Im Jahre 2012 sagte ein Bericht der Vereinten Nationen das Jahr 2020 als das Jahr voraus, in dem der Gazastreifen für Menschen unbewohnbar sein würde, wenn nicht umgehend Maßnahmen ergriffen würden, um die dramatische Abwärtsspirale zu stoppen. Trotz dieser klaren Warnung hat sich die Situation im Gazastreifen durch die seit 2007 bestehende fast vollständige Abriegelung durch Israel und Ägypten und durch mehrere militärische Aktionen seitdem kontinuierlich verschlechtert.
Gleichzeitig ist die internationale finanzielle Unterstützung für die palästinensischen Gebiete nach wie vor enorm. Die Unterstützung durch über 40 Länder, gut zwei Dutzend UN-Organisationen und hunderte von internationalen Nichtregierungsorganisationen macht die Bevölkerung Palästinas zu Empfänger*innen der höchsten pro-Kopf-Hilfe in der Welt.
Wie kann es sein, dass sich trotz dieses massiven Mittelflusses die Lage im Gazastreifen nicht nachhaltig verbessert? Seit 1948 wurden und werden diverse Hilfs- und Entwicklungsprogramme mit unterschiedlichen Zielsetzungen in der Region implementiert. Seit den Oslo-Abkommen zwischen Israel und der PLO in den frühen 1990er Jahren diente der größte Teil der internationalen finanziellen Unterstützung im Rahmen der angedachten Zwei-Staaten-Lösung dem Aufbau der Institutionen und der Infrastruktur des künftigen palästinensischen Staates. Seit der de facto Machtübernahme der islamistischen Hamas im Gazastreifen im Jahr 2007 und dem Vorbehalt vieler Geberorganisationen, mit der Hamas zu kooperieren, ist es heute überwiegend humanitäre Hilfe, die den Gazastreifen erreicht.
Ute Beuck ist Büroleiterin des RLS-Büros in Ramallah.
Neben den bekannten Herausforderungen der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe – wie die mögliche Förderung von Korruptionsanfälligkeit sowie etwaige Ineffizienz – gibt es mit Blick auf den Gazastreifen spezifische Problematiken, die der nachhaltigen Verbesserung der dortigen Lebensbedingungen entgegenstehen; einige davon, die auf Seiten der Geberorganisationen liegen, sollen hier kurz angerissen werden. Das bedeutet nicht, dass andere Gründe weniger relevant sind und dass nicht auch andere Faktoren einen großen Einfluss auf die gegenwärtige Situation haben. So liegt nach wie vor die eigentliche Verantwortung für die Versorgung der Menschen im Gazastreifen bei Israel als Besatzungsmacht, aber auch die Politik von Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah folgt keiner abgestimmten langfristigen Strategie zur Verbesserung der Situation in dem Küstenstreifen.
Mechanismen der Geberkoordination
Im Zuge des Oslo-Abkommens wurde 1993 das Ad-hoc-Verbindungskomittee (AHLC) gegründet, um internationale Hilfe und Maßnahmen zu koordinieren. Das AHLC zielt darauf ab, den Dialog zwischen den Partner*innen der «Dreieckspartnerschaft», sprich den Geberorganisationen, Israel und der PA, zu fördern. Das allgemeine Verständnis war, dass dieser Mechanismus bis zum Ende einer fünfjährigen Interimsphase gelten würde, an dessen Ende die Gründung eines palästinensischen Staates stehen sollte. Das dafür festgesetzte Datum ist bekanntlich vor über 20 Jahren verstrichen, ohne dass es zu einer Staatsgründung gekommen ist. Trotzdem kommt das AHLC immer noch zweimal im Jahr unter dem Vorsitz Norwegens zusammen. Damit wird Jahre nach dem ergebnislosen Ende von Oslo nicht nur Israel durch die Geberorganisationen subventioniert – Israel ist nach internationalem Recht als Besatzungsmacht für die Versorgung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten zuständig – sondern Israel wird auch weiterhin ein Mitspracherecht bei der Verteilung und Umsetzung von Entwicklungsmaßnahmen in Palästina eingeräumt.
