Am 18. August begann der Tag in Mali mit Schüssen in der Garnison von Kati, die 15 km von der Hauptstadt Bamako entfernt liegt. Schon 2012 hatte dort der Putsch seinen Anfang genommen. Im weiteren Verlauf nahmen Militärs den Präsidenten Ibrahim Boubakar Keita und seinen Premierminister Boubou Cissé in Bamako fest und fuhren sie nach Kati. Gegen Mitternacht Ortszeit endet der Tag mit dem Rücktritt des Präsidenten und der Auflösung der Regierung und der Nationalversammlung.
Claus-Dieter-König leitet das Auslandsbüro der Stiftung in Dakar (Senegal). Er ist Politikwissenschaftler und Afrikanist.
Um halb vier Uhr morgens meldete sich dann die Militärjunta als Comité National pour le Salut du Peuple. Der Kernsatz: «Die Zivilgesellschaft und die soziopolitischen Bewegungen sind eingeladen, mit uns zusammen mittels einer Roadmap, die die Basis für ein neues Mali gründet, die besten Bedingungen für einen zivilen politischen Übergangsprozess zu schaffen, der in allgemeinen Wahlen zur Ausübung der Demokratie mündet.» Diese Einladung sollten die Akteure der letzten Wochen annehmen. Die ersten Reaktionen aus ihren Reihen noch am Morgen gehen in diese Richtung.
Schon seit drei Monaten protestieren die Menschen auf Malis Straßen. Die Bewegung des 5. Juni (M5/RFP) hat auch am 11. August wieder Hunderttausende in der Hauptstadt Bamako und den anderen Städten des Landes mobilisiert. Ihre Kernforderung: der Präsident Ibrahima Boubakar Keita und seine Regierung sollen zurücktreten. Die Demonstrierenden kommen aus allen Teilen der Gesellschaft und verschiedensten politischen Lagern. SADI (Solidarité Africaine pour la Démocratie et l’Indépendence), die Partnerpartei der Linken in Mali, mobilisiert für die Bewegung, deren wichtigste Führungsperson der Imam Mahmoud Dicko ist. Das ist keine natürliche Allianz: Imam Dicko hat nationale Berühmtheit durch seine religiös begründete Ablehnung einer progressiven Reform der Familiengesetzgebung im Jahr 2009 erlangt. Mitglieder der SADI sagen deutlich, dass es für die säkulare Linke wichtig ist, an der Bewegung teilzuhaben, damit diese nicht ausschließlich durch religiöse Führungspersonen geprägt wird.
Die Forderung des Rücktritts des Präsidenten begründet die Bewegung damit, dass er unfähig sei das Land zu regieren und es in eine immer tiefere Krise reite.
Es ist richtig, Keita ist gescheitert, aber nicht hauptsächlich wegen persönlicher Unfähigkeit. Vielmehr steht er symbolisch für die falschen Lösungsansätze für eine Krise, in der Mali seit der Rebellion und dem Putsch von 2012 steckt. Rebellion und Putsch aber haben ihre Ursachen lange vor 2012 und diese sind tief in den Strukturen des Staates verwurzelt. Um nur einige zu nennen: Perspektivlosigkeit vor allem für die Jugend, nicht nur im Norden, dort aber eklatant. Staatliche Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung sind prekär, zudem gibt es keine Polizei, die ihren Aufgaben gewissenhaft nachkommt: der Bekämpfung von Kriminalität durch Vorbeugung und Verfolgung. Es gibt keine Judikative, in die die Bevölkerung Vertrauen hat. Verschiedene Formen illegaler Ökonomien stützen die Macht der Milizen: Drogenhandel, Entführungen.
Die fehlende Sicherheit vor Gewaltakten organisiert Gesellschaft neu: Menschen schließen sich religiös und ethnisch formierten bewaffneten Gruppen an. Spaltungen und Differenzen entstehen, wo jahrzehntelang religiöse Toleranz stark war und ethnische Zugehörigkeit oft nur diffus war. Gewalt und Terror sind nun auch im Zentrum des Landes, im fruchtbaren Binnendelta des Niger, bestimmende Elemente des Alltags.
Zu den innermalischen Konfliktlinien kommt hinzu, dass in Mali internationale Konflikte ausgetragen werden. Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQMI) entstand aus salafistischen Gruppen, die im algerischen Bürgerkrieg gekämpft haben. Die MNLA (Mouvement National de Libération de l’Azawad) als nichtreligiöse separatistische Miliz des Nordens wird von Frankreich gefördert. Das Hineintragen internationaler Konflikte führt dazu, dass in Mali nicht verhandelt wird, wo dies für einen Weg zu Versöhnung und Frieden sonst möglich und notwendig wäre. Der «Kampf gegen den Terror» schließt Gruppen vom Verhandlungstisch aus, die für einen Friedensprozess am Tisch sitzen müssen.
Die militärische Intervention Frankreichs und seiner Partner gehorcht dieser Logik des internationalen Konfliktes und hat deshalb zur Verschärfung des Terrors und der militärischen Gewalt in Mali und in den Nachbarländern beigetragen. Das militärische Eingreifen aus Europa wird inzwischen von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt.
