Rosa-Luxemburg-Stiftung: Krisenzeiten sind bekanntlich Regierungs- und keine Oppositionszeiten. Worin siehst du die Aufgabe der Linken in der derzeitigen Situation?
Dietmar Bartsch: Wir haben zuerst darauf zu achten, dass möglichst niemand durch das Rost fällt. Das heißt auch, auf die Leerstellen der Regierungspolitik zu schauen. Unser Augenmerk galt deshalb von Beginn an den verschiedenen Leistungsempfängern, den Solo-Selbstständigen, den Menschen mit sehr niedrigen Renten und denen, die mit 60 Prozent Kurzarbeitergeld nicht über die Runden kommen können.
Dietmar Bartsch ist Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag.
Es gab und gibt tatsächlich wieder einige, die Corona als Alibi nutzen wollen, um beispielsweise die Grundrente zu verschieben oder Parlamentsrechte auszuhebeln. Das haben wir verhindert.
Bei den Soforthilfen wurden Lücken geschlossen. Daran, dass die Maßnahmen sich verbessert haben, haben wir einen Anteil, der nicht immer sofort sichtbar ist. Wir waren auch die Fraktion, die als erste dafür eingetreten ist, auf die automatische Diätenerhöhung zu verzichten. Auch die CDU ist dem am Ende gefolgt.
Welche konkreten Themen und Projekte muss die politische und gesellschaftliche Linke jetzt im Blick haben?
Die Corona-Pandemie ist ein beispielloser Einschnitt in Freiheits-, Grund- und Parlamentsrechte. Sie erfordert ein permanentes Abwägen. Sie verlangt zuallererst Solidarität. National und international. Solidarität ist aber nicht der Markenkern unserer politischen Wettbewerber. Es ist deshalb unsere Aufgabe, auf diejenigen zu achten, ihre Interessen und Existenzen zu schützen, die auch sonst gern übersehen werden. Dies fängt bei den Solo-Selbstständigen, Freiberuflern an und reicht bis zur Zukunft der EU. Es ist ein Armutszeugnis: Die EU befindet sich in der schwersten Krise überhaupt und die Bundesregierung will diese mit den Maßnahmen der Euro-Krise lösen. Dies wird nicht funktionieren und ist eine Gefahr für Europa. «Jeder für sich» darf nie wieder Motto Europas werden.
Was bislang übrigens niemand in der Bundesregierung sagt ist, wer diese Krise bezahlen soll. Wir sagen: Die Verkäuferin in Deutschland oder die Pflegekraft in Italien dürfen es nicht sein! Deshalb braucht es eine einmalige Vermögensabgabe, wie sie das Grundgesetz in Deutschland vorsieht für ganz Europa. Der europäische Geldadel soll einen Teil der Krise bezahlen.
Wie lang und unter welchen Bedingungen kannst du als Linker die Einschränkungen der Freiheitsrechte tolerieren, die derzeit zur Eindämmung der Corona-Pandemie gelten? Wie muss der Ausstieg aus diesen Beschränkungen aussehen?
Die Einschränkung einiger Freiheitsrechte ist kurzfristig notwendig, um eine Überlastung unseres Gesundheitssystems zu verhindern und Leben zu schützen. Es wird einen schrittweisen Ausstieg aus dieser Situation und einen Einstieg in das normale Leben geben müssen. Wann dafür der richtige Zeitpunkt ist: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen der Politik hier zur Seite stehen. Da geht Vernunft vor Aktionismus. Wir dürfen die Maßnahmen nicht voreilig lockern, sonst stehen wir ganz schnell wieder vor einem rasanten Anstieg der Infektionen. Aber sie dürfen nicht zu lange aufrechterhalten werden, dann zerstören wir viele Existenzen.
Aus Perspektive der LINKEN wäre es leicht jetzt zu sagen: «Krankenhäuser kaputt gespart – kein ausreichender Mindestlohn – wichtige Berufsgruppen chronisch zu schlecht bezahlt! Haben wir ja schon immer gesagt!» Nur würde das vermutlich nichts bringen. Was hat sich deines Erachtens in den letzten Wochen verändert, was nach dieser Krise zu einer nachhaltigen Verbesserung führen könnte?
Diese Krise zeigt was zählt: Gute und sichere Jobs. Ein funktionierendes Gesundheitssystem. Ausreichend Betten und Personal in Krankenhäusern und eine gute Bezahlung für die wirklich systemrelevanten Berufe. Die Krankenschwester, der Altenpfleger, die Verkäuferin. Ich glaube schon, dass diese Krise einigen deutlich macht: Umdenken ist notwendig! Ja, diese Krise ist auch die Chance für neues, solidarisches Denken. Aber es besteht auch die Gefahr, dass dies nach der Krise schnell wider vergessen wird. Bei uns mit Sicherheit nicht!
Und selbstverständlich: Die Versäumnisse, die diese Krise verschärft haben, müssen aufgearbeitet werden! Dass wir nicht ausreichend Schutzmasken haben – das darf nicht sein.
Ich wünsche mir, dass diese Krise einen Pfad öffnet, für neue, solidarische Formen des Zusammenlebens.