Dem AHLC folgten im Laufe der Zeit weitere sogenannte temporäre Mechanismen der Donor-Koordination, von denen sich einige ebenfalls als langfristig erwiesen haben. In Bezug auf den Gazastreifen ist zudem der Gaza Reconstruction Mechanism (GRM) hervorzuheben, der zum Wiederaufbau des Gazastreifens nach dem Krieg im Jahr 2014 ins Leben gerufen wurde. Auch hier ist wieder eine Drei-Parteien-Teilnahme vorgesehen, in diesem Fall die Israels, der PA und der Vereinten Nationen. Der GRM wurde eingerichtet, um die Einfuhr von dringend benötigten Baumaterialien nach Gaza zu erleichtern. Der Gedanke hinter dieser Drei-Parteien-Vereinbarung war, dass durch die Einschaltung einer neutralen Position die Sicherheitsbedenken Israels ausgeräumt werden könnten und so der Import von den für den Wiederaufbau benötigten Baumaterialien in den Gazastreifen beschleunigt würde. Stattdessen erlaubt die Art und Weise, wie der GRM konzipiert wurde, Israel seit Jahren das letzte Wort über jedes Bauprojekt oder Baumaterial, das nach Gaza gelangen soll. Insbesondere Beschränkungen für Güter mit sogenanntem doppelten Verwendungszweck, die für zivile und für militärische Zwecke verwendet werden könnten, belasten die wirtschaftliche Entwicklung erheblich. So hat Israel für Gaza 62 Güter zusätzlich zu einer bereits langen Liste von 56 Artikeln für das Westjordanland gelistet. Die Einfuhrrestriktionen von Waren nach Gaza behindern die Durchführung öffentlicher Infrastrukturprojekte, da für diese mehrere Elemente von der Liste der doppelten Verwendungszwecke erforderlich sind, darunter Baumaterialien, Maschinen und Chemikalien.
Durchsetzung eigener Interessen
Die so oft beschworene internationale Gemeinschaft ist kein homogener Block. Sie besteht aus diversen Akteuren mit sich zum Teil widersprechenden Eigeninteressen. Trotz anderslautender Verlautbarungen spiegeln sich diese Interessenlagen in der Regel bei der Vergabe von Entwicklungs- und humanitärer Hilfe wider. Im Falle Palästinas zeigen sich diese unterschiedlichen Interessen besonders deutlich.
Mit Blick auf die USA sind die nationalen Eigeninteressen seit Amtsantritt von Donald Trump sehr offen sichtbar geworden. Washington hat in der Vergangenheit rund ein Viertel der gesamten internationalen Hilfe für das Westjordanland und den Gazastreifen geleistet. Auch fast ein Drittel der Unterstützung der UNWRA, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge, kam von den USA. Seit 2018 ist klar, dass die USA im Nahen Osten künftig eine neue Rolle spielen wollen. Mit der Ankündigung des sogenannten Jahrhundertplans und den ersten Schritten zur Umsetzung des zu dem Zeitpunkt noch inoffiziellen Plans, wie die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem, wurden die USA in den palästinensischen Gebieten nicht mehr als unabhängige Vermittlungsinstanz im Konflikt mit Israel akzeptiert, der Plan wurde durch die palästinensische Führung abgelehnt. Im Gegenzug wurden unter fadenscheinigen Vorwänden eine Reihe von kurzfristigen Sanktionen gegen die PA und die palästinensische Bevölkerung ergriffen, darunter die Einstellung der Arbeit der staatlichen Entwicklungsorganisation USAID in Palästina sowie die Einstellung der Finanzierung der UNRWA.
Auch Länder in der Region, die Mittel für die Entwicklung des Gazastreifens zugesagt haben, entwickeln derzeit politische Positionen, die neue geopolitische Interessenslagen spiegeln und Unterstützungszusagen ins Wanken bringen. Auf der einen Seite stehen gegenwärtig Ägypten, Kuwait, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die der Hamas, wegen ihrer angeblichen Nähe zur Muslimbruderschaft und ihren Beziehungen zum Iran, ablehnend gegenüberstehen und die, um die Hegemoniebestrebungen des Iran zurückzuweisen, auch Annäherungen an Israel vorantreiben. Durch ein Zurückhalten der eigentlich versprochenen Gelder soll die Hamas geschwächt und ihre Legitimität in Gaza untergraben werden.
Auf der anderen Seite hat sich Katar, das seit 2017 u.a. von den o.g. genannten arabischen Staaten boykottiert wird, zusammen mit der Türkei zu einem regelmäßigen Donor für den Gazastreifen entwickelt. Dies mit Wissen und – trotz seiner Nähe zur Hamas und vollständigen diplomatischen Beziehungen zum Iran – voller Unterstützung durch Israel, welches wenig Interesse hat, dass die Situation in Gaza zu sehr eskaliert und es zu größeren Aufständen der Bevölkerung bzw. zu unkontrollierbaren Raketenangriffen auf Israel kommt.
Mangelnde Nachhaltigkeit und Transparenz
Der Gazastreifen ist nach wie vor unter israelischer Besatzung und in den vergangenen Jahren wiederholt Ziel militärischer Aktionen geworden. In dieser Situation des permanenten Konflikts können Aufbau- und Hilfsmaßnahmen kaum nachhaltig sein. Viele der mit internationalen Mitteln finanzierte Projekte wurden im Zuge militärischer Aktionen durch Israel zerstört. Während des Krieges im Jahr 2014, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde die durch die EU finanzierte UNRWA-Pumpstation im Flüchtlingslager Nussirat, die die Versorgung von etwa 200.000 Menschen mit Wasser sicherstellte, bombardiert. Nach Aussagen von Angestellten des städtischen Wasserwerkes wurde dieselbe Anlage bereits während der Operation Pillar of Cloud im Jahr 2012 und während der Operation Cast Lead im Jahr 2008 weitgehend zerstört. Jedes Mal wurde sie mit EU-Mitteln wiederaufgebaut. Nach Angaben des Versorgungsunternehmens wird allein der Schaden von 2014 auf rund 358.000 Euro geschätzt.
