Ungläubigkeit, Entsetzen, Verwunderung – wenn dieser Tage in den vietnamesischen Nachrichten über Europas Umgang mit der Covid-19-Pandemie berichtet wird, verstehen viele buchstäblich die Welt nicht mehr. Kommentare auf Facebook und in persönlichen Gesprächen haben einen veränderten Grundtenor: «Ich dachte, Europa sei zivilisiert und weiterentwickelt», «Aber Europa ist doch reich und Vietnam arm, warum kriegen sie es nicht hin?», «Warum lässt Europa seine Menschen sterben?». Das vorhandene Europabild in der vietnamesischen Bevölkerung bröckelt und mit ihm die Wahrnehmung, was «zivilisiert», «reich» und «entwickelt» eigentlich bedeutet.
Julia Behrens promoviert in Südostasienwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Ihre Schwerpunkte sind Umweltnarrative, Macht und Gender. Sie ist Mitbegründerin des sozialen Unternehmens VLab Berlin und lebt derzeit in Hanoi.
Philip Degenhardt leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Südostasien mit Sitz in Hanoi. Das Regionalbüro koordiniert Projekte in Vietnam, Kambodscha, Laos und Myanmar.
Als Vietnam mit den ersten Fällen in der Corona-Krise zu kämpfen hatte, wussten viele Menschen in Europa noch gar nicht, dass Corona mehr als eine Biermarke ist. Der Kampf gegen die Corona-Krise begann in Vietnam nach dem vietnamesischen Neujahrsfest Ende Januar, als landesweit aufgrund der Nachrichten aus dem Nachbarland China die Schulen und Universitäten geschlossen blieben. Der vietnamesische Staat reagierte sofort als erste Menschen positiv auf Covid-19 getestet wurden und isolierte die Gemeinden, in denen das Virus auftrat. Die gemeinsame Grenze nach China wurde geschlossen und die ersten Rückkehrenden mussten sich in häusliche Quarantäne begeben. Knapp drei Wochen danach traten keine neuen Fälle mehr auf. Bis «Fall #17», eine Vietnamesin, die die Fashionweek in Italien besuchte, die zweite Welle der Infektionen einläutete. Vietnam zieht die angefangene Linie weiter durch: Quarantäne von Menschen, die bis zum 4. Grad Kontakt mit einer infizierten Person hatten, Schulen und Universitäten bleiben weiter geschlossen. Vietnam hat aus vergangenen Krisen, wie der SARS-Epidemie, gelernt.
Derweil steht das öffentliche Leben in Europa still. Die Lage ist so drastisch, dass Italien abwägen muss, welche Patienten behandelt werden können und welche nicht. In Deutschland fehlt es an Atemmasken, in Großbritannien an Schutzkleidung für medizinisches Personal, in den USA an Beatmungsgeräten und vielem mehr. Bilder von leeren Supermärkten und Menschen, die Toilettenpapier hamstern bebildern in den südostasiatischen Medien die Nachrichten. Es scheint schwer zu verstehen, wie es in den Supermärkten und auf den Märkten Vietnams an nichts fehlt, nicht einmal an Desinfektionsmitteln und Atemschutzmasken. Einige Stimmen machen das autoritäre Vorgehen des vietnamesischen Staates dafür verantwortlich. Sicherlich stimmt es, dass das Aufspüren von möglicherweise infizierten Personen aufgrund eines geringen bis nicht vorhandenen Datenschutzes in Vietnam um ein vieles einfacherer funktioniert.
Doch liegt eine weitere Ursache dafür auch im sozial-politischen Eigenverständnis der westlichen Welt. Die momentane Krise zeigt einmal mehr, wie unbrauchbar und gefährlich das Konzept von Entwicklung ist. Der «entwickelte Westen» gegen den «unterentwickelten Rest» ist ein Bild, das schädlich für beide Seiten in dem künstlich geschaffenen Gegensatz ist.
Die Überheblichkeit in Europa und Nordamerika, mit der eigenen Entwicklung sich nicht zu sehr um ein Virus kümmern zu müssen, vor dem China schon früh gewarnt hat, hat u.a. dazu geführt, dass politische Entscheidungstragende wertvolle Zeit in der Vorbereitung auf die kommende Krise verstreichen haben lassen. Am 31. Dezember 2019 warnte China zum ersten Mal vor dem, was da kommen sollte. Trotzdem dachte niemand daran, Krankenhäuser nachzurüsten, die Produktion von Schutzkleidung und Atemmasken hochzufahren oder das öffentliche einzuschränken, um Risikogruppen und das öffentliche Leben zu schützen.
