Publikation Erinnerungspolitik / Antifaschismus "Eine Sternstunde für Europa"

Zum 75. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus sprachen wir mit unserem Freund und Mitglied Günter Walther, der sich im Mai 1945 in Dresden befand. Er lebte dort mit seiner Familie und war 13 Jahre alt, als er auf die Sowjetsoldaten traf. Dies markierte die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und das Kriegsende in Europa. Sowohl von seinen persönlichen Erlebnissen als auch den gesellschaftlichen Zuständen berichtet Günter Walther sehr eindrucksvoll. Das Interview führte im Namen der Rosa-Luxemburg-Stiftung MV, Malte Fuchs, Bildungsbauftragter bei LinksjugendSolid MV.

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Zum Interview bitte diesem Link folgen:https://soundcloud.com/user-397249812/eine-sternstunde-fur-europa-1

Interview mit Günter Walther zum 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung

I: Herzlich Willkommen, Günther Walther! Wir sprechen heute über den 8.Mai, den Tag der Befreiung, den du vor 75 Jahren in Dresden erlebt hast. Du bist Jahrgang 1932, bist langjähriges Mitglied in der Partei Die Linke und möchtest heute eben über deine persönlichen Erinnerungen und Erfahren von vor 75 Jahren reden. Du bist nach deiner Kindheit in Dresden als junger Mann hier nach Rostock gekommen. Wie hast du damals vor 75 Jahren in Dresden gelebt?

Walther: Ich wohnte mit meiner Mutter und meinem jüngeren Bruder in einem Stadtteil im Osten der Stadt. Mein Vater war Soldat in einer Sanitätskompanie. In unserem Stadtteil fielen die letzten Bomben bei den Luftangriffen auf Dresden. In dieser Zeit war das Leben geprägt durch den Krieg und den damit verbundenen Umständen. Die Versorgung wurde immer schwieriger. Es gab im Grunde genommen alles auf Lebensmittelkarten und trotz dieser Karten war es mitunter sehr schwierig, die tägliche Versorgung zu garantieren. Ich ging täglich zur Schule und der Unterricht war ausgelegt, um uns ein bestimmtes Wissen zu lehren, andererseits aber auch um die Ideologie, die damals vorherrschte, zu vermitteln. Das machten nicht alle Lehrer, sondern nur einige. Voran der Rektor der Schule, ein stolzer SA-Mann, der in meiner Klasse Geschichtsunterricht gab und uns berichtete, wie wir uns zum Endsieg bewegen.

Interviewer: War der 8. Mai auch in Dresden der Tag der Befreiung oder an welchem Tag kam die Rote Armee in Dresden?

