Bericht | International / Transnational - Krieg / Frieden - Asien - Westasien - Corona-Krise - Westasien im Fokus Covid-19 im Jemen: am Rand einer Katastrophe

Weltgesundheitsorganisation: 55 Prozent der Bevölkerung könnten sich infizieren

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Bestätigte Covid-19- Infektionen im Jemen: die betroffenen Regionen am 22. Mai 2020
Bestätigte Covid-19- Infektionen im Jemen: die betroffenen Regionen am 22. Mai 2020 CC BY-SA 4.0, ThisAwesomeGuy7630, via Wikimedia Commons

Am 10. April 2020 wurde aus dem südjemenitischen Gouvernorat Hadramaut der erste Corona-Fall gemeldet. Damit war der Jemen eines der allerletzten Länder, welches nun auch offiziell vom Virus erfasst wurde. Einen Tag zuvor verkündete die saudisch geführte Militärkoalition bereits eine einseitige landesweite zweiwöchige Waffenruhe, um der weltweiten Pandemie zu begegnen und dem Aufruf des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, António Guterres, zu einer globalen Waffenruhe während der Corona-Pandemie zu folgen. Allerdings zeigte diese angekündigte Feuerpause kaum Wirkung im Land. Am 29. April 2020 wurden weitere fünf Fälle mit zwei Toten in der südjemenitischen Hafenstadt Aden bekanntgegeben. Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten gab am 17. Mai 2020 bekannt, dass sich bis dahin 126 Menschen im Jemen mit Covid-19 infiziert haben, 19 davon starben. Das Epizentrum der Corona-Krise ist Aden, welches die Statistik mit 71 Fällen anführt.

Anne-Linda Amira Augustin ist Referentin in der europäischen Vertretung des Südübergangsrates in Berlin, non-resident scholar am Middle East Institute in Washington und Gründungsmitglied des Akademischen Forums Muhammad Ali Luqman. Sie hat an der Philipps-Universität Marburg zu Generationsbeziehungen innerhalb der Südbewegung und alltäglichem Widerstand im Südjemen promoviert.

Am 21. April 2020 wurden Aden sowie weite Gebiete der südjemenitischen Küste von Sturzfluten getroffen, die durch einen Sturm ausgelöst worden waren. Die Folge waren extreme Überschwemmungen, von denen mindestens 150.000 Menschen betroffen waren. Die Überschwemmungen forderten Dutzende Leben und zerstörten zahlreiche Wohnhäuser und Infrastruktur. Zusätzlich verstärkten die Überschwemmungen den Ausbruch bereits weitverbreiteter Erkrankungen wie dem Dengue-Fieber, Malaria, Chikungunya und Cholera. Die Bevölkerung im Jemen litt bereits unter zwei Cholera-Epidemien in den letzten Jahren. Die erste Welle brach im September 2016 aus und rief fast 26.000 Verdachtsfälle hervor. Seit April 2017 sind in einer zweiten Welle mindestens 2.300 Menschen gestorben und mehr als eine Million Menschen erkrankt. Während der letzten Kriegsjahre ist die Infrastruktur (Elektrizität, sanitäre Anlagen, Abwassersysteme, Müllabfuhr) in weiten Teilen des Jemens teils völlig zusammengebrochen. Zahlreiche Gesundheitseinrichtungen und Krankenhäuser wurden durch Angriffe zerstört. Es mangelt zudem an medizinischem Personal, besonders in ländlichen Gegenden. Diese Situation führte dazu, dass die Bevölkerung im Jemen wegen einer durchschnittlich schwächeren Immunität eine hohe Anfälligkeit für Krankheiten aufweist. Seit Ausbruch des Krieges im Jemen 2015 bezeichnen internationale Hilfsorganisationen und Medien die humanitäre Lage im Jemen immer wieder als die schlimmste durch Menschen verursachte humanitäre Krise der Welt im 21. Jahrhundert, denn 80 Prozent der jemenitischen Bevölkerung (circa 24 Millionen Menschen) sind heute von humanitärer Unterstützung abhängig und 10 Millionen Menschen von einer Hungersnot bedroht.

