Bericht | Osteuropa - Corona-Krise Angespannte Ruhe

In Moskau läuft das Leben derzeit noch normaler als in westlichen Hauptstädten.

Frau mit Atemmaske spiegelt sich in einer Fensterscheibe, Moskauer Metro, 24.3.2020
In der Moskauer Metro, 24.3.2020 picture alliance/Valeriy Melnikov/Sputnik/dpa

Es heißt, Moskau schläft nie. Derzeit aber sind Straßen, Läden und Cafés so leer, wie sonst nur sehr spät abends. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe melden bei Metro, Bus, O-Bus und Tram für die letzten Tage einen Rückgang der Passagierzahlen von vierzig Prozent. Auf den Straßen bemerkt man an den Leuten konzentrierte Anspannung, aber kaum Anzeichen größerer Unruhe oder Panik. Mehr Krankenwagen als sonst und Fahrzeuge mit Notsignal sind auf den Busspuren unterwegs. Menschen mit Atemschutzmasken im Straßenbild nehmen zu. Fakt ist, nicht alle Apotheken haben die Masken ständig vorrätig. Jedoch sind Desinfektionsmittel und -tücher in unserem kleinen Haushaltswarenladen um die Ecke ausreichend da, auch Gummihandschuhe. Dass ausgerechnet die berühmte Grétschka (Buchweizen-Graupen) nicht mehr überall zu bekommen ist, kommentieren die Moskauer*innen selbstironisch als «archaischen Reflex».

Kerstin Kaiser leistet das Auslandsbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau.

Mit den Nachrichten über die sich entwickelnde Corona-Pandemie wurde in den letzten Wochen über alle Medien zur Krankheit selbst und mögliche Prävention aufgeklärt. In den öffentlichen und sozialen Medien laufen kritische und widersprüchliche Debatten zur Glaubwürdigkeit offizieller Information, zur Notwendigkeit oder Wirksamkeit des Krisenmanagements. Mutmaßungen über die angebliche Vorbereitung des Ausnahmezustandes werden offiziell dementiert. Das föderationsweite Referendum zur Verfassungsänderung am 22. April ist noch nicht endgültig beschlossen, soll jedoch in Moskau digital durchgezogen werden.

Aber der Reihe nach:

Möglicherweise gerade noch rechtzeitig am 5. März verordnete Moskaus Oberbürgermeister Sobjanin der Stadtverwaltung, den Krankenhäusern, Ambulanzen, dem Brand- und Katastrophenschutz sowie dem Öffentlichen Hygiene- und Gesundheitsdienst den höchsten Alarm- und Bereitschaftsmodus. Der «Ukas Nr. 12» trägt den Titel: «Über die Einführung des erhöhten Bereitschafts-Regimes», er wurde seither durch vier Erlasse erweitert und aktualisiert. Dabei gelten zwei Prämissen: den Kontakt der Bevölkerung mit infizierten und erkrankten Personen maximal einzuschränken und die medizinische Überwachung und Versorgung zu sichern.

Seit dem 5. März also müssen sich ausnahmslos alle Personen, die aus Corona-infektionsgefährdeten Gebieten (wie u.a. China, Südkorea, Italien, Deutschland und Frankreich) einreisen, registrieren lassen und in zweiwöchige häusliche Quarantäne begeben, was auch für ihre mitwohnenden Familienmitglieder gilt.

All die Personen, die potentiell mit dem Corona-Virus in Kontakt gekommen oder bereits daran erkrankt sein könnten, Personen mit Fieber und Grippe-Symptomen haben sich über eine Hotline zu melden und die Anweisungen der Sanitätsärzte zu befolgen. Eine Ambulanz aufzusuchen ist ihnen untersagt.

Infolge dessen hatten Betriebe, Einrichtungen, Banken und Verwaltungen auch all ihre nach Auslandsreisen potentiell gefährdeten Mitarbeiter*innen bereits Anfang März radikal in die Zwangsquarantäne geschickt. Offiziell verordnet wurde ihnen dies erst am 14. März. Auch manch wichtiger Politiker oder gut betuchter Manager wurde so «Homeoffice-Opfer» der Urlaubsreise seiner Ehefrau und Kinder. Die Betriebe und Einrichtungen haben in dem Fall ihre Räume zu desinfizieren und entsprechend nötige Mittel zur Verfügung zu stellen. Auch muss täglich Fieber gemessen werden, Personen mit erhöhter Temperatur sind vom Arbeitsplatz zu verweisen.

