Ereignisse entwickeln sich selten nach Vorgabe externer Analysten. In den zwei Wochen nach der durch Lukaschenkos Machtapparat gefälschten Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August überdauerte kaum eine der dramatischen Voraussagen den nächsten Tag.
Die Opposition in Belarus erwies sich als klüger, besonnener und handlungsfähiger, als man ihr nach den ersten Tumulten und gewalttätigen Reaktionen der Staatsmacht aus Ost und West zubilligte, trotz ihrer politischen Differenziertheit. Insofern kann und wird in Belarus entscheidend werden, ob und wie weit sie sich eigenständig entwickeln darf und kann.
Kerstin Kaiser leitet das Moskauer Auslandsbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Zahlen und Prozente der Wahl selbst lohnen keine Analyse. Das angebliche Wahlergebnis von über 80 Prozent für den «ewigen» Präsidenten Alexander Lukaschenko, der für diesen Status vor langer Zeit schon die Verfassung des Landes außer Kraft gesetzt hatte, ist bekannt und unglaubwürdig, weil offensichtlich gefälscht. Das ist Konsens, international wie unter der Bevölkerung von Belarus. Jedoch bezweifeln selbst Kritiker und Gegner der jetzigen Macht, dass ein Sieg von Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja belegbar wäre.
Bei Ereignissen in ehemaligen Republiken der UdSSR und an den Grenzen zur heutigen Russländischen Föderation versperren leider jahrzehntelang gepflegte Klischees und eindimensionale Analysen möglicher Entwicklungspfade auch seriösen Berichterstatter*innen den Blick auf Ursachen, Motive und Lösungsvorschläge der jeweils innergesellschaftlichen Opposition. Die Situation in Belarus ist eine gute Gelegenheit, um diesen Ballast abzuwerfen.
Die erst kurz vor dem Knall des Wahlbetrugs aufgewachten Beobachter*innen spekulierten tagelang über die Aufgaben der EU gegenüber Belarus, beschworen einen erneuten Maidan und bringen Putins «Interventionsgelüste» ins Spiel. Mögliche Interessen, Widersprüche, Entwicklungen in der Gesellschaft von Belarus und die Durchsetzungsmöglichkeiten der oppositionellen Forderungen wurden praktisch nur in dieser Klammer gedacht.
Opposition und Zivilgesellschaft - bis hin zu vorher offenen Unterstützer*innen Lukaschenkos – reagierten währenddessen auf die staatlichen Gewaltexzesse der Nachwahl-Woche mit Aufrufen und friedlichen Demonstrationen gegen gewaltsame Lösungen. Die vorher kaum bekannten oppositionellen Kräfte traten entschieden, selbstbewusst und eher nachdenklich auf die politische Bühne.
Faust & Herz & Victory
Swetlana Tichanowskaja in der Mitte mit erhobener Faust, Maria Kalesnikawa mit Herz- und Weronika Zepkalo mit Victory-Zeichen. Das sympathische Foto macht klar: Lukaschenko soll weg. Ihr Aufruf an die Wählerschaft blieb deshalb ganze fünf Punkte kurz:
- Teilnahme an der Wahl und Stimmabgabe für die Opposition;
- Befreiung aller politischen Gefangenen und wegen wirtschaftlicher Vergehen Verurteilter. Überprüfung aller Urteile;
- Ehrliche, erneute Wahl bald nach dem 9. August 2020;
- Transparenz und Information für Wähler*innen, wie sie ihre Stimme (ab)sichern können;
- Aufruf, sich Initiativen wie «Für ehrliche Wahlen» oder «Recht auf Wahl», anzuschließen und Wahlbeobachter zu werden, um am Wahltag bei der Abstimmung die «vorgeschlagenen Mechanismen» anzuwenden, um das eigene Erscheinen und die Stimmabgabe bei der Wahl zu dokumentieren.