Die bis Mitte Mai offiziell gemeldeten Covid-19-Fälle scheinen jedoch nur einen Bruchteil einer viel höheren Dunkelziffer darzustellen. Seit Anfang Mai werden zahlreiche plötzliche Todesfälle im Südjemen gemeldet. Bis zum 20. Mai sind seit Anfang des Monats bereits 950 Menschen in der Stadt Aden verstorben, täglich mehr als 80 Personen gemäß den Beerdigungsstatistiken der Stadt. Zuvor waren es täglich 10 Personen. Die Zahl ist weiterhin steigend. Dengue, Malaria und Cholera, die bereits im Jemen weitverbreitet sind, haben in der Vergangenheit nicht zu einer so hohen Zahl von Toten in dieser kurzen Zeit geführt. Die Verbreitung anderer Krankheiten mit ähnlichen Symptomen wie Dengue-Fieber macht es zudem schwierig, Covid-19-Infektionen ohne Tests zu erkennen, denn Testmöglichkeiten sind rar.

Das einzige Covid-19-Zentrum im gesamten Südjemen, das von der Hilfsorganisation «Ärzte ohne Grenzen» in Aden betrieben wird, nahm im Zeitraum vom 30. April bis 17. Mai 2020 173 Patienten auf, von denen mindestens 68 starben. Das Durchschnittsalter der Sterbenden ist wesentlich niedriger als in Europa und liegt zwischen 40 und 60 Jahren. Viele kommen bereits mit akuten Atemnotproblemen ins Zentrum und können oftmals nicht mehr gerettet werden. Viele andere sterben zu Hause. Nachdem auch viel medizinisches Personal wegen mangelnder Schutzausrüstung in Aden zu Tode kam, haben einige private Krankenhäuser ihre Dienste für mutmaßliche Covid-19-Patienten eingestellt. Aus Aden wurde berichtet, dass Ärzte, aus Angst sich wegen mangelnder Ausrüstung anstecken zu können, nicht mehr zur Arbeit gehen. Der Stadt stehen mit mehr als einer Million Einwohner*innen[1] gerade einmal 17 Beatmungsgeräte zur Verfügung. In den ländlichen Regionen ist die Situation noch prekärer. Es wird sogar eine 100-prozentige Todesrate bei Personen erwartet, die medizinische Versorgung benötigen, wenn keine externe Unterstützung eintrifft.

Dutzende Projekte von Hilfsorganisationen, die im Südjemen umgesetzt werden sollten, haben in der Vergangenheit monatelang auf Genehmigungen durch die Regierung gewartet, wodurch Geberfinanzierungen in Höhe von 100 Millionen US-Dollar blockiert wurden,[2] so der stellvertretende Generalsekretär für humanitäre Angelegenheiten und Koordinator für Nothilfe der Vereinten Nationen, Ramesh Rajasingham, in einem Briefing vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur humanitären Lage im Jemen am 14. Mai 2020. Grund für diese Situation seien umständliche Regierungsprozesse, die zudem die Unabhängigkeit der Hilfe beeinträchtigten. Dies war auch einer der zahlreichen Gründe dafür, dass der Südübergangsrat am 25. April 2020 die Selbstverwaltung für den Südjemen ausgerufen hat. Ausschlaggebend waren die vorangegangenen Fluten im Südjemen und die ausbleibende Hilfe der Hadi-Regierung. Der Rat hat verschiedene Konten bei der Nationalbank eingerichtet, auf die Einnahmen durch u.a. Zölle von lokalen Institutionen umgeleitet werden. Diese Einnahmen sollen damit der Regierungskorruption entzogen und zur direkten Grundversorgung und zur Abdeckung der Gehälter, die mehrere Monate nicht gezahlt wurden, verwendet werden.

Die humanitären Probleme in der Stadt Aden und in den umliegenden Gebieten spitzten sich in den vergangenen Wochen enorm zu, sodass südjemenitische zivilgesellschaftliche Organisationen Hilferufe an internationale Organisationen und die Vereinten Nationen richteten. Zuvor hatte bereits Dr. Abdulnasir al-Wali, Professor für Medizin an der Universität Aden, Mitglied im Präsidentschaftsrat des Südübergangsrates und Leiter des Notfallkomitees, seine Verzweiflung darüber zum Ausdruck gebracht, dass man auf sich allein gestellt sei, es am Nötigsten mangele und man der Lage ohne äußere Hilfe angesichts jahrzehntelanger Vernachlässigung des Gesundheitssystems durch die Zentralregierung sowie Zerstörungen seit Kriegsbeginn nicht gewachsen sei.