Walther: Die Rote Armee kam am 8. Mai. Aber da ist noch etwas zu sagen über den 7. Mai. Am Morgen dieses Tages erschütterten heftige Detonationen die Stadt. Die SS sprengte die Elbbrücken. Damit war allerdings der Vormarsch der Roten Armee nicht aufzuhalten, denn die Wege über die Elbbrücken waren von Trümmern verschüttet, sodass ein Vormarsch darüber ohnehin nicht möglich war. Es wurde verbreitetet, dass die Truppen des Marschall Konew sich aus dem Raum Görlitz über Bautzen/Löbau, Bischofswerda nach Dresden bewegten. Das heißt, sie kamen aus dem Norden in die Stadt, nicht aus dem Osten. Für uns gab es verschiedene Einstellungen dazu. Die einen waren der Meinung, dass sie lieber ein solches Ende wünschen, als weiterhin die Ungewissheit zu ertragen und die Gefahr weiterer Luftangriffe im Raum steht. Andere hatten mächtige Angst vor dem Ende und was die Zukunft bringen sollte. Das war völlig ungewiss. Am Abend dieses Tages standen wir unaufgefordert an dieser Straße nach Pirna. Es zogen unregelmäßig Kolonnen deutscher Soldaten Richtung Osten. Ihre Gesichter waren fahl, die Uniformen verschlissen. Eigentlich schlichen sie mehr dahin, als dass sie als militärische Einheiten marschierten. Wir standen am Straßenrand mit der Frage auf unseren Gesichtern: "Was nun?" Einige Soldaten sahen uns an und verstanden wohl, was wir fragen wollten. Und einer aus dieser Kolonne rief uns zu: "Ihr könnt machen, was ihr wollt. Die Russen kommen!" Ich dachte mir, "Dann ist es doch zu Ende. Es gibt keine Wende. Die Russen werden kommen."
Nachdem die letzte Einheit abgezogen war, stürmten die Bewohner an der Straße wie auf Kommando die noch vor unserem Haus errichtete Panzersperre. Der Grund war weniger, sie wegzuschaffen oder einzureißen, um den Weg der Panzer frei zu machen, als viel mehr, dass sie aus Holz war. Und Holz kann man gebrauchen, wenn die Russen kommen. Man weiß ja nicht, was alles passiert und könnte das Holz zum Heizen und Kochen verwenden. Also wurde die Panzersperre gestürmt, das gesamte Holz herausgenommen, zersägt und in die Haushalte geschleppt. Der nächste Morgen war ein sonniger Frühlingstag, über Dresden wölbte sich ein blauer Himmel. In der Stadt gab es eine gespannte Stimmung. Alle waren der Meinung, dass am heutigen Tag die Russen kommen würden. Wir erfuhren erst später, dass der bekannte Arzt Prof. Dr. Fetscher noch ein Auto besaß und er sich mit seinem Fahrer auf in Richtung Norden aufmachte. Sie wollten den russischen Truppen entgegenfahren und sie bitten, die Bevölkerung in Dresden human zu behandeln, denn sie hatten ja viel durchgemacht. In den Trümmern der Prager Straße wurde das Fahrzeug von einer SS-Streife angehalten. Sie entdeckten in dem Fahrzeug eine zusammengerollte weiße Fahne. Daraufhin wurden der Professor und der Fahrer sofort erschossen.
Etwas später stand im Norden der Stadt noch ein deutscher Soldat. Er war Dresdner. Nachdem man in der Ferne schon das Rasseln der Ketten der C34 hörte, entschloss er sich nach Hause zu gehen. Eine spätere Obduktion ergab, dass er hinterrücks erschossen wurde. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine russischen Soldaten in der Stadt.

Interviewer: Wahrscheinlich wegen Fahnenflucht?

Walther: Wahrscheinlich. Woher ich das aber nun weiß, dieser Soldat war ein Bruder meines Vaters.
Am Vormittag beobachtete ich, wie auf den Dächern Männer standen, die Richtung Norden blickten und erspähen wollten, ob sich Soldaten der Roten Armee nach Dresden in die Stadt hinein bewegten. So verging die Zeit bis Mittag. Die Straßen waren nun menschenleer. Alle waren zuhause und beobachteten meistens hinter den Gardinen, was nun auf den Straßen los war. Ich sah, wie ein Motorradfahrer mit umgehängter Maschinenpistole über unsere Straße preschte. Dann tastete sich eine Gruppe von Soldaten vorsichtig die Straße entlang. Nun war meine Neugierde erwacht. Ich wollte sehen, was dort unten alles passierte. Ich ging hinunter auf die Straße und sah, wie diese Soldaten zu Fuß, mit LKW, mit Panzern, mit Artillerie vorbeizogen. Ich dachte: "Das sind nun die Sieger. Und wie die hier entlang ziehen... Da war aber bei der deutschen Wehrmacht mehr Schmiss drin." Sie nahmen von uns, die an der Straße standen, überhaupt keine Notiz. Sie unterhielten sich, lachten und sie hatten allen Grund dazu, denn der Krieg war endlich zu Ende. Dann beobachtete ich etwas unweit von mir, dass ein LKW an der Straßenseite gehalten hatte. Um ihn herum Kinder, die immer die Hände nach oben streckten zum LKW. Ich ging hin und erkannte, dass die russischen Soldaten an die Kinder Bonbons verteilten. Da habe ich auch meine Hand ausgestreckt. Ein Soldat sah mich an und sagte: "Du groß! Nach Hause!"

Interviewer: Du warst zu dem Zeitpunkt 13 Jahre alt.