Diese Konflikte und Krisen werden nicht durch einen Wechsel an der Spitze des Staates gelöst.
Jetzt schnelle Neuwahlen und dann geht es weiter wie bisher. Das ist das Standardmodell für Situationen wie diese. Schon fordert die die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS den unverzüglichen Übergang zur konstitutionellen Ordnung. Ebenso die europäischen Staaten, die durch ihr militärisches Engagement Einfluss ausüben: Der Präsident Frankreichs, Emmanuel Macron, telefoniert bereits eifrig mit den Präsidenten der Region, darunter Alassane Ouattara der Côte d’Ivoire, der mit der Ankündigung einer Kandidatur für eine Dritte Amtszeit gerade die Verfassung seines Landes bricht und sich im eigenen Land dem Widerstand der Straße gegenüber sieht.
Das Modell wird aber wieder scheitern in Mali, denn es fußt auf der mehrfach widerlegten Annahme, dass das aktuelle Wahlsystem legitime Regierungen zur Folge hat. Das ist nicht der Fall. Liberale Demokratie mit Mehrheitswahlen für den Präsidenten und die Nationalversammlung, daraus ergibt sich in diesem Land keine handlungsfähige und schon gar keine legitime Regierung. Es werden dieselben Eliten in etwas neuer Konstellation kaum anders weiter regieren als bisher. Schon seit Jahrzehnten signalisiert die Wahlbeteiligung die fehlende Legitimität dieses Systems. Seit 1991 haben sich nie mehr als 30 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt. Herausgekommen sind dabei immer Regime, die das Enteignungssystem neoliberalen Wirtschaftens vertieft und sich selbst dabei bereichert haben. Der Staat wurde so zu einem Teil des Enteignungssystems, seine Einnahmen landeten über viele Formen von Korruption und Klientelwirtschaft auf den Schweizer Bankkonten der Führungsklasse. Für die Menschen war der Staat nicht da, von den Menschen gestaltet war er auch nicht und folglich auch nicht demokratisch. Wahlen suggerierten Demokratie, mehr nicht.
Könnte stattdessen eine Nationalkonferenz, wie sie bereits 1991 im Land zu einer neuen Verfassung geführt hatte, eine Alternative bieten? Eine solche wurde in den letzten Jahren von vielen Akteur*innen gefordert. Zwei Wochen, wie damals 1991, werden wohl kaum ausreichen. Und mehr als, wie schon damals, eine neue Verfassung und danach Neuwahlen sollte dabei auch herauskommen. Es bedarf eines längeren Prozesses der ökonomischen und sozialen Neufundierung des Landes. Erforderlich sind wirtschaftliche Souveränität und ein «État regalien“, also ein Staat, der aus dem Funktionieren staatlicher Aufgaben und Dienstleistungen seine Legitimität gewinnt: Schulen, Gesundheitsversorgung, Rechtssicherheit und nicht zuletzt Sicherheit.
Die Bewegung muss nun also Sorge tragen, dass sie nicht bald nach diesem ersten Erfolg, dem Rücktritt des Präsidenten, in sich zusammenfällt. Das kann ihr nur gelingen, wenn sie jetzt schnell intern den Diskurs führt, wie sie das Mali der Zukunft gestalten will und wenn sie für sich stabile und langfristige Organisationsformen findet. Sie muss die angebotene Beteiligung am Übergangsprozess einfordern. Entscheidend ist, wie tiefgreifend und substanziell die Veränderung ist, die in Mali nun vielleicht beginnt. Dies zu gewährleisten ist nun die Arbeit der Zivilgesellschaft und soziopolitischen Bewegungen wie der M5/RFP. Aus den anderen Ländern Westafrikas ist Solidarität gefragt und Klarheit in den Forderungen. Da in vielen von ihnen die Legitimation der amtierenden Präsidenten ebenfalls schwindet, werden ihre Regierungen und die westafrikanische Staatengemeinschaft die notwendige radikale Neuformierung der Gesellschaft zu verhindern versuchen. Sie nennen das «sofortige Rückkehr zur konstitutionellen Ordnung». Linke und Demokrat*innen aber sollten in Mali, und von außen solidarisch mit Mali, vielmehr einen demokratischen Prozess zu einer fundamental anderen neuen Ordnung fordern. Dieser Weg bietet die Chance für ein stabiles und demokratisches Mali. Ob auf diesem Weg eine Nationalkonferenz einen Meilenstein darstellen wird oder welche anderen Routen er nimmt, diese Entscheidung obliegt den Malier*innen. Dass Mali diesen Weg gehen kann, das müssen wir auch in Deutschland einfordern und in den anderen in Mali militärisch präsenten Staaten. Es ist dabei zu akzeptieren, dass dieser Weg länger dauern wird als schnell Wahlen durchzuführen, an deren Ende dieselben Instabilitäten und dieselbe wenig demokratische Ordnung stehen würden.