Wir setzen die Arbeit fort! Schließt euch der Mehrheit an! Verfolgt die Prinzipien der Kampagne, erzählt davon euren Freunden, überzeugt diejenigen, die noch zweifeln. Gemeinsam werden wir siegen! (Übersetzung nach Instagram-Text von Kalesnikava, 8431 likes bis zum Wahltag, dem 9. August)
Die Staatsmacht hatte vorab alle möglichen Herausforderer Lukaschenkos zur Präsidentschaftswahl längst ausgeschaltet: Blogger Sergej Tichanowskij und Bankmanager Viktor Barbariko sind im Gefängnis, wie der langjährige Widersacher Lukaschenkos, Mikolaij Statkjewitsch. Den Ex-Diplomaten und Geschäftsmann Valerij Zepkalo zwang man ins Ausland. Unerwartet schmiedeten drei Frauen aus deren Umfeld und Wahlkampfteams ein Bündnis um Herausforderin Tichanowskaja, die dann überraschend als Kandidatin zur Wahl zugelassen worden war. Vermutlich unterschätzten Lukaschenko und sein Umfeld die Deutsch-Englisch-Lehrerin als politisch «unbeschriebenes Blatt» genauso wie die Stimmung im Land und die Dynamik der folgenden Ereignisse.
Noch Wochen vor der Wahl wollte Walerij Mankjewitsch als Wahlkampf-Manager der Opposition in einem medienöffentlichen Disput mit Politikwissenschaftler Pjotr Piatrowski (Historische Akademie der Wissenschaften) nicht begründen, warum die Opposition nicht Wahlkampf-Demonstrationen, Meetings und Versammlungen offiziell anmeldete, um sie zu legalisieren: Opposition und Wahlstab würden offiziell keine Verantwortung für die Organisation übernehmen, denn alle Menschen hätten schließlich das Recht, sich jederzeit und überall im Land zu versammeln. Über Wähler-Zielgruppen der Opposition, Inhalte und Forderungen, die nach dem Machtwechsel realisiert werden sollten, gab er weiter keine Auskunft. Das Gespräch wurde - trotz des routinierten Moderators und klarer Fragen - zu einer verbalen Schlacht, bei der Unverständnis und Misstrauen gegeneinander deutlich wurden, aber auch der bedrohliche politische Druck, unter dem beide Seiten standen. Offensichtlich wurde Swetlana Tichanowskaja selbst bedroht und dann gezwungen, ihr Land zu verlassen.
Dass nach dem Wahlsonntag die Gewalt durch Polizei und Spezialkräfte gegen friedliche Demonstranten in einem für Belarus bisher unbekanntem Ausmaß eskalieren würde, kam leider nicht unerwartet. Nach Lukaschenkos Drohungen verwunderte es nicht, dass sich auch oppositionelle Demonstranten unter Motorradhelmen, Gasmasken und Sturmhauben verbargen, Straßensperren und Barrikaden bauten, Molotow-Cocktails warfen oder nachts mit Autokorsos durch Wohngebiete lärmten.
Dass friedlicher Protest gegen Lukaschenko eine Woche danach das ganze Land erfasste, Arbeiter*innen staatlicher Betriebe, Journalist*innen und selbst Staatsbedienstete zu streiken begannen, lag an dem tief gehenden Erschrecken der gesamten Bevölkerung über tausendfache Festnahmen, Gewalt und Folter im tagelangen Polizeigewahrsam, nachdem die Bilder und Augenzeugenberichte über alle Medien verbreitet wurden. Noch immer gibt es Vermisste.
Für viele Menschen in Belarus, die sich bis dahin passiv verhalten hatten, die für oder gegen die autoritär herrschende Staatsmacht eingestimmt waren, hatte Lukaschenko jetzt die entscheidende Grenze überschritten, die den Stimmungsumschwung gegen ihn bewirkte. So, wie die Bevölkerung nicht landesweit Polizeikräfte als ihre Feinde ansah, kann nach bisherigen Einschätzungen auch nicht davon ausgegangen werden, dass eine Mehrheit der Polizist*innen zu Gewaltexzessen gegen die eigene Bevölkerung bereit war. Und so kam es dazu, dass immer mehr Leute aus den verschiedensten sozialen Gruppen und Schichten demonstrierten und gemeinsam skandierten: «Uchodì!» – «Hau ab!»