Bereits mit dieser Verordnung war festgelegt, dass medizinisch hilfebedürftige und allgemein erkrankte Über-Sechzigjährige sich telefonisch bei Ärzten oder dem Notfalldienst melden und dann grundsätzlich Hausbesuch erhalten sollten. Das medizinische Personal, das Patienten mit Atemwegssymptomen behandeln, betreuen und erfassen soll, wird seither durch alle verfügbaren zusätzlichen Fachkräfte unterstützt, u.a. auch durch Auszubildende und Studierende.

Seit dem 14. März sind alle positiv auf den CoV19 getesteten Personen und Erkrankte isoliert zu behandeln bzw. unter Beobachtung durch medizinisches Personal zu stellen. Der Besuch von Kindergärten, Schulen und allgemeinen Bildungseinrichtungen wurde freigestellt und speziell geregelt. Die Bevölkerung muss in jeder Form und über alle möglichen Kanäle – Briefkästen, Radio und Fernsehen, Zeitungen und Internet - über das Dekret Nr. 12 informiert werden.

Seit 16. März bis zunächst 10. April sind in Moskau alle Theater, Konzertsäle und Kinos, Ausstellungs- und Freizeitzentren geschlossen. Dies traf nicht nur auf Zustimmung, wurde aber ruhig aufgenommen und konsequent durchgeführt. Auch öffentliche Sport-, Kultur- und Bildungsmaßnahmen sind eingestellt, nicht mehr als fünfzig Personen dürfen sich gleichzeitig in den Räumen eines Gebäudes befinden.

Am 19.März wurden die Bestimmungen über die Schließung aller Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen konkretisiert. Für die Klassenstufen 1 bis 4 der Schulen wird Kindern berufstätiger Eltern eine Notbetreuung angeboten, wobei nicht mehr als zwölf Kinder nach strengen Hygiene- und Gesundheitsschutzregeln in einer Gruppe betreut werden dürfen.  Nebenbei bemerkt:  In Moskau schließen fast alljährlich Kindergärten und Schulen jeweils für mindestens 14 Tage, wenn eine Grippewelle anrollt und eine bestimmte Zahl von Kindern in der Einrichtung erkrankt sind. Es gibt also entsprechende Erfahrungen in den Familien und Routinen in den Abläufen, was nicht heißt, das alles klappt oder problemlos zu bewältigen ist. Schwieriger zu akzeptieren ist der sozial empfohlene Abstand zur Großelterngeneration in einem Land, in dem Oma und Opa überall unverzichtbarer Teil der Kinderbetreuung sind.

Zuletzt wandte sich Sobjanin am 23. März mit einem Offenen Brief an die Bevölkerung über 65 Jahre und deren Familien, in dem er darum bat, dass alle Senior*innen sowie chronisch Kranke, vom 26. März bis 14. April nach Möglichkeit in ihren Wohnungen bleiben oder auf ihre Datschas fahren sollten. Diese «Bitte» wird allerdings durch Dekrete flankiert und rigoros durchgesetzt: Noch arbeitende Personen sind durch die Arbeitgeber im Homeoffice zu beschäftigen oder bezahlt freizustellen. Medizinische Behandlungen müssen zu Hause erfolgen. Telefon- und Internetanbietern sowie Kommunalen Diensten ist es untersagt, bei nicht bezahlten Mieten und Rechnungen die Versorgung einzustellen oder Verzugszinsen zu erheben. Für den notwendigen Mehraufwand erhalten alle von Selbstisolation betroffene eine einmalige Aufwandspauschale von 4.000 Rubel (etwas über 50 Euro). Einkaufen zur Selbstversorgung in Läden und Apotheken ist erlaubt.

Alle öffentlichen Verwaltungen und Behörden befinden sich -  im Rahmen ihrer Zuständigkeit – ununterbrochen im Bereitschafts-Modus. Das Rating der Staatsmacht in Moskau und ganz Russland steht und fällt mit ihrem Krisenmanagement und den noch nicht voraussehbaren Folgen für die Bewohner*innen, für Gesellschaft und Wirtschaft.

Einerseits hat es also den Anschein, als liefe das Leben in Moskau - im Großen und Ganzen - bisher zumindest normaler als in den westlichen Hauptstädten. Und das, obwohl tatsächlich erstmals seit jenem Herbst 1941, als die deutsche Wehrmacht an die Stadtgrenzen Moskau herangerückt waren, Theater und Kinos geschlossen sind. Scheinbar unbeeindruckt baut die Moskauer Regierung gleichzeitig  große Infrastrukturprojekte  weiter und lässt sechs neue Metro-Stationen im Südosten an der Großen Ringlinie - wie lange geplant - am 26. März 2020 eröffnen. Diese neue, rosarot markierte Strecke soll die ÖPNV-Anbindung für Millionen Menschen erleichtern, die gerade jetzt aber ironischerweise zum großen Teil aufgerufen sind, ihre Wohnungen nicht zu verlassen.