Seit 2012 sind Informationen über Schäden an EU-finanzierten Projekten sowohl für die Medien als auch für Menschenrechtsinstitutionen unzugänglich. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die EU vor einer erneuten Finanzierung eines zerstörten Projekts ernsthafte Versuche unternommen hat, von Israel Reparationen für die zerstörten Projekte zu erhalten. Damit übernimmt die EU nicht nur die Kosten, die Israel in ihrer Verantwortung als Besatzungsmacht für die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur selbst aufzubringen hätte, sondern zahlt auch noch wiederholt für die Schäden, die Israel verursacht. Die Vereinten Nationen, die EU und Länder, die Wiederaufbauprojekte in Gaza finanzieren, sind verständlicherweise besorgt darüber, dass sich neue Investitionen als zwecklos erweisen, wenn die zugrundeliegenden Ursachen des Konflikts nicht angegangen werden.
Was ist zu tun?
Die genannten Faktoren und viele andere machen einen nachhaltigen Aufbau des Gazastreifens und die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung über das Minimum hinaus unmöglich. Obwohl im Jahr 2012 in dem besagten UN-Bericht eindringlich vor einer humanitären Katastrophe gewarnt wurde und diese Warnungen seitdem wieder und wieder von verschiedenen UN-Organisationen, EU-Vertreter*innen und internationalen NGOs wiederholt wurden, ist nicht erkennbar, dass von den verschiedenen Geberländern oder Geberorganisationen eigene Maßnahmen ergriffen werden, um reale Änderungen herbeizuführen.
So komplex die Situation auch ist, so gibt es dennoch konkrete Handlungsmöglichkeiten, die seit Jahren auch von diversen zivilgesellschaftlichen Akteuren und Organisationen gefordert werden: Der Gazastreifen leidet nachweislich durch die Abriegelung und Kontrolle der Einfuhr durch Israel. Auch die ägyptischen Behörden, die den Zugang über den Grenzübergang Rafah kontrollieren, sind an dem Problem beteiligt. Aufgrund dieser Beschränkungen können humanitäre Hilfsgüter und Baumaterialien nicht in den notwendigen Mengen eingeführt werden. Allerdings hat der Gazastreifen eine lange Küste und einen ausbaufähigen Hafen. Dies ist kein israelisches Territorium, die Kontrolle durch Israel ist völkerrechtswidrig und wird auch von den UN verurteilt. Warum also fordern die UN und andere Geberorganisationen hier nicht konsequent die Öffnung eines Hilfskorridors wie er bereits 2009 kurz bestanden hat, um die notwendigen Lieferungen über den Seeweg in den Küstenstreifen zu bringen? Auch die Frage, warum durch Israel zerstörte international finanzierte Projekte wieder und wieder aufgebaut werden, ohne dass Israel an irgendeinem Punkt in die Verantwortung genommen wird, könnte offen gestellt werden.
Die langfristig entscheidende Frage ist aber die nach einer klaren Strategie der internationalen Geldgeber*innen für die Unterstützung der palästinensischen Gebiete. Die Förderung Palästinas ist bislang formal – zumindest für die Mehrheit der Akteure – an die Unterstützung des Friedensprozesses und an die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung gebunden gewesen. Inzwischen gilt die Erreichung dieses Ziels jedoch als höchst unwahrscheinlich. Mit welcher langfristigen Zielsetzung werden also zukünftig Programme und Maßnahmen im Gazastreifen und insgesamt in den palästinensischen Gebieten unterstützt? Gegenwärtig wird ein Status-Quo aufrechterhalten, der auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten ist und auch nicht aufrechterhalten werden sollte. Wenn sich die Lebensbedingungen im Gazastreifen in naher Zukunft nicht verbessern, werden künftige Generationen von Palästinenser*innen und Israelis wahrscheinlich einen hohen Preis zahlen, denn die sich drehende Gewaltspirale in der Region wird andernfalls ohne Zweifel an Fahrt aufnehmen und ab irgendeinem Punkt diplomatischen Bemühungen nicht mehr zugänglich sein. Notwendig ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen Realitäten und eine entsprechende Anpassung der Unterstützung, um eine gerechtere, friedlichere und stabilere Region auf realistischere Weise zu verfolgen. Dazu gehört dann allerdings auch, nicht nur regelmäßig über unhaltbare Zustände zu berichten, sondern auch eine konsequente Politik der Geberorganisationen, um das in ihren Möