Hunderte Menschen versammelten sich am 22. Juli 2020 vor dem jordanischen Parlament, um gegen häusliche Gewalt zu protestieren und Gerechtigkeit und Sicherheit für Frauen einzufordern. Auslöser war die Ermordung von Ahlam, einer etwa 30-jährigen Jordanierin, die Augenzeugenberichten zufolge brutal von ihrem Vater erschlagen worden war. Bei der Kundgebung waren zahlreiche Flyer mit der Aufschrift «Ahlams Schreie» zu sehen. Der Protest ist Teil der Bewegung «Frauenschreie» – der Slogan unter dem sich die Protestierenden immer wieder versammeln oder online organisieren. Denn Ahlams Hilferufe, wie auch die Hilferufe anderer Frauen vor ihr, wurden ignoriert. Ahlam ist bereits die neunte Frau, die seit Anfang des Jahres in Jordanien ermordet wurde. Verantwortlich hierfür machen die Aktivist*innen das gefährliche Fehlverständnis von Ehre und Geschlechterrollen seitens der Mörder, bei denen es sich meist um männliche Familienmitglieder handelt.
Hanna Al-Taher ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet in Amman, Gießen und London.
Die Menschen vor dem Parlament sind wütend und sie haben Forderungen: Insbesondere fordern sie eine Reform des Strafrechts. Sie kritisieren die vorherrschenden patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, das Schweigen großer Teile der Gesellschaft und die Inaktivität der Gesetzgeber. Im Umfeld der Stadtverwaltung von Amman war zu hören, dass Ahlam doch nicht die erste Frau sei und auch sicher nicht die letzte bleiben werde, die auf diese Weise ums Leben kommt. Diese Einstellung ist den Aktivist*innen zufolge weit verbreitet und Teil des Problems. Es ist genau diese Gleichgültigkeit und die Normalisierung von Gewalt bis hin zu Mord, die die Menschen auf die Straße treibt. Dem Protest vor dem Parlament war einen Tag vorher ein Sit-In in unmittelbarer Nähe des Amtssitzes von Premierminister Omar Razzaz vorangegangen, um einen besseren Rechtsschutz für Frauen zu fordern.
Jordaniens aktuell geltendes Strafrecht von 1960 ist deutlich vom libanesischen Strafrecht aus dem Jahr 1943 geprägt. Dieses hat im Speziellen die Bestimmungen zur Kriminalität gegen Frauen aus dem französischen Strafrecht der Kolonialzeit, dem Code Pénal von 1810, übernommen. Auch der inzwischen aufgehobene Artikel 340 des jordanischen Strafrechts hat hier seinen Ursprung. Dieser Artikel hatte es jordanischen Gerichten bis 2018 ermöglicht, leichtere Strafen gegen Personen, meistens Männer, zu verhängen, die weibliche Familienangehörige ermorden. Dass dieser Artikel 2018 endlich aufgehoben wurde, ist vor allem der ungebrochenen Arbeit generationsübergreifender feministischer und Frauenrechtsgruppen an der Basis geschuldet.
AbuZainEddin ist Teil einer Gruppe junger jordanischer Feministinnen, die Ende Juli einen weiteren Protest in Form einer Menschenkette vor dem Hauptstadtbüro des Amts für Familienschutz geplant hatte. Dieses Amt ist dem Direktorat für öffentliche Sicherheit untergeordnet. Allerdings wurde die Aktion von der Stadtverwaltung in Amman nicht genehmigt. Die Gruppe fordert strukturelle Änderungen in diesem Amt, damit Opfer von häuslicher Gewalt endlich wirkungsvoll geschützt werden können. Derzeit existieren in Jordanien lediglich acht Frauenhäuser, die von der Jordanian Women’s Union, UN Women, UNICEF und der norwegischen Regierung finanziert werden. Erst seit 2018 existiert ein erstes Schutzhaus, das von der jordanischen Regierung selbst betrieben wird. Diese winzigen Veränderungen sind dem unermüdlichen Einsatz von Menschen wie AbuZainEddin, der Anwältin Hala Ahed und den vielen andere Aktivistinnen zu verdanken. Auch am 22. Juli war AbbuZainEddin wieder vor dem Parlament anzutreffen, wo sie lautstark einen der vielen Sprechchöre anleitete: Soziale Gerechtigkeit für die Jordanische Frau! Freiheit! Nieder mit dem Patriarchat! Für eine feministische Revolution! Für ein ideologisches Umdenken!
Die Herausforderungen bleiben groß. Artikel 340 wurde zwar abgeschafft, doch es gibt im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt noch andere problematische Bestimmungen im Strafrecht. Artikel 99 etwa erlaubt es, das Strafmaß um die Hälfte zu reduzieren, wenn die Familie des Opfers beschließt, keine rechtlichen Schritte einzuleiten, oder dem Mörder formell zu verzeihen. Das Strafmaß kann ebenfalls gesenkt werden, wenn die Verteidigung des Angeklagten damit argumentiert, dass die Tat im Affekt begangen wurde und der Täter aus Wut darüber handelt, dass Scham über seine Familie gebracht wurde. Ansehen und Status von Männern ist im Kontext globaler patriarchaler Strukturen nicht nur in Jordanien häufig an die Körper von Frauen gebunden.
Allgemein besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen dem moderaten Image, das Jordanien im Ausland pflegt, und der politischen Realität vor Ort. Am härtesten trifft es jene Frauen, die kein Einkommen haben oder über ihr Einkommen nicht selbst verfügen dürfen. Sie haben kaum praktische Möglichkeiten, sich gefährlichen Situationen in ihren Familien zu entziehen. Internationale Projekte, die performativ Initiativen zur Gleichberechtigung fördern, sind in vielen Fällen ungenügend und können die für Frauen gefährlichen Machtgefälle sogar stabilisieren. In dem Maße, in dem sich Jordanien als stabiles und sicheres Land inszenieren kann oder inszeniert wird, wird nicht danach gefragt, für wen diese Sicherheit gilt. Für Frauen wie Ahlam augenscheinlich nicht. Welchen Preis zahlen wir also für diese Stabilität, die uns angeblich schützt? Oder, um es wie die britisch-ägyptische Journalistin Yousra Imran auszudrücken: Jordanien hat zwar glitzernde Shopping Malls, Tech Start-ups, und schnelles Internet, die Gesetzeslage ist aber entschieden anachronistisch.