Russlands Besonderheit beruht wohl auf der Weite seines Territoriums, die Entfernungen und Quarantänemaßnahmen für die Menschen anders denk- und vorstellbar macht. Im Unterschied zur dicht besiedelten und eng vernetzten EU ist die Infektionsgefahr in den entfernteren Städten Russlands wahrscheinlich deutlich geringer.

Tschetschenien ist die erste und bisher einzige Region der Föderation, in der auch Restaurants und Gaststätten per Dekret des Präsidenten Kadyrow geschlossen wurden. In Moskau waschen sich die Menschen bisher bei Eintritt in Lokale lediglich die Hände, der Abstand zwischen den Tischen wurde vergrößert.

Andererseits, in einer Megapolis wie Moskau ist die Bedrohung sehr real. Viele Einwohner*innen fürchten jedoch derzeit weniger das Virus selbst, wohl aber nicht ausreichende Kapazitäten der Krankenhäuser im Falle einer Masseninfektion und die defizitäre öffentliche Gesundheits-Infrastruktur.  Dass eine Spezial-Klinik für Corona-Virus-Patienten am Rande Moskaus derzeit in höchster Eile errichtet wird, zeugt von der Unsicherheit der Behörden angesichts des noch unklaren Ausmaßes der Ansteckungen und von ihrem Zweifel, ob die öffentlichen Behandlungsressourcen dann ausreichend sind.

Außerdem: Zeitgleich mit der Infektionswelle schlägt auf Russland die Erdölpreis-Krise ein, der Rubel fällt, die Leute sind auch darüber beunruhigt. Fakt ist außerdem, dass das staatliche Sozialsystem Leuten ohne bezahlte Beschäftigung keine Hilfe bietet. Auch mittlere und kleinere Unternehmen sind nicht geschützt. Da die Unterstützung aus der Arbeitslosenversicherung – wo vorhanden – so minimal ist, zahlt kaum jemand ein, nur wenige Arbeitslose können also jetzt auf diese Möglichkeit zurückgreifen. Allerdings läuft auch in Russland die politische Debatte über kurzfristig mögliche Hilfs- und Kompensationsmaßnahmen an.

Zu guter Letzt: Behauptungen, wonach in Russland leichtsinnig oder verantwortungslos mit dem Thema Corona und deren möglichen Folgen umgegangen würde, scheinen eher aus der Luft gegriffen. Im sozialen Umfeld, Kollegen-, Partner- und Bekanntenkreis des RLS-Büros werden Erlasse kritisch debattiert, aber befolgt. Man erwartet eher klare, pragmatische Maßnahmen der Regierenden, die aufklärend und beruhigend auf Situation und Stimmung einwirken. Mehr oder weniger misstrauisch wird erwartet, ob und inwieweit digitale Kontrollmaßnahmen zur Durchsetzung des «Ukas Nr.12» ff. eingesetzt werden, sprich: die inzwischen breit ausgebaute Kameraüberwachung sowie Ortung von Mobiltelefonen.

Dass man im Leben immer auf alles vorbereitet sein, für sich und die Angehörigen sorgen muss, weil «von oben» meist keine Hilfe kommt, ist hierzulande die skeptische wie traurige, gleichzeitig Selbstvertrauen schaffende Grundannahme.

Zu solcherart relativer Ruhe und Selbstdisziplin meint aktuell der Moskauer Carnegie-Kolumnist Alexander Baunow: «Manche sehen darin einen weiteren Beweis für die Stärke Russlands und die Schwäche des Westens, Andere – Selbstbetrug und verbrecherische Fahrlässigkeit der Behörden, die unbedingt zur Tragödie führt, und sie fordern strengste Quarantäne, wie in den meisten Staaten Europas. Für mehrere Generationen ist die Lage in Russland erstmals besser als in entwickelten Ländern, während das (historisch -KK) gewohnte Szenario – im Schreckensfall in einem normalen Land Zuflucht zu finden – nicht mehr gültig ist: Der Schrecken ist überall und Asyl wird nicht gewährt.»


Redaktionsschluss: 24.3.2020