Ohne Russland – und EU-Fahnen
Russland und Belarus bilden die Russisch-Belarussische Union, eine Art Bundesstaat, der 1996 von Jelzin und Lukaschenko ins Leben gerufen wurde. Die engen Verbindungen sind außerdem wirtschaftlich durch die Mitgliedschaft in der der Eurasischen Wirtschaftsunion (EWU) sowie sicherheitspolitisch und militärisch unter dem Dach der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) institutionalisiert. Diese Situation wird durch keine nennenswerte politische Kraft infrage gestellt. Die Grenze zwischen beiden war immer offen, die engen wirtschaftlichen Verflechtungen sind evident. Außerdem hat in der belarussischen Hauptstadt Minsk die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ihren offiziellen Sitz, in der nach wie vor zehn ehemalige Sowjetrepubliken wirtschaftlich und politisch organisiert sind. Insofern kann Russland schwer «fehlende Distanz» (Sabine Fischer, Stiftung Wissenschaft und Politik) zu den aktuellen Vorgängen vorgeworfen werden.
Die Verhältnisse in der modernen Hauptstadt Minsk mit zwei Millionen Einwohnern unterscheiden sich krass von anderen Städten und ländlichen Regionen. Insgesamt leben in Belarus 9,5 Millionen Menschen. Unter Führung - und später Herrschaft - von Alexander Lukaschenko wurde die Wirtschaft des kleinen Landes nicht privatisiert, wird nicht von in- und ausländischen Oligarchen beherrscht, sondern blieb in den Händen des Staates. Soziale Rechte und einige Errungenschaften aus Zeiten der UdSSR, wie das Bildungs- und Gesundheitswesen, überstanden die Transformation, gerieten aber mit in die andauernde Effektivitäts- und Wirtschaftskrise. Diese konnte weder durch die umfangreichen Sanktions-Substitutionen für Russland einerseits noch durch andauernde Subventionen aus Russland andererseits aufgefangen werden. So ist die Unzufriedenheit der belarussischen Bevölkerung über längere Zeit gewachsen, mit ihr wuchs der Wunsch nach einem politischen Wechsel. Lukaschenkos populistische «Schaukelpolitik» gegenüber Russland und der EU und das Versagen in der Corona-Pandemie beschleunigten diese Entwicklung.
Belarus widersprüchliche Sicherheitsinteressen ergeben sich aus seiner Grenzlage zu Polen, der Ukraine, zu Russland, Lettland und Litauen. Die EU war sich lange Jahre nicht einig, den politischen Druck wie gegen Russland und Putin auch gegen Belarus und Lukaschenko zu verschärfen. Dabei sind dessen autoritäre Politik, Wahlfälschungen, Verfolgung politischer Gegner*innen und deren Emigration keine neue Erscheinung. Mit der Ukraine-Krise und der «Minsker Vereinbarung» sah Lukaschenko seine Chance und das Angebot, lästige EU-Sanktionen loszuwerden und Belarus als «Brücke von West nach Ost» neu mit internationaler Reputation auszustatten. Auch Ärger mit Putin riskierte er dafür. Wohlkalkulierte Machtpolitik sollte Belarus Vorteile aus der EU-Nachbarschaftspolitik und dem Staatenbund mit Russland bringen.
Für die Bürger*innen von Belarus sind Schengen-Visa Alltag: Nach der Ausbildung arbeiten viele im EU-Ausland. Dennoch scheint ihr Ruf nach mehr EU und weniger Russland auch durch eigene Erfahrungen und soziale Kontakte nach Polen, Rumänien und Bulgarien oder in frühere Sowjetrepubliken, wie Georgien und Moldowa, ausgeblieben zu sein. Wohl aus diesem Grund wehten bei der Opposition bis heute keine EU-Fahnen.
Die Erwartungen der Bevölkerung an einen sozialen und Machtwechsel im Land werden lauter und werden kommende Wahlen beeinflussen. Noch trägt die breite Ablehnung von Lukaschenko und der Staats-Gewalt den demokratischen Konsens.
