Um der Verbreitung von Covid-19 keinen Vorschub zu leisten stellt Algeriens Opposition nach 57 Wochen ununterbrochener Massenmobilisierung ihre allwöchentlichen Proteste vorerst ein.
Die Corona-Pandemie droht Algerien hart zu treffen, ist das marode öffentliche Gesundheitswesen im Land doch nicht annähernd auf eine Krise solchen Ausmaßes vorbereitet und bereits jetzt heillos überfordert. Die Staatsführung instrumentalisiert das vorläufige Ende der Protestwelle dabei gezielt für politische Zwecke und verschärft im Windschatten des gesundheitspolitischen Notstandes ihr Vorgehen gegen Opposition und freie Presse. Die Repressalien werden der Protestbewegung jedoch mittelfristig keineswegs den Wind aus den Segeln nehmen – im Gegenteil. Denn sollte die Corona-Krise in Algerien tatsächlich im Desaster enden, dürften die Demonstrationen früher oder später umso heftiger wieder aufflammen.
Sofian Philip Naceur lebt und arbeitet als freier Journalist in Tunis. Für die junge Welt, den Standard und andere Medien berichtet er aus Ägypten, Algerien und Tunesien sowie zu Migrationsbewegungen in Nordafrika und der EU-Grenzauslagerungspolitik in der Region.
Eigentlich wäre der oppositionelle Linkspolitiker Karim Tabbou nach dem Absitzen seiner sechsmonatigen Haftstrafe Ende März aus dem Gefängnis entlassen worden. Doch ein Gericht in Algier verurteilte den Koordinator der offiziell nicht anerkannten linken Kleinstpartei Union Démocratique et Sociale (UDS, Demokratisch-Soziale Union) zwei Tage vor seiner bevorstehenden Freilassung in einem kontroversen Berufungsprozess zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 50000 Dinar (umgerechnet 370 Euro). Unzählige algerische und internationale Menschenrechtsgruppen verurteilten das Verfahren auf das Schärfste, begann es doch in Abwesenheit von Tabbous Anwälten, die über die Ansetzung der Anhörung ebenso wenig informiert worden waren wie er selbst.
Die Reaktionen auf die Umstände des Verfahrens waren vernichtend. Algeriens Opposition sprach von einem «Justizskandal» und einer «schwerwiegenden Rechtsverletzung». Der Vizepräsident der Ligue Algérienne pour la Défense des Droits de l‘Homme (LADDH, Algerische Liga zur Verteidigung der Menschenrechte), Saïd Salhi, bezeichnete das Urteil als «schweren Präzedenzfall», der zeige, dass es «Algeriens Justizsystem nicht geschafft habe, sich aus dem Griff der Exekutive zu befreien.» Auch Amnesty International und Abgeordnete des EU-Parlaments kritisierten Tabbous Verurteilung und forderten seine unverzügliche Freilassung. Mehrere Anwaltsverbände im Land gingen nach dem Prozess rhetorisch auf die Barrikaden. Der Verbund in Algier stellte gar die Koordination mit den Justiz- und Verwaltungsbehörden auf unbestimmte Zeit ein und rief andere Lokalverbände dazu auf, es ihm gleich zu tun. Der in den Reihen der Protestbewegung – im Land meist «Hirak» (Arabisch für «Bewegung») genannt – äußerst populäre Tabbou war im September 2019 verhaftet worden nachdem er in sozialen Netzwerken die aktive Rolle des Militärs in der Politik kritisiert hatte. Offiziell verantworten musste er sich wegen «Anstiftung zur Gewalt» und «Gefährdung der nationalen Sicherheit».
Regierungskritische Presse im Visier der Behörden
Tabbous Verurteilung war dabei nur der Anfang einer neuerlichen Welle an staatlichen Repressalien und Einschüchterungsversuchen gegen Regierungskritiker*innen. Nur einen Tag nach dem Prozess gegen Tabbou erließ ein Gericht in Algier Haftbefehl gegen den Journalisten und Mitbegründer der Internetzeitung Casbah Tribune, Khaled Drareni. Der Korrespondent des französischen TV-Kanals TV5 Monde und der NGO Reporter Ohne Grenzen (RSF) stellte sich wenige Tage später den Behörden und sitzt seither hinter Gittern. Drareni ist einer der prominentesten Report*innen des Landes, gilt als eine der wichtigsten Stimmen des Hirak und war im letzten Jahr im Rahmen von Demonstrationen bereits unzählige Male verhaftet worden, jedoch immer nach wenigen Stunden in Polizeigewahrsam wieder entlassen worden – unbehelligt von der Justiz. Bis Anfang März – damals verbrachte er mehrere Tage auf einer Polizeiwache nachdem er am Rande einer Demonstration verhaftet worden war. Die Justiz leitete Ermittlungen ein.
RSF, die LADDH und unzählige weitere Menschenrechtsgruppen riefen zu Drarenis sofortiger Freilassung und dem Fallenlassen sämtlicher Anklagepunkte gegen den jungen Journalisten auf, dem «Anstiftung zu einer unbewaffneten Versammlung» und «Angriff auf die nationale Einheit» vorgeworfen wird. Dabei ist er nicht der einzige Reporter, der im Rahmen von Hirak-Protesten verhaftet wurde und hinter Schloss und Riegel sitzt. Neben Sofiane Merakchi – freier Journalist für die TV-Kanal France24 und den libanesischen Sender Al-Mayadeen – sind derzeit mindestens zwei weitere Reporter*innen in Algerien inhaftiert. Anfang April wurden zudem drei Mitarbeiter*innen der Zeitung Essawat Al-Akhar unter richterliche Kontrolle gestellt nachdem sie über die angeblich fehlerhafte Erfassung von Covid-19-Tests im Land berichtet hatten.
Während angesichts der zunehmend ansteigenden Zahlen amtlich bestätigter Corona-Fälle die Einschränkungen im öffentlichen Leben sukzessive ausgeweitet werden und weite Teile der staatlichen Verwaltung praktisch still stehen, gehen Strafverfolgungsbehörden und Justiz weiter gegen Protestbewegung und Opposition vor. «Die Repression wird bei uns offenbar nicht eingeschränkt», so der sarkastische Kommentar eines Aktivisten gegenüber der französischen Zeitung Le Point. Dutzende Hirak-Aktivist*innen seien seit dem Aussetzen der allwöchentlichen Freitagsproteste Mitte März von der Juristischen Polizei – einer der mächtigsten Innenbehörden im Land – vorgeladen worden und von dieser über ihre politischen Aktivitäten und Mitgliedschaften in politischen Parteien ausgefragt worden, berichtet das Medienportal Maghreb Emergent.
Drohende Diskreditierung – Hirak setzt Proteste aus
Von der bereits seit Februar 2019 gegen Algeriens Staatsklasse und für einen echten politischen Wandel landesweit mobilisierenden Protestbewegung werden das Urteil gegen Tabbou und die jüngsten Verhaftungen und Vorladungen zwar als Provokation bewertet. Aber der Bewegung sind die Hände gebunden, hat sie doch angesichts der Covid-19-Pandemie ihre allwöchentlichen Demonstrationen eingestellt und damit ihr mit Abstand wirkungsvollstes Druckmittel gegen das Regime auf Eis gelegt – zumindest vorerst. Erstmals seit 57 Wochen ununterbrochener Dauerproteste herrscht daher seit Mitte März gähnende Leere auf Algeriens Straßen.
Die Bewegung hatte sich dabei zu Beginn der Pandemie mit einer klaren Linie schwer getan und nur zögerlich auf die Covid-19-Krise reagiert. Ende Februar hatten die Behörden die erste Infektion mit dem Virus im Land bestätigt, doch der Hirak mobilisierte munter weiter und nahm die heraufziehende Bedrohung zunächst mit offen zur Schau getragenem Sarkasmus zur Kenntnis. «Weder der Corona-Virus noch die Cholera wird uns stoppen, wir werden unsere Freiheit erlangen, koste es was es wolle» oder «Der Corona-Virus macht uns keine Angst, wir sind im Elend aufgewachsen» hallte es noch am 13. März lautstark durch die Straßen Algiers. Kurz darauf aber stiegen die amtlich bestätigten Infektionsfälle im Land massiv an. Innerhalb der führungslosen Bewegung verschaffte diese Entwicklung schließlich jenen zunehmend Gehör, die eindringlich vor den gesundheitspolitischen Gefahren der Pandemie warnten und für eine sofortige Protestpause plädierten.
