Rosa-Luxemburg-Stiftung: Die Geschehnisse rund um die Präsidentschaftswahlen in Bolivien letztes Jahr im Oktober hängen eng mit dem Referendum vom 21. Februar 2016 zusammen, in dem es um eine erneute Kandidatur Evo Morales für eine vierte Amtszeit ging. Was war deine Haltung zum Referendum?
Mario Rodríguez: Ich war sehr verärgert über das Referendum. Ich fand es furchtbar, wie die Partei Bewegung für den Sozialismus (MAS) ihren beeindruckenden Rückhalt an den Wahlurnen so verschwenden konnte. Unabhängig von ihren Erfolgen oder der Kritik, die wir an ihr üben können, hatte die Regierung eine historisch große Wähler*innenschaft. Und dann initiierten sie plötzlich dieses Referendum, um das Präsidentschafts-Zweiergespann von Evo Morales und Alvaro García Linera erneut kandidieren zu lassen, und übergingen damit die in der neuen Verfassung von 2009 vereinbarten Regelungen. Ich fragte mich, wie uns die MAS in diese Lage bringen konnte. Denn damit schuf sie eindeutig den Nährboden für einen oppositionellen Diskurs, der speziell von der Rechten radikalisiert wurde und der Regierung von Evo Morales nicht nur Autoritarismus vorwarf, sondern sie sogar als eine Diktatur bezeichnete. Somit konnte die Opposition den Mythos bemühen, dass linke Regierungen immer in Diktaturen enden. Ich entschied mich, beim Referendum nicht abzustimmen, weil ich es als unglaublich ungerecht empfand, dass die MAS uns in diese Situation gebracht hatte.
Mario Rodríguez ist Fernseh- und Radiomoderator, arbeitet in der politischen Bildung und hat das Kollektiv Wayna Tambo – Red de la Diversidad (Netzwerk für Vielfalt) –, mitgegründet, einen der größten freien Radiosender, der mit vielfältigen Gemeinschaften auf dem Land, in der Stadt und Jugendlichen zusammenarbeitet. Wayna Tambo ist eine der Partnerorganisationen der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bolivien.
Und dann wurde das Votum gegen die Wiederwahl von Evo Morales nicht akzeptiert.
Das kam dann noch hinzu. Als die MAS gemeinsam mit dem Verfassungsgericht die Kandidatur von Evo Morales für zulässig erklärte, war das nicht legal, gegen die Verfassung und hatte keinerlei Berechtigung. Das ermöglichte der Rechten und Teilen der Mittelschicht, den Demokratiediskurs wieder für sich zu vereinnahmen, indem sie vorgaben, für die Rückkehr zu einer liberalen Demokratie zu stehen.
Gleichzeitig bildete sich schon zu jener Zeit ein anti-indigener Diskurs heraus, der die Konzepte des «Bolivianischen» und des Mestizentums wiederbelebte als Gegenpol zur Idee des Plurinationalismus und der Regierungsbeteiligung von Indigenen, die – so schon der Vorwurf der kolonialen Mittel- und Oberschicht in Bolivien – immer ineffizient und korrupt wären und die Macht auf sich konzentrieren würden, wie man am Beispiel von Evo sehen würde.
Was hat dieses Vorgehen der MAS bei der Bevölkerung ausgelöst?
Bei vielen führte es nicht nur zu Enttäuschung, sondern auch zu Wut und Ärger über die Unfähigkeit der MAS-Regierung, eine Debatte und einen internen Prozess der Nachfolge und Ablösung von Evo einzuleiten.
Das war die Situation nach dem Referendum 2016. Wie hast du danach die Stimmung vor der Wahl im Oktober letzten Jahres wahrgenommen?
Ich habe vor den Wahlen eine riesige Besorgnis im Land erlebt. Wir wussten, dass wir mit der MAS und ihrer Art der Staatsführung auf keine großen Veränderungen mehr hoffen konnten. In den letzten Jahren wurde immer deutlicher, dass die MAS und Evo an ihre Grenzen stießen – an die Grenzen ihres Diskurses des Wandels und der radikalen Transformation.
Warum wurde denn dann nicht schon 2013 oder 2016 ein anderer linker Kandidat als Alternative zu Evo Morales aufgebaut?
Das habe ich mich auch schon sehr oft gefragt. Aber eigentlich glaubten wir nie daran, dass wir auf dem Weg der Wahlen etwas erreichen könnten. Wir schenkten den Wahlen kaum Aufmerksamkeit und investierten keine Energie in die Suche und den Aufbau von linken, bewegungsnahen Wahlalternativen. Die einzige Option, die aus dem Sektor sozialer Bewegungen geblieben war, waren Evo Morales und die MAS – und alle Alternativen zu Evo vertraten rechte Positionen und waren viel schlimmer. Insgeheim glaubten viele von uns, dass Evo so oder so weiter die Wahlen gewinnen würde – egal auf welchem Wege – und solange Evo an der Macht war, schien eine linke Alternative aussichtslos.