Walther: Ja. Ich bin mit hängenden Ohren nach Hause gegangen. Es wurde Abend. Vor unserem Haus parkte eine lange Kolonne LKWs. Wir gingen ins Bett in dem Bewusstsein, heute Nacht wird es keinen Fliegeralarm geben.
In der Stille der Nacht donnerte es an unserer Haustür und es wurde gerufen "Aufmachen! Dawai! Dawai!". Wir stiegen aus den Betten, zogen uns an. Das waren wir gewohnt, das ging schnell. Wir zündeten Kerzen an, die Haustür wurde geöffnet und Soldaten stürmten in das Haus in alle Wohnungen und fragten immer "Deutsch Soldat? Deutsch Soldat?" Sie fanden aber keine deutschen Soldaten. Das ganze Haus versammelte sich bei Kerzenschein im ersten Stock. Ich hatte ein kleines Aquarium mit Fischen und bei Kerzenschein konnte man sehen, wie die Fische so schön langsam dahin paddelten und die Soldaten drumherum amüsierten sich darüber. Ein Soldat gebot meine Mutter mit ins Schlafzimmer zu gehen, er wollte mit ihr ins Bett. Und sie rief immer "Nein! Nein! Nein!". Ein anderer Soldat packte ihn am Ärmel und schob ihn aus der Wohnung raus.
Wir standen nun also im ersten Stock. Hinter vorgehaltener Hand wurde geredet, einer sei ein Kommunist. Was wusste ich, wer Kommunisten sind? Ich konnte mir nur reimen, Kommunist muss was ganz Schlimmes sein. Mit uns im Hausflur standen Soldaten mit Karabiner und MP. Einer hatte eine Lederjacke an und eine Schirmmütze auf, aber keine Rangabzeichen. In der Hand hielt er eine Pistole und fuchtelte damit um. Dann sagte er "Ihr alle Hitler!" Und plötzlich begann ein großes Gemurmel der Hausbewohner. Ich dachte mir, "Das ist ja sehr eigenartig, sehr eigenartig. Gestern wurden erst die Hitlerbilder runtergenommen."

Interviewer: Auch bei euch zuhause?

Walther: Bei uns hing auch eins. Und jetzt war dort ein heller Fleck. Und heute protestieren sie, weil der sagt, "Ihr alle Hitler!" Der vermeintliche Kommunist ging in die Wohnung und kam mit einem Papier wieder. Wahrscheinlich war das ein amtliches Papier. Vielleicht die Entlassungsurkunde aus dem Gefängnis und gab das Papier dem Mann in der Lederjacke. Er nahm das Papier, zerriss es in Schnipseln und warf es dem Kommunisten vor die Füße. Nachdem das alles passiert war, zogen sie wieder ab zu ihrer Kolonne und für uns begann wieder die Nachtruhe. Die ersten Tage danach waren dadurch bestimmt, dass die Besatzungsmacht Befehle ausgab. Das geschah durch Plakate, die an Häuserwände und Zäune geklebt wurde oder durch Zettel, die verteilt wurden. Ein erster Befehl lautete "Der Krieg ist zu Ende! Deutschland hat bedingungslos kapituliert. In allen Unionsrepubliken der Sowjetunion wird in den Hauptstädten Ehrensalut geschossen". Ich dachte, "So sieht es also nun aus. Mit uns ist es zu Ende und die Sieger feiern mit Ehrensalut." Dann gab es weitere Befehle: "Alle Organisationen der Faschisten sind aufgelöst. Die NSDAP, alle anderen Organisationen, bis zur Hitlerjugend.“ Meine Mutter hatte vor dem Haus meine Hitlerjugend-Uniform vergraben. Ein weiterer Befehl sagte aus, "Alle Hieb-, Stich- und Schusswaffen sind abzugeben." Und immer nach dem Befehl war geschrieben, "Wer das nicht befolgt, muss mit härtesten Strafen rechnen." Zwei meiner Schulkameraden waren wohl noch in Besitz von Waffen.

Interviewer: War das damals normal, dass man auch als junger Mensch Waffen hatte?

Walther: Nein. Wir hatten in der Hitlerjugend nur ein Messer. Das hieß Fahrtenmesser. Das trugen wir an der linken Seite. Aber Schusswaffen und Hiebwaffen hatten wir nicht. Woher die das hatten, weiß ich nicht. Aber das war wohl rausgekommen und dann wurden sie abgeholt. Aber als die Schule wieder begann waren sie wieder da.

Interviewer: Das heißt, da war auch ein zwiegespaltenes Verhältnis zwischen der Besatzungsmacht und euch? Es wurde einerseits versucht, sich beliebt zu machen, aber anderseits auch eine Härte an den Tag gelegt? Da die Sowjetunion von Deutschland auch nicht verschont wurde im Zweiten Weltkrieg?