Ostwind schwach und linksdrehend
Aus Russland kam ein widersprüchliches, emotionales Echo auf die belarussische Krise. Präsident Putin gratulierte zwar formal zum «Wahlsieg», setzt aber seither auf Telefon-Diplomatie und auffallende Zurückhaltung. Die liberale Opposition und ein Großteil der Medien hierzulande solidarisierten sich mit den Protestierenden in Minsk, Grodno und Brest. Aus «Batjka» (Vater) wurde der Diktator Lukaschenko. Antikommunist und Nationalist Wladimir Schirinowskij feiert sogar das «Ende des bolschewistischen Regimes in dieser Republik».
Der Belarus-Experte des Moskauer Europa-Instituts Nikolai Meshewitsch begrüßt diese Position der Nichteinmischung: Unterstützung oder Nicht-Unterstützung für Lukaschenko ist der falscher Fokus für Position Russlands. «Die Menschen in Belarus sollten die Möglichkeit haben, ihren Entwicklungsweg selbst zu wählen – ohne Einmischung auch jener Länder, die jahrzehntelang Revolutionen im postsowjetischen Raum beförderten. Dabei geht es um das ganze Volk und nicht nur um die städtische Intelligenzija...» (Теlegram-Kanal Главные Новости РИА t.me/rian_ru).
Politologe und Linker Boris Kagarlitzkij erwartet «einen Kampf für die demokratische und soziale Umwandlung der Gesellschaft, nicht nur in Belarus, sondern auch in Russland wie im ganzen postsowjetischen Raum. Niemand gibt die Garantie, dass alles gut endet…Alles wird anders, - aber nicht so, wie jene denken, die keinen Unterschied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart erkennen» (Telegram-Kanal Кагарлицкий letters https://t.me/kagarlitsky). Das zielt auf KPRF-Chef Gennadij Sjuganow, der die belarussische Opposition als unerfahren kritisierte und ihr vorwarf, Machtübernahme durch Provokationen zu betreiben. Doch in einem Punkt sind er und Kagarlitzkij sich einig: Jede Destabilisierung von Belarus würde auf Russland übergreifen.
Für eher links einzuordnende Oppositionskräfte in Belarus und Russland lässt sich aktuell eine Art Konsens festhalten: 1. Ablehnung staatlicher Gewalt gegen das Volk und von Folter durch Polizei. 2. Forderung nach Aufklärung der Vorgänge und Verbrechen. 3. Situation ist nicht vergleichbar mit dem Maidan in der Ukraine 2013/14. 4. Gesellschaft in Belarus soll selbst entscheiden und dabei nicht in die Falle der Schein-Alternative «mit Russland oder mit der EU» geraten. 5. Ablehnung der Politik von EU und NATO genauso wie Ablehnung der Softpower-Strategie und «Werte-Politik» des Westens.
Für die Trennlinien zwischen linken Parteien, Organisationen und Politolog*innen beider Länder gibt es relevante Marker, wie z.B. das Verhältnis zur sowjetischen Geschichte und autoritären Politik, nationaler Patriotismus, Akzeptanz der geopolitischen Rolle Russlands mit dem eurasischen Raum, Interesse und Kritik am Agieren der linken Kräfte in den Ländern der EU. Auch deshalb sind sie in ihren Bewertungen teilweise uneinig.
Unter Linken wird öffentlich mit-, über- und gegeneinander debattiert. Folgende ausgewählte Themen zeigen, dass sich Betroffenheit und Perspektiven in Belarus und Russland von Schwerpunkten Linker in Deutschland und Westeuropa unterscheiden:
- Politischer Umsturz oder soziale Revolution? Sind die Demonstrationen tatsächlich Ergebnis einer Entwicklung innerhalb von Belarus oder wie weit wurden Elemente farbiger Revolutionen und Einfluss der internationalen Netzgemeinde wirksam?
- Soll Lukaschenko die Wahl fair, transparent und öffentlich kontrolliert wiederholen lassen – also wieder antreten - oder besser sofort oder nach einer Übergangszeit zurücktreten?
- Wie weit trägt der Konsens «für ein freies und gerechtes Belarus» mit der liberalen Opposition Tichanowskajas, wenn doch soziale Rechte und Forderungen der Betriebsbelegschaften zum Erhalt von Arbeitsplätzen und besserer öffentlicher Daseinsvorsorge außen vor sind?