Ein Blick in die USA zeigt außerdem, wie groß die Lücke zwischen Wahrnehmung und Realität in Sachen «Entwicklung» ist. Das Gesundheitssystem dort droht zusammenzubrechen, fehlende Gesundheitsversorgung für alle sowie die Privatisierung und Neoliberalisierung des Gesundheitssektors haben Kapazitäten für den Krisenfall kaputt gemacht. Sowohl Privatisierung als auch Wirtschaftsliberalisierung sind oft Bedingungen, mit denen Kreditvergabe in der Entwicklungshilfe verknüpft sind. Länder im Globalen Süden sollen sich denen im Globalen Norden anpassen, sich zu ihnen hin entwickeln. Doch wofür? Mittlerweile fordern Stimmen aus dem US-Senat, nicht mit allen Mitteln gegen die Pandemie vorzugehen, um die Börse zu retten, auch, wenn dafür Menschen sterben müssen. Menschen mit einer vietnamesischen oder taiwanesischen Migrationsgeschichte machen sich derweilen auf den Weg zurück in die alte Heimat, weil es ihnen dort momentan sicherer erscheint. Was für ein Entwicklungsmodell soll das sein?
«Wir- statt Ich-denken»
Ein technokratisches und kapitalistisches, in dem der Wert einer Gesellschaft ausschließlich an Leistungsfähigkeit bemessen wird. Kulturelle, historische und soziale Faktoren werden außer Acht gelassen. Eben jene Faktoren erweisen sich aber in der aktuellen Lage als wichtig. Solidarität, Kooperation, Wir- statt Ich-denken sind Werte, die Hamsterkäufe verhindern und eine schnelle Antwort auf die Krise möglich machen. Je schneller und einheitlicher sich an Auflagen zur Eindämmung der Pandemie gehalten wird, desto mehr Leben können gerettet werden. Generell ist Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit wichtig, um die Resilienz einer Gesellschaft stärken zu können. Da dies nicht die letzte Krise globalen Ausmaßes in der nahen Zukunft gewesen sein wird, tritt hoffentlich der Lerneffekt ein, dass das Bemessen eines Landes am Bruttoinlandsprodukt nicht viel aussagt.
In Vietnam dämmert es einigen, dass die konstruierten Schubladen um den Begriff der «Entwicklung» herum keine unanfechtbare Wahrheit sind. Dass das positive Bild gegenüber dem Westen und seinen, im vietnamesischen Kontext vor allem weißen, Bürger*innen bröckelt hat auch unschöne Folgen. Immer mehr Menschen, die dem europäisch aussehenden Stereotyp entsprechen, werden in Vietnam verbal attackiert. Vereinzelte Restaurants und Läden sprechen Verbote für ausländische Gäste aus, Hotels weisen ausländische Tourist*innen ab und es kommt zu verbalen Auseinandersetzungen, sobald sich eine weiße Person den Vorschriften widersetzt und sich beispielsweise ohne Atemmaske im öffentlichen Raum aufhält. Betroffene sind empört und reflektieren dabei nicht, dass asiatisch-gelesene Menschen in Europa schon länger mit diesen Problemen zu kämpfen haben, obwohl sie sogar in Europa geboren und aufgewachsen sind. Darüber hinaus merken sie nicht, dass wieder ihre eigene Überheblichkeit die feindlichen Reaktionen mit auslösen. Trotz Verordnung keine Atemmaske zu tragen, weil man es ja aus den eigenen Medien besser weiß, ist respektlos und letzten Endes auch Rassismus.
Es wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um im Home Office über das Konzept der «Entwicklung» nachzudenken. Darüber, was es eigentlich bedeutet, entwickelt zu sein und woher diese Definition kommt. Die Kritik am Entwicklungskonzept und der damit verbundenen Politik der Entwicklungshilfe ist keineswegs neu. Beispielsweise argumentierte Arturo Escobar in seinem 1995 veröffentlichen Buch «Encountering Development», wie «Entwicklung» koloniale Machtstrukturen und Abhängigkeiten im neuen Gewand reproduziert. Dazu gehört unter anderem die Festlegung, was das Ziel und der Modus dieser Entwicklung sind. Hauptaugenmerk lag dabei schon immer auf ökonomischen Wachstum nach kapitalistischen Prinzipien der Wertschöpfung. Maßnahmen, die nach den Paradigmen umgesetzt wurden, zerstörten nachweislich soziale und kulturelle Strukturen überall auf der Welt. Was «Entwicklung» bis heute nicht geschafft hat, ist: soziale Ungleichheiten zu beseitigen, sie werden sogar noch verstärkt. Nicht im Globalen Süden und auch nicht innerhalb Deutschlands, Europas, global.
Denn gerade innerhalb angeblich entwickelter Länder wird deutlich, dass nicht alle von wirtschaftlichem Wohlstand profitieren und nun auf der Strecke bleiben. Benachteiligte Gruppen wie Illegalisierte, Obdachlose, prekär Beschäftigte, Frauen: für sie alle wird diese Krise viel weitreichendere Folgen haben als für Menschen mit finanziellen Rücklagen, Eigenheim und besserem Zugang zum Gesundheitssystem.
In einem Moment der Krise, in dem viele Strukturen durch reine Notwendigkeit hinterfragt werden müssen, wäre es folgerichtig angebracht, gemeinsam zu überlegen, wie Resilienz gestärkt werden und soziale Ungleichheit auf verschiedensten Ebenen beseitigt werden kann. Das bedeutet eben auch, neu zu definieren, wohin wir uns denn eigentlich mit einer drohenden Klimakrise bewegen wollen.