Walther: Man muss da natürlich auch etwas mehr überlegen. Diese Einheiten der Roten Armee hatten sich hunderte und vielleicht tausend Kilometer über die Jahre bis nach Deutschland durchgekämpft und hatten auf dem Weg viele ihrer Kameraden begraben müssen. Nun standen sie in Deutschland. Was sollten sie nun machen? Sie waren eine Militäradministration. Das heißt sie übernahmen die Regierungsgewalt und nun sollten sie eine Regierung organisieren. Sie konnten nicht jeden Bevollmächtigten einer Regierung stellen in den Gemeinden und Stadtbevölkerungen. Also lautete die Frage: Wer ist denn nun Antifaschist? Oder wer hatte sich mit Hitler nicht eingelassen? Das heißt, wer war eigentlich dafür geeignet, Funktionen in einer Kommune zu übernehmen? Woher wussten sie das?

Interviewer: Das war das, was man in den westlichen Besatzungszonen mit der Entnazifizierung gelöst hatte?

Walther: Weil dort ja nun auch ein Großteil der Beamten geblieben war, hatten die Besatzungsmächte keine Schwierigkeiten. Aber bei uns war das so. Und die sie dann fanden und einsetzten, hatten keine Ahnung. Die kamen aus Gefängnissen, Konzentrationslagern. Das waren Flüchtlinge. Das waren Menschen, die hatten nie etwas damit zu tun. Die sollten jetzt regieren. Wir waren für sie Feinde. Und es war immer unverständlich für sie, wie wir waren.
Die erste Fremdsprache in den sowjetischen Schulen war Deutsch. Soldaten, die mitunter ein paar Brocken Deutsch konnten, sagten, wenn sie zu uns in die Wohnung kamen: "Ihr alle Kapitalist!" Das heißt unsere Einrichtungen waren für sie viel mehr als das Normale, was sie kannten. Und diejenigen, die nun mehr Deutsch konnten, fragten manchmal "Was wolltet ihr denn eigentlich bei uns? Ihr habt Wohnungen, ihr habt Möbel, ihr habt Essen, ihr habt Trinken, ihr habt Kleidung, ihr habt Straßenbahnen, ihr habt alles! Was wolltet ihr bei uns?" Und auf diese Frage hatten wir keine Antwort. Mitunter wirklich nicht oder aus Scham nicht. Die andere Seite war die, dass sie Fremdes mit sich brachten, was wir überhaupt nicht kannten. Wer kannte die Geschichte Russlands oder der Sowjetunion? Wer wusste Bescheid, wie sie lebten in ihren Städten, in ihren Dörfern? Nichts wussten wir. Nur aus dem Erzählen der deutschen Soldaten, die dort waren und das war meistens nicht objektiv genug. Aber nachdem sie dann da waren, brachten die Offiziere ihre Familien mit. Dann wurden bestimmte Straßenzüge oder Wohngebiete für sie frei gemacht und sie zogen dort ein. Als Erstes bauten sie darum einen Zaun mit einem Eingangstor und einem großen Bogen. Der war für uns sehr aufdringlich gestalte mit Farben, die wir in der Komposition nicht kannten. Wer Bilder aus jener Zeit von unseren Städten sieht, der sieht dunkel Städte, dunkel gekleidete Menschen. Und jetzt kommen sie mit einer Farbenpracht. Auch die Uniformen der Soldaten und der Offiziere waren bunt, was dann später für uns völlig normal war. Aber damals was es ein völliger Gegensatz und brachte natürlich auch viel Kulturgut aus Asien mit. Denn dort sind viele Tempel und Gebäude sehr bunt gestaltet. Dann kamen ihre Frauen. Die schminkten sich dermaßen gegensätzlich, dass man sie schon von Weitem erkennen konnte. Das war für uns alles ungewohnt. Und demzufolge war das in gewisser Weise für uns abstoßend, weil wir das nicht kannten und wussten warum.

Interviewer: Wenn man jetzt heute auf den 8. Mai blickt, gilt dieser Tag als Schlüsselpunkt der deutschen und der europäischen Geschichte, bei dem es vor allem ein Davor und ein Danach gab. Inwiefern gab es für dich über den 8. Mai hinaus Kontinuitäten? Was ist mit deinen HJ-Führern oder mit deinen Lehrerinnen und Lehrern passiert?

Walther: Die Hitlerjugend wurde natürlich von Führern befehligt, die nach dem 8. Mai einen unterschiedlichen Weg nahmen. Es gab welche, die blieben verhaftet mit dem System. Und es gab auch welche, die sich mit dem Nachdenken änderten in ihren Ansichten. Ich hatte einen Jungzugführer, der war ziemlich scharf in seinem Kommandieren. Aber dieser Jugendliche änderte sich dann nach 1945 kolossal und ich erfuhr dann später, er wurde Lehrer und erhielt sogar die Auszeichnung "Verdienter Lehrer des Volkes". Andere habe ich dann nie wiedergesehen. Die sind verschwunden in der Versenkung oder haben das Land verlassen. In der Schule hab es große Veränderungen. Die Lehrer, die Mitglied der NSDAP waren und die natürlich den Faschismus vertraten, waren nicht mehr da. Voran unser ehemaliger Rektor. Rektor wurde nachfolgend ein älterer Lehrer, der im Ersten Weltkrieg Leutnant gewesen war. Er hatte aber mit dem Faschismus nichts zu tun und deshalb wurde er lieber Lehrer. Damit entschied sich nicht immer etwas über die Qualität der Lehrer, aber zumindest über ihre Einstellung. Und das war erst einmal das Entscheidende. Es kamen dann einige neue Lehrer und auch in meiner Klasse stand nun ein junger, neuer Lehrer vor uns. Mit dem hatten wir großes Glück. Es war ein ausgezeichneter Lehrer, obwohl er keine pädagogische Ausbildung hatte.

Interviewer: Inwiefern würdest du heute sagen, dass es personelle Kontinuitäten über den 8. Mai hinaus gab in deinem Umfeld? Gab es Funktionsträger in der Öffentlichkeit, die vorher schon diese Funktion hatten und diese auch nach dem 8.Mai weiter ausführten?

Walther: Nein. Das ist mir nicht bekannt, dass das der Fall war. Vielleicht mal ein Beispiel aus der eigenen Familie. Im Sommer sagte meine Mutter eines Tages zu mir: "Ich muss heute Nachmittag zur Kommandantur. Kommst du mit?" Ich sagte, "Zur Kommandantur? Ja. Was willst du denn da?", "Wir müssen und registrieren lassen.", "Registrieren? Warum?", "Vati war in der NSDAP." Das war ein Schlag für mich. Nicht etwa, weil ich es verurteilte, dass er in der NSDAP war, sondern weil wir über die Kommandantur in die Öffentlichkeit gerieten. Und das war für mich ein Ereignis, was mir gar nicht gefiel. Abgesehen davon erfuhr ich davon das erste Mal, dass mein Vater in der NSDAP war. Darüber wurde in den Familien überhaupt nicht gesprochen. Nichts. Mein Vater war bei der Straßenreinigung in Dresden. Das war im öffentlichen Dienst. Nachdem er wieder zurückkam, wurde er bei der Stadt nicht wieder angestellt, weil er Mitglied der NSDAP war. Das heißt also, man ging klar vor und machte hier entscheidende Schnitte. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als nach seiner Rückkehr aus dem Wehrdienst in die Trümmer zu gehen und täglich Trümmer aufzuladen und zu beseitigen. Das heißt also, es gab in meinem Umfeld niemand, der vor dem Zusammenbruch irgendeine Funktion innehatte.

Interviewer: Du bist jetzt 75 Jahre später immer noch ein sehr politischer Mensch und warst auch in der Zwischenzeit in der DDR und in der Nachwendezeit immer wieder politisch engagiert. Inwiefern kann man sagen, dass der 8.Mai dazu beigetragen hat, dich zu politisieren?