- Sind nach der Ablösung Lukaschenkos die Privatisierung und Oligarchisierung der Wirtschaft - wie in Russland und der Ukraine - und eine Politik der Dekommunisierung zu befürchten?
- Wie weit soll und kann die weitere Integration von Belarus in den Bundesstaat mit Russland gehen? Integrationsverhandlungen waren Ende 2019 ausgesetzt worden, für Irritationen hatten nationalistische Ausfälle und russlandfeindliche Äußerungen Lukaschenkos zuletzt im Wahlkampf gesorgt.
Die Belarussische Partei der Linken «Gerechte Welt», gegründet aus der demokratisch-oppositionellen Partei der Kommunisten Belarus, protestierte am 12. August unmissverständlich gegen die Wahlfälschung und Polizeigewalt.
Ihr Vertreter Sergej Kaljakin bekräftigte im Gespräch, dass der Protest in Belarus nicht aus dem Ausland gelenkt sei. Die Leute hätten die Nase voll davon, dass sie nicht ernst genommen, ja, von Lukaschenko und der Regierung für dumm verkauft würden. Die Lage spitzte sich erst so zu, als Interessierte in die Wahllokale gingen und Ergebnisse erfahren wollten. Diesmal wurden keine Resultate ausgehängt, verprügelt wurden die Leute schon für das einfache Nachfragen. Kaljakin bewertet es als «schmerzhaft und kompliziert», dass im In- und Ausland sich diese Vorgänge nun politische Kräfte zunutze machen könnten, denen die Bevölkerung in Belarus völlig egal sei.
Der Aufruf der Partei «Gerechte Welt» vom 21. August unterstrich die Forderung nach sofortigem Rücktritt Lukaschenkos, der «faschistische Methoden» gegen die Bevölkerung angewandt habe, nach Bestrafung der Sicherheitskräfte für unangemessene Gewaltanwendung gegen friedliche Bürger, nach sofortiger Freilassung aller politischer Gefangenen. Er endet mit der Zusage, selbst alles dafür zu tun, «dass sich diejenigen zivilgesellschaftlichen Kräfte sowie politische und gesellschaftliche Organisationen in Belarus und Russland konsolidieren könnten, die brüderliche Beziehungen zwischen den Völkern und im Bundesstaat Belarus und Russland anstrebten».
In der Duma-Fraktion der KPRF war offener Streit ausgebrochen, nachdem sich der Abgeordnete Valerij Raschkin über den oppositionellen Kanal «Echo moskwy» zu Wort gemeldet hatte. Unter der Überschrift; «Ich kann nicht schweigen» stellte er sich gegen Lukaschenko und auf die Seite von Bevölkerung und Opposition in Belarus. Er machte sich für demokratische Veränderungen stark und lehnte Gewalt gegen Opposition und Bevölkerung ab. In Moskau heißt es, Raschkin sei von Partei- und Fraktionschef Sjuganow zurechtgestutzt worden. Tatsächlich steht er in der Partei aber nicht allein. Dass Sjuganows politischer Stern sinkt und in der KPRF eine neue Generation von Politiker*innen ihre Positionen auskämpft, die weniger im 20. Jahrhundert verhaftet ist und sich eher von glaubwürdigen und pragmatischen Personen wie Lewtschenko und Grudinin beeinflussen lässt, ist ein offenes Geheimnis.
In Russland finden am 13. September die alljährlichen Regionalwahlen statt. Insbesondere in moskaufernen Regionen läuft seit Wochen intensiver Wahlkampf, befeuert durch die Vorgänge in Chabarowsk, wo der Gouverneur abgesetzt und verhaftet wurde. Seither demonstrieren dort und in vielen Städten Russlands Menschen gegen den Politikstil Putins.
Wer aber schon jetzt behauptet, die Ereignisse in Belarus nähmen die Entwicklung in Russland nach der nächsten Präsidentschaftswahl 2024 vorweg, stochert im Nebel.