Hilfe kommt jedoch nur schleppend bis gar nicht in Gang, was einerseits am fehlenden Zugang humanitärer Organisationen zum Land, Visa-Verzögerungen für internationale Mitarbeiter*innen, der weiterhin bestehenden enormen Unsicherheit und militärischen Eskalationen sowie administrativen und logistischen Einschränkungen liegt. Zudem verhindert die See-, Land- und Luftblockade durch die saudisch geführte Militärkoalition eine schnelle Einfuhr von Hilfsgütern, die mittlerweile durch weitere Grenzschließungen anderer Staaten aufgrund von Pandemie-Einschränkungen zusätzlich erschwert wurde. Den Vereinten Nationen und hier besonders der Weltgesundheitsorganisation fehlt es außerdem an Finanzmitteln, um weiterhin im Jemen aktiv zu bleiben. Wegen fehlender Mittel werden die Covid-19-Soforthilfeteams[3] voraussichtlich im Juni 2020 und therapeutische Ernährungszentren, die stark unterernährte Kinder behandeln, im August 2020 schließen müssen.[4]

Maßnahmen, die durch lokale Behörden zur Eindämmung der Pandemie getroffenen wurden, stoßen teils auf extreme Angst durch mangelnde Aufklärung bis hin zum Protest der Bevölkerung. Angesichts der schlechten Zustände vor Ort konnten Ausgangssperren bisher nur für kurze Dauer umgesetzt werden, denn in vielen Haushalten fehlt sauberes Wasser, Strom ist nur für wenige Stunden am Tag vorhanden. Eine gemeinsame und sinnvolle Bekämpfung der Pandemie im ganzen Land war wegen weiteranhaltenden militärischen Ausschreitungen unmöglich.

Wie die letzten Monate zeigten, haben selbst Länder, die ein weitaus besser ausgestattetes Gesundheitssystem als der Jemen besitzen, enorme Probleme die Covid-19-Pandemie einzudämmen. Daher lässt sich bereits jetzt erahnen, welche Auswirkungen die Pandemie im Jemen mit sich bringen wird. Selbst wenn im Jemen Schutzmaßnahmen getroffen werden, schätzt die Weltgesundheitsorganisation, dass sich 55 Prozent der Bevölkerung mit Covid-19 infizieren werden, 42.000 sterben und über 292.000 ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Am 2. Juni 2020 fand eine Geberkonferenz in Saudi-Arabien statt – vielleicht schon zu spät, um noch eine effektive Eindämmung des Virus im Jemen vornehmen zu können. In Europa spricht man davon, dass die Pandemie vor allem Alte und Kranke treffen werde. Global gesehen werden es die ärmsten und benachteiligten Länder der Welt sein, die am meisten unter der Pandemie zu leiden haben.


[1] Schätzungen gehen davon aus, dass heute zwischen zwei und drei Millionen Menschen in Aden leben, da zahlreiche Binnenflüchtlinge aufgrund des Krieges aus anderen Regionen in die Stadt geflüchtet sind.

[2] In den Houthi-regierten Gebieten steht seit vielen Monaten die Genehmigung von 93 anstehenden Projekten von Nichtregierungsorganisationen aus, die zusammen Geberinvestitionen in Höhe von 180 Millionen US-Dollar ausmachen (Briefing to the Security Council on the Humanitarian Situation in Yemen).

[3] Bisher hat man begonnen, 38 Krankenhäuser im Jemen als COVID-19-Einrichtungen auszustatten. Man hat Gesundheitspersonal geschult und wichtige Vorräte geliefert – einschließlich Beatmungsgeräte, Tests, Reagenzien sowie Schutzausrüstung für das Gesundheitspersonal (Briefing to the Security Council on the Humanitarian Situation in Yemen).

[4] Von 41 großen UN-Programmen im Jemen werden 31 in den nächsten Wochen geschlossen, wenn keine zusätzlichen Finanzierungsmittel freigegeben werden. Hilfsorganisationen schätzen, dass von Juni bis Dezember 2020 bis zu 2 Milliarden US-Dollar benötigt werden, um erforderliche Aktivitäten im Jemen abzudecken (Briefing to the Security Council on the Humanitarian Situation in Yemen).