Wir gingen davon aus, dass unsere politische Arbeit sich letztlich immer mit der Regierung von Evo würde auseinandersetzen und mit ihr verhandeln müssen. Deswegen versuchten wir, unsere Kräfte für diese Art der Verhandlungen zu bündeln. Wir widmeten unsere Anstrengungen der gemeinschaftlichen Ebene, anderen Formen der Macht und einer anderen Auseinandersetzung mit institutionellen Strukturen – der Stärkung des Gemeinwohls aus der Gemeinschaft heraus. Es lag außerhalb unserer Vorstellungskraft, dass wir uns einmal mit einer rechten Regierung auseinandersetzen müssten. Wir glaubten nicht, dass die Rechte an die Regierung gelangen könnte.
Im Vorfeld der Wahlen letztes Jahr hat sich das Szenario allerdings deutlich verändert. Die Rechte wurde zu einer realistischen Wahlmöglichkeit, was sie vorher nicht war.
Wie habt Ihr Euch angesichts dieses neuen Szenarios positioniert?
Im letzten Moment begannen wir, in breiten Teilen der Bewegung zu diskutieren. Die Frage war: «Wenn sich das so weiterentwickelt und die Rechte tatsächlich gewählt werden könnte, würden wir dann Evo wählen oder nicht?» Am Anfang sagten wir noch: «Wir würden trotzdem nicht für Evo stimmen. Bei diesen Wahlen werden wir für niemanden stimmen – genauso wie beim Referendum 2016. Wir interessieren uns nicht für diesen Ort der politischen Auseinandersetzung, der immer korrupter und schlimmer wird. Wir wollen uns nicht in diesen Wahlkampf zwischen einer desaströsen MAS und einer doppelt so desaströsen Rechten begeben, ohne Wahlalternativen zu haben.»
Doch je näher die Wahlen rückten, desto gerissener wurde die Strategie der Opposition, die einen wichtigen Teil der sozialen Bewegungen für sich gewinnen konnte – d. h. Mobilisierungskraft, die Macht der Straße und Menschen, die tatsächlich glaubten, dass dies der Weg der Verteidigung der Demokratie wäre. Es gelang der Opposition sogar, Menschen aus dem linken Spektrum für sich zu gewinnen: akademische Kreise, Gruppen aus dem Bereich der Menschenrechtsverteidigung. Die Rechte wurde tatsächlich immer mehr zu einer politischen Option.
Hat das Eure Haltung irgendwann verändert?
Viele Leute – auch ich – befanden uns vor den Wahlen in dieser Zwickmühle: Einerseits wussten wir, dass Evo nicht der Hauptgegner war, sondern die sich formierende Rechte – gleichzeitig war Evo aber eben inzwischen unvertretbar geworden. Du kannst mir glauben, dass wir in meinem politischen Umfeld sehr intensive interne Debatten geführt haben. Doch am Ende sagten wir uns: «Uns bleibt keine andere Option, als Evo zu wählen, obwohl wir bei unserer starken Kritik an ihm bleiben. Aber wir würden niemals die Rechten wählen. Wir müssen ihre Präsidentschaft verhindern, denn mit ihnen an der Macht wäre alles viel schlimmer.»
Große Teile der Bevölkerung an der Basis, in den barrios, entschieden sich ebenfalls, Evo zu unterstützen – trotz seines schlechten Politikstils, seiner zunehmenden Machtkonzentration und des nicht korrekten Vorgehens, mit dem er sich seine Kandidatur erschlichen hat.
Wie hast Du dann die Ereignisse am Wahltag, dem 20. Oktober 2019, erlebt?
Angesichts all dessen, was am Wahlabend passierte, als die digitale Schnellauszählung gestoppt wurde, war ich tief enttäuscht. Ich dachte, «wie schade, dass der Prozess des Wandels[1] mit einem Vorwurf des Wahlbetrugs endet und kein würdiges Ende mit all seiner sozialen und politischen Bedeutung nimmt, sondern stattdessen die Glaubwürdigkeit der gesamten Basisbewegung und der Linken zerstört!» Das war mein Eindruck in der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober.
Dieses Enttäuschungsgefühl der ersten Nacht über die enormen Fehler der MAS bei den Wahlen wurde mit der Zeit allerdings verdrängt durch eine noch größere Sorge angesichts dessen, dass sich die konservativsten Sektoren des Landes verbündeten und die USA sich einmischten – die klassischen Schritte für einen Staatsstreich der neuen Generation.
Was geschah am Tag des Rücktritts von Evo Morales, am 10. November, und danach?
An diesem Tag dachten viele von uns, dass es keinen Sinn ergeben würde, für den Verbleib von Evo zu kämpfen. Ich hatte das Gefühl, dass die Rechte gewonnen hatte und dass uns Schlimmes bevorstand, aber zugleich fühlte ich Erleichterung darüber, dass Evo in diesem neuen Szenario nun nicht mehr so eine zentrale Rolle spielen würde. In El Alto standen die Leute in Gruppen auf der Straße und weinten. Das hat mich wirklich beeindruckt.
Ich sagte mir: ‹Das ist der Moment der Basisbewegung – das wird ein Neuanfang!›
Gleichzeitig dachten die Leute aber: «Es ist okay, dass er geht. Wir haben ihn ins Amt gebracht und er hatte seine Zeit. Jetzt soll er gehen und wir sind selbst an der Reihe. Ich sagte mir: «Das ist der Moment der Basisbewegung – das wird ein Neuanfang!» Auf der anderen Seite gab es die Sektoren der Mittelschicht und der Wohlhabenden des Landes. Die rechte Propaganda war wirklich brutal und es war schrecklich mit anzusehen, wie die Leute aus den Stadtvierteln besagter Sektoren in La Paz diese Diskurse der Rechten beklatschten.
Wie hat sich Deine Organisation Wayna Tambo angesichts all dessen positioniert?
Die ersten drei Wochen nach den Wahlen konzentrierten wir uns gemeinsam darauf, die öffentliche Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welche Ideologie die Rechte verbreitete, ohne dabei von unserer Kritik an Evo abzurücken.
Aber als Evo zurücktrat und die heftige Repression mit Verfolgungen, Verhaftungen und später den Massakern begann, schweißte uns das als Gruppe, als Wayna Tambo, im Sinne der Verteidigung der Menschenrechte zusammen. Wir sagten: «Wir stehen zu den Menschen und verteidigen ihre Rechte unabhängig davon, ob sie MAS-Anhänger*innen sind oder nicht. Sie haben das Recht, ihre Position zu verteidigen.» Und das machten wir erst recht angesichts der aggressiven medialen Stimmung, die sich gegen die Leute in El Alto richtete.
Selbst die überzeugtesten Evo-Gegner*innen in unserem Netzwerk verteidigten die Bevölkerungsgruppen, die gegen die aus dem Putsch hervorgegangene neue Regierung auf die Straße gingen. Die Beleidigungen und Verleumdungen gegenüber den MAS-Leuten waren so brutal, dass sich bei uns eine Haltung herausbildete nach dem Motto «zum ersten Mal fühlen wir uns stolz, wenn sie uns Masistas (MAS-Anhänger*innen) nennen», obwohl wir es nie waren und ich überzeugt bin, dass wir es nie sein werden. Dabei handelte es sich vielmehr um eine Klassenidentifikation mit der indigenen Kultur – mit den Sektoren, die durch den im Zuge des Staatsstreichs erwachsenen Diskurs attackiert wurden.
Nachdem Ihr all das erlebt habt – was ist eure Position für die nun anstehenden Wahlen?
Viele der Gruppen von Wayna Tambo und des Netzwerks sind der Überzeugung, dass es bei der aktuellen Lage keine andere Möglichkeit gibt, als für die MAS zu stimmen, trotz all des Mists, den sie gemacht haben, und der Rolle, die Evo Morales im Hintergrund immer noch spielt. Wir brauchen eine starke Fraktion der MAS im Parlament angesichts dessen, was die Rechte tun könnte – auch wenn die MAS wohl kaum an die Regierung kommen wird –, aber wir brauchen ein Gegengewicht zu dem, was diejenigen machen, die derzeitig das Land regieren.
Leider stellen die Kandidaten, die sich bei der MAS hervortun, nicht wirklich eine Option dar, die es sich lohnt zu wählen. Aber wenn wir das zum zentralen Punkt unserer Diskussion machen, sind wir verloren. Wir brauchen eine langfristig ausgerichtete Debatte über die politische Ebene und die Rolle des Staates. Bisher haben wir eine Strategie verfolgt, die an die territorialen Gemeinschaften auf dem Land und in der Stadt und die lokalen Kontexte geknüpft war. Es ist aber nun mal ein Unterschied, ob wir diese Strategie unter der MAS oder einer rechten Regierung verfolgen. Wir arbeiten daran, unsere Autonomien zu vertiefen und uns weiter mit der Verwaltung des Gemeinwesens und der öffentlichen Güter durch das Subjekt der Gemeinschaft auseinanderzusetzen. Wir gehen aber davon aus, dass das nicht ausreicht und dass wir staatliche Politiken benötigen, die diese Autonomien fördern oder zumindest sichern. Mit den Rechten in der Regierung ist dies noch schwieriger – das zwingt uns dazu, in noch mehr Bereichen Widerstand aufzubauen. Wir befinden uns jetzt in einem anderen Szenario, das wir noch diskutieren und verstehen müssen.
[1] Als Prozess des Wandels («proceso de cambio») oder schlicht «der Prozess» wird das politische Vorhaben bezeichnet, für das die Regierung Evo Morales stand und das mit den sozialen Kämpfen um Wasser und Gas Anfang der 2000er Jahre begann: die Errichtung eines integralen Plurinationalen Staates über den Weg einer sozialen, ökonomischen und politischen Transformation und den Bruch mit alten Hegemoniestrukturen der postkolonialen Eliten des Landes. Protagonist*innen dieses Prozesses sollten diejenigen Gruppen und Klassen sein, die historisch benachteiligt und von der Macht ausgeschlossen waren.