Die Demonstrationen einzustellen sei dabei keinesfalls eine Niederlage, hieß es etwa bei der Hirak und Opposition nahe stehenden Internetplattform Radio M. Den erkämpften öffentlichen Raum werde man nicht aufgeben, sondern ihn sich wieder aneignen. Heute jedoch müsse man die Ausbreitung des Virus verhindern, so das Medium in einem kurz nach den letzten Freitagsprotesten erschienenen Leitartikel. Andere Stimmen warnten derweil davor, der Staatsführung mit einem Fortsetzen der Proteste eine Steilvorlage für Diskreditierungsversuche zu geben. Die Regierung werde früher oder später versuchen die Krise zu instrumentalisieren und dem Hirak vorwerfen, mit der andauernden Mobilisierung auf den Straßen der Verbreitung von Covid-19 im Land Vorschub zu leisten, hieß es immer wieder in den Reihen der Bewegung.
Regierungsappelle mit Hintergedanken
In der Tat äußerten sich Regierungsoffizielle und Vertreter*innen der herrschenden Klasse im März zunehmend zu den Gefahren, die dicht gedrängte Menschenansammlungen in der Öffentlichkeit in Sachen Verbreitung von Covid-19 mit sich bringen können. «Die Aufrufe der Regierung die Proteste einzustellen sind nicht durch gesundheitliche Bedenken motiviert so wie in den USA, Frankreich oder anderswo», erklärte der Aktivist Riad Kacem gegenüber dem panarabischen TV-Sender Al Jazeera. Algeriens Regime wolle die Gelegenheit nutzen, der Protestbewegung die Luft abzudrehen und ihr endgültig ein Ende bereiten, meint er. Das Spektrum der Aufrufe reichte dabei von wenig zurückhaltenden Frontalattacken gegen den Hirak bis hin zu eher sanften Appellen an die Vernunft der algerischen Jugend. Premierminister Abdelaziz Djerrad rief die Bewegung in diesem Sinne sogar fast handzahm zur Kooperation auf. «Die Regierung wird diesen Moment nicht politisch instrumentalisieren, aber es geht um eure Gesundheit und eurer Leben», so der seit Ende Dezember amtierende Regierungschef.
Kurz zuvor hatten die Behörden endlich entschlossener reagiert. Schulen, Universitäten, Moscheen und Gastronomiebetriebe sind inzwischen in fast allen Provinzen komplett geschlossen, die Landesgrenzen abgeriegelt und der internationale Fähr- und Flugverkehr praktisch eingestellt. Nach Bekanntwerden der ersten Corona-Infektionen im Land Ende Februar hatten die Behörden zunächst noch abwartend reagiert, konzentrierten sich die bestätigten Fälle doch zu Beginn fast ausschließlich auf die Provinz Blida südlich von Algier. Erst nachdem auch in zahlreichen anderen Regionen im Land Menschen positiv getestet worden waren, schaltete die Regierung langsam aber sicher auf Krisenmodus um und fährt das Land seither in kleinen Schritten sukzessive herunter.
Als die Debatte über eine Protestpause innerhalb des Hirak deutlich an Fahrt gewann, erließ der im Dezember in einem umstrittenen und von Manipulationsvorwürfen überschatteten Urnengang neu «gewählte» Staatspräsident Abdelmajid Tebboune am 17. März ein landesweites Verbot von Versammlungen und Demonstrationen – eine Maßnahme die seitens der Protestbewegung mit Argwohn aufgenommen wurde, ist doch unklar, wann und ob sie wieder aufgehoben wird. Eine Woche später verhängte die Regierung über die zwei größten Corona-Cluster im Land – Blida und Algier – nächtliche Ausgangssperren und weitreichende Ausgangsbeschränkungen. Tebboune versuchte zwar lange einen Lockdown des gesamten Landes zu vermeiden, weitete die Ausgangsrestriktionen jedoch graduell auf das gesamte Land aus. Seither gilt in Blida sogar eine 24 stündige Ausgangssperre. Ende März schickte Tebboune zudem die vom Militär kontrollierte und eigentlich in urbanen Gebieten nicht vollzugsberechtigte Gendarmerie auf die Straßen Blidas und Algiers, die hier seither die Einhaltung der Ausgangsbeschränkungen überwachen soll.