Walther: Erst einmal war klar, dass es mit dem Faschismus zu Ende ist. Was dann geschah, war die Information über die deutschen Soldaten auf den Schlachtfeldern in den besetzten Gebieten. Die Information über die Konzentrationslager. Was dann in die Öffentlichkeit kam, war erschreckend, auch für mich. Obwohl es vorher Beispiele gab, wo ich hätte nachdenken müssen. Nicht weit von uns war ein Lager mit Frauen, die aus dem Osten kamen und die in der optischen Industrie arbeiteten. Die trugen blau-weiß gestreifte Kittelkleider und auf der linken Brustseite stand "Ost". Sie trugen ein Kopftuch und an den Füßen keine Schuhe, sondern Holzpantinen. Die mussten jeden Tag von dem Lager zu den Fabriken laufen. Das waren mindestens drei Kilometer und man hörte schon von Weitem das Geklapper der Holzschuhe auf der Straße. Und dann zogen sie entweder in das Lager oder vom Lager zur Arbeit. Wenn man das gesehen hat, war das eigentlich ein Jammer, wie diese Frauen täglich in ihrer schäbigen Kleidung über die Straßen geführt wurden. Aber darüber habe ich kaum nachgedacht. Es begann also für mich ein Prozess des Nachdenkens. Und auch des Nachdenkens nicht nur über uns, sondern auch über andere. Dass das nicht Menschen einer niederen Gattung waren, wie uns das weiß gemacht wurde und auch nicht jene Menschen, die als Juden bezeichnet wurden. Und die auch in Dresden ein elendes Leben geführt hatten. Dieser Prozess hat allerdings auch eine ganze Zeit gedauert. Weil es auch wenige gab, die das überzeugend erklären konnten. Und weil man einfach nicht glauben konnte, dass die Deutschen sowohl in den besetzten Ländern als auch in den KZs und gegenüber den Juden so grausam gewesen sind. Mein Vater hatte auch Geschichten erzählt aus der Sowjetunion, die ich empfunden hatte wie "Das ist eben so." Bei späterem Nachdenken ist mit klar geworden, das sind Kriegsverbrechen gewesen. Und das war für mich und andere sehr, sehr schwer, das zu begreifen und sich von den alten Vorstellungen zu lösen. Das hat Jahre gedauert.

Interviewer: Du bist bis zu deinem 13. Lebensjahr damit indoktriniert worden.

Walther: In dieser Kindheit und der späteren Kindheit empfand man das als normal. Es gab nichts anderes als die Tatsache, wenn man in ein Geschäft kam, grüßte man nicht mit "Guten Tag!“, sondern "Heil Hitler!". Und wenn man rausging auch. Es war dann mitunter peinlich nach 1945, dass es Leute gab, die aus der alten Gewohnheit in ein Geschäft kamen und sagten "Heil Hitler!".

Interviewer: Der 8. Mai hatte im Endeffekt erdbebenartige Auswirkungen, weil er nicht nur den Endpunkt des NS-Reiches darstellte, sondern auch die Teilung Deutschlands und später dann die Gründung der Bundesrepublik und die Gründung der Deutsche Demokratischen Republik. Was würdest du heute sagen, was bedeutet der 8. Mai für dich persönlich?

Walther: Es ist ein Tag, der vielleicht nicht nur einen Tag charakterisiert, sondern eine prinzipielle Wende in den ganzen Auffassungen und Einstellungen. Und deshalb kann dieser 8. Mai auch niemals zu den Akten gelegt werden. Er muss immer wieder in das Bewusstsein nachwachsender Generationen gerufen werden und es muss von denen, die es noch können, erklärt werden, wie das nun war. Junge Generationen, die heute heranwachsen, haben das nicht erlebt. Und ich weiß, das ist mitunter für sie sehr unbegreiflich ist, dass es sowas gegeben hat. Aber es war nun mal so. Man muss das schildern, wie es gewesen ist. Die Rote Armee kam nicht als Freund, sondern als kämpfende Truppe. Einige tun heute so, als hätten sie uns mit Souvenirs überschütten müssen. Sie waren misstrauisch, denn wir waren diejenigen, die bei ihnen einmarschiert waren. Und das Schlimmste sind die Versuche, dass dieser 8. Mai umgedeutet wird, indem die Deutschen als Opfer dargestellt werden bzw. bestimmte Ereignisse von Neonazis und Rechten aus dem Dritten Reich heraus gefeiert und glorifiziert werden. Hier gibt es keine Toleranz. Hier gibt es keine Nachsicht. Hier kann man nur mit aller Konsequenz und mit aller Kraft gegen solche Erscheinungen auftreten. Machen wir das nicht, kann es passieren, dass in 30 Jahren die deutsche Wehrmacht den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat.

Interviewer: Zum Schluss noch eine letzte Frage. Sollte der 8. Mai deiner Meinung nach ein staatlicher Feiertag werden?

Walther: Von der Bedeutung her, ja. Denn es gab ja nicht nur eine Befreiung hierzulande, sondern in ganz Europa. Es hat in Europa viele Länder gegeben, die haben jahrelang unter der Knute der Deutschen gelitten. Und diese Befreiung war eine Sternstunde für ganz Europa. Dafür wird ein Feiertag gerechtfertigt sein.