 ersuchte die VRC zunächst Beitritt zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT), im Jahr 2001 wurde sie als Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) zugelassen – was ihr die Möglichkeit eröffnete, sich stärker in den Welthandel einzubringen und vor allem auf Auslandsmärkten nach Kapital, Ressourcen und Technologien Ausschau zu halten. Die im Jahr 2000 vom 9. Nationalen Volkskongress verabschiedete «Go-Out-Politik» war fortan maßgeblich für die staatliche Wirtschaftsausrichtung. Doch anstatt den überwiegend von entwickelten Ländern entworfenen «universellen Spielregeln» brav zu folgen, ging China dazu über, aktiv die Rolle einer «wachsenden Macht» zu spielen, indem es seine Einflusssphäre nicht nur in rein ökonomischer Hinsicht erweiterte. Neben dem Aufbau der Belt and Road Initiative sowie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit und der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank hat sich China dazu verpflichtet, mehr Verantwortung im Umgang mit dem Klimawandel zu übernehmen. Das auf dem 19. Parteitag der KPCh im Jahr 2017 vorgeschlagene Bild von der «Schicksalsgemeinschaft der Menschheit» stellt so gesehen einen neu ausgerichteten Internationalismus dar.
Blick in die Zukunft
Ist Chinas Außenpolitik Teil eines internationalistischen Diskurses und dient ihr der Internationalismus als ideologischer Rahmen? Obwohl der Westen die Außenpolitik Chinas als rein pragmatisch und von nationalen Interessen und wirtschaftlichem Kalkül geleitet betrachtet, haben Forscher*innen und Parteimitglieder innerhalb Chinas argumentiert, dass die «Go-Out-Politik» im Grunde einer neuen internationalistischen Vision gleichkommt.
Der Aufstieg des Nationalismus und die Zersplitterung der Arbeiterklasse haben stets eine Herausforderung für den Internationalismus dargestellt, der auf der vereinigten Solidarität des Weltproletariats basiert und das Ziel verfolgt, die Menschheit von Ausbeutung zu befreien. Auf seinem Weg von der armen, unterdrückten Nation zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt hat sich China – und vor allem die KPCh als führende Partei des Landes – im Umgang mit Widersprüchen oder Herausforderungen intensiv mit sich wandelnden Haltungen zum Nationalismus und Internationalismus beschäftigt. Der von der KPCh verkündete «chinesische Entwicklungspfad» hat entscheidende Fragen zum Verhältnis Staatsmacht und Internationalismus aufgeworfen: Wie können Staaten zwischen Internationalismus und ausländischen nationalen Interessen unterscheiden? Woraus genau resultieren die Widersprüche zwischen Nationalismus und Internationalismus? Und überdies: Wie kann das Proletariat – wenn es die Macht erlangt hat – Internationalismus praktizieren?
Auf diese Fragen gibt es keine klaren Antworten – vielmehr müssen wir sie in China und anderen Teilen der Welt immer wieder aufs Neue stellen und nach Lösungen suchen. Dennoch können wir aus Chinas Erfahrung zumindest diese eine Lehre ziehen: Den statischen, übergeschichtlichen Internationalismus gibt es nicht, sondern stattdessen einen unablässigen Prozess der Neuauslegung und Neuverhandlung, bei dem auf der einen Seite die Bedürfnisse einzelner Länder auf ihrem jeweiligen Entwicklungspfad stehen und auf der anderen Seite die Bedürfnisse einer internationalistischen sozialistischen Bewegung als gemeinsames politisches Projekt zu einer gemeinsamen internationalen Zukunft.