Missstände im Gesundheitswesen – Regierung setzte auf Beschwichtigung
Hirak und Staatsführung stecken dabei angesichts des gesundheitspolitischen Notstandes im Land gleichermaßen in einer Zwickmühle. Während die Protestbewegung auf die jüngsten Repressalien nicht mit ihrer gewohnten Massenmobilisierung im öffentlichen Raum reagieren kann und bisher noch keine alternative Protestform gefunden hat, sich wirkungsmächtig zur Wehr zu setzen, hat sich die Staatsklasse ebenso in eine für sie gefährliche und paradoxe Lage hineinmanövriert. Zwar ist der unmittelbare Druck der Proteste auf sie vorerst einer landesweiten Ruhe auf den Straßen gewichen, aber Algeriens Staatsführung muss nun beweisen, dass sie fähig ist, Krisenmanagement und machtpolitisches Kalkül unter einen Hut zu bringen ohne das Land gesundheitspolitisch gegen die Wand zu fahren.
Regierung und Staatsapparat versuchen sich mehr schlecht als recht als Krisenmanager*innen zu inszenieren, doch mit der jüngsten exponentiellen Verschärfung der Lage in den öffentlichen Krankenhäusern erhielten zuletzt bereits allzu gut bekannte Handlungsmuster der Eliten abermals Einzug in Tagespolitik und Regierungsrhetorik. Im Rahmen eines Besuches im Krisenherd Blida Ende März versprach Premierminister Djerrad großspurig ein «starkes nationales Gesundheitssystem aufzubauen sobald die Krise überwunden» sei. Präsident Tebboune erklärte am Folgetag, es seien weiterhin ausreichend ungenutzte materielle, finanzielle und operationelle Kapazitäten vorhanden. Algerien sei «voll und ganz auf die Pandemie vorbereitet», man habe nichts zu verbergen, so der Staatschef. Dass er den Lokalbehörden schon in der Vorwoche untersagte, statistische Angaben zu Covid-19-Entwicklungen zu machen und in Sachen Öffentlichkeitsarbeit alle Kompetenzen bei den zuständigen Ministerien in Algier bündelte, ließ zumindest die Spekulationen darüber munter gedeihen, ob die Staatsführung nicht doch etwas zu verbergen habe. Vertrauenserweckend und transparent agiert die Zentralregierung bisher jedenfalls nicht.
Tebboune, Djerrad und Gesundheitsminister Abderrahmane Benbouzid betonen zudem bereits seit Wochen gebetsmühlenartig, die Versorgung öffentlicher Gesundheitseinrichtungen mit notwendiger Ausrüstung und sanitären Produkten sei sichergestellt – eine Behauptung, die für die Regierung zum Bumerang werden könnte. Denn bereits jetzt mehren sich Berichte über die unzureichende Versorgung von Kliniken in Blida und anderen stark von der Pandemie betroffenen Provinzen mit Schutzmasken, Desinfektionsmitteln oder Beatmungsgeräten.
Das Personal eines Krankenhauses in Blida hatte schon am 22. März eindringlich die Bevölkerung dazu aufgerufen, dringend benötigte Materialien wie Handschuhe oder Desinfektionsmittel zu spenden. Ein Arzt erklärte in einem im Internet veröffentlichen Video, es würden täglich Menschen mit starken Anzeichen auf eine Covid-19-Infektion eingeliefert, doch man könne keine Tests machen, da man keine habe. Patienten könnten nicht aufgenommen werden, da die Klinik bereits völlig überlaufen sei. Am 21. März war das Personal am Krankenhaus Frantz Fanon in Blida sogar in einen stundenlangen Streik getreten, um gegen ebenjenen Mangel an sanitären Materialien zu demonstrieren. Auch Gewerkschaften mobilisieren bereits seit Wochen. Während die Apotheker*innengewerkschaft SNAPO zu Spenden für die unterversorgten Kliniken in Blida aufrief, schlug die Anästhesistengewerkschaft SNAAMARSP schon Mitte März lautstark Alarm und kritisierte die irreführenden Behauptungen der Behörden über die angeblich sichergestellte Versorgungslage der Krankenhäuser. Diese seien entgegen den Äußerungen des Ministers nicht einmal mit einem Minimum an Schutzmasken oder Handschuhen ausgestattet, heißt es in einem an das Gesundheitsministerium gerichteten Brief. Die Äußerungen Benbouzids seien «fehlerhaft» und «übertrieben».
Covid-19 als Katalysator für Algeriens Protestbewegung?