Sanktionen und Feindbild – aus dem Westen nichts Neues
Auf dem EU-Gipfel vom 19. August wurden Sanktionen beschlossen, angeblich personalisierte Maßnahmen gegen Mitglieder der belarussischen Polit-Elite, die sich der Wahlfälschung und Repression schuldig gemacht haben. Ja, treffen können solche Strafmaßnahmen, aber nur Leute der Oberschicht, die Geld oder Besitz im Ausland haben. Der politische Erfolg ist umstritten. Vor Jahren hatte die EU Sanktionen gegen Belarus ausgesetzt, nun will sie Signale von Entschlossenheit, Moral und Rechtfertigung senden, sich aber nicht weiter einmischen. Auch DIE LINKE in Deutschland entschloss sich erstmals, solche Sanktionen zu befürworten. Bleibt die Frage: Hat vorher eigentlich irgendjemand die Demokratiebewegung in Belarus gefragt, ob sie das für sinnvoll hält? Äußerungen von Tichanowskaja aus Litauen, die eine Amnestie für Mitglieder der Staats- und Sicherheitsorgane erwägt, gehen eher in die entgegengesetzte Richtung. So demonstrierte Entschlossenheit lenkt ab von tatsächlicher Ratlosigkeit der EU-Staaten und ihrer Uneinigkeit zum Belarus-Komplex.
Selbst Anti-Russland-Hardliner im Institut für Liberale Moderne mussten eingestehen, dass es in Belarus nicht um eine Entscheidung zwischen Ost- und Westorientierung gehen kann. Die gängige Formel über das Recht aller Menschen auf freie Wahl zwischen EU-Werten und dem Rest der Welt bleibt hier unausgesprochen, dennoch werden Putin, Russland, der Kreml und alle Chiffren für das «Reich des Bösen» in die Debatte geworfen: Die Unterstützung Belarus sei notwendig, wichtig und richtig, weil es gegen Putin ginge. «Die Eskalationsdominanz liegt immer bei Putin» – so die Süddeutsche Zeitung am 24. August 2020. Seit Tagen wird über russische Interventionen spekuliert, die dann im Nebensatz wieder für unwahrscheinlich erklärt werden. Belegt zwischen Putin und Lukaschenko ist bisher ein Telefonat vor dem EU-Gipfel, dessen Zusicherungen an Lukaschenko in Russland selbst als Absage verstanden wurden: Intervention derzeit nicht vorgesehen.
Was bringt also derart verbale Aufrüstung aus Deutschland den Streikenden und Polit-Häftlingen in Minsk, wie stärkt das die Politik Swetlana Tichanowskajas?
Bemäntelt werden offenbar die EU-eigenen widerstreitenden Macht-, Gas- und Wirtschaftsinteressen zwischen Deutschland und Österreich, Polen, Lettland und Litauen im Hinblick auf Belarus und Russland. Diese offenlegen könnte auch DIE LINKE.
Ausgang nicht ganz offen
Nachrichten aus Belarus bleiben widersprüchlich. Derzeit muss noch jeder Versuch einer Einschätzung mit Datum und Uhrzeit versehen werden. Dennoch: Die Präsidentschaftswahl 2020 wird wohl als Wendepunkt in die Geschichte des Landes eingehen. Es steht nicht die Frage, ob Lukaschenko geht, sondern wann und wie. Neuwahlen und ein friedlicher Machtwechsel sind möglich, wenn die Demonstrationen weiter anhalten, Gewaltausbrüche im Inland und Erpressung aus dem Ausland ausbleiben.
Tichanowskajas Ankündigung einer bedingungslosen Amnestie für alle jene Staatsdiener, die jetzt die Seiten zur Opposition wechseln, ist da ein taktisch durchschaubarer, aber bedenklicher populistischer Schachzug, wenn sie gleichzeitig fordert, dass die Vorgänge und offensichtliche Verbrechen beim Einsatz von Polizei und Sicherheitskräften gegen die Bevölkerung in der Nachwahl-Woche bedingungslos aufgeklärt werden müssen. Nur Letzteres wäre die Grundlage dafür, dass wieder Vertrauen in politisches Handeln und politisch Verantwortliche in Belarus möglich wird.
(Moskau, 25. August 2020)