Die sich intensivierende Corona-Krise und die dadurch erneut offensichtlich gewordene Notlage öffentlicher Krankenhäuser könnte für Algeriens Staatsklasse derweil gefährlich werden, wecken sie doch Erinnerungen an die beispiellose Streik- und Protestwelle im staatlichen Gesundheitswesen Ende 2017. Damals waren Ärzt*innen, Pharmazeut*innen und Medizinstudent*innen in zahlreichen Städten monatelang in einer bemerkenswerten Intensität auf Konfrontationskurs mit der Regierung gegangen und hatten nicht etwa höhere Löhne, sondern bessere Arbeitsbedingungen und zusätzliche Mittel für Ausstattung und Alltagsmaterialien gefordert. Der unabhängige Mediziner*innenverband Collectif Autonome Médecins Résidents Algériens (CAMRA, Autonomes Kollektiv ansässiger Mediziner*innen Algeriens) hatte im November 2017 wöchentliche Sit-ins an zahlreichen Kliniken im Land lanciert und im Januar 2018 als Reaktion auf das gewaltsame Eingreifen der Polizei gegen eine Streikversammlung in Algier einen unbefristeten Ausstand initiiert. Im Februar 2018 – genau ein Jahr vor Ausbruch der Massenproteste gegen Algeriens Staatsklasse – versammelten sich nach CAMRAs Aufrufen tausende Menschen im Stadtzentrum Algiers zu einer Protestkundgebung, mit der die Gewerkschaft nicht nur ihren Forderungen Nachdruck verlieh, sondern nebenbei erstmals das seit 2001 in Algier geltende Demonstrationsverbot erfolgreich unterlief.
Die von CAMRA losgetretene Streik- und Protestwelle machte monatelang Schlagzeilen und genoss erhebliche Unterstützung in der Bevölkerung. CAMRA flankierte ihre Proteste dabei mit einer geschickten Öffentlichkeitskampagne, in deren Rahmen Fotos und Videos aus staatlichen Kliniken im gesamten Land in sozialen Netzwerken veröffentlicht wurden, um somit die miserablen Zustände in vielen Einrichtungen zu dokumentieren und Behauptungen der Regierung zu widerlegen, die Lage sei gar nicht so schlimm. Wie die aktuellen Berichte über die eklatante Unterversorgung öffentlicher Kliniken zeigen, ignorierte die Regierung die damaligen Warnungen konsequent und blieb tatenlos. Sollte die Covid-19-Pandemie daher, wie von einigen Stimmen bereits prognostiziert, in einem gesundheitspolitischen Desaster münden, droht die Wut im Land auf Behörden und Regierung abermals hochzukochen.
Die jüngsten Repressalien gegen Oppositionelle, Hirak-Aktivist*innen und die freie Presse dürften zwar Teile der Protestbewegung erfolgreich einschüchtern. Doch ein gesundheitspolitisches Corona-Debakel könnte bisher nicht an Protesten teilnehmende Bevölkerungsschichten früher oder später ebenso auf die Straßen treiben und damit als Katalysator für die Protestbewegung fungieren. Die Verschleierungs- und Beschönigungstaktik von Regierung und herrschender Klasse im Kontext der aktuellen Krise und die Unterversorgung der Kliniken haben das Potential, die Konfrontation zwischen Hirak und Regime erheblich anzuheizen.
Während dem Hirak zwar angesichts der Protestpause derzeit die Hände gebunden sind, mobilisiert die Bewegung im Internet fleißig weiter und ruft über zahlreiche Kanäle inzwischen aktiv dazu auf, den unter der Last der Pandemie ächzenden Krankenhäusern mit Geld- und Sachspenden unter die Arme zu greifen. Die Protestbereitschaft im Land hat dabei keineswegs abgenommen, doch das vorläufige Aussetzen der Demonstrationen ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für den Hirak, dem sich angesichts der Corona-Krise allerdings die Chance eröffnet hat, in neue Bevölkerungsschichten vorzudringen. Angesichts der jüngsten Repressalien gegen die Bewegung, die auch als klare Provokationsversuche der Staatsführung zu verstehen sind, muss der Hirak jedoch aufpassen nicht geradewegs in eine Falle zu laufen. Unmittelbar nach der Verurteilung Karim Tabbous wurde erstmals wieder konkret dazu aufgerufen, gegen die Entscheidung der Justiz auf die Straße zu ziehen. Befolgt wurden die Appelle jedoch nicht. Abzuwarten bleibt jedoch, ob es die Staatsführung in den kommenden Wochen nicht doch schafft, derart viel Öl ins Feuer zu gießen, dass sich der Hirak zu verhängnisvollen Fehlern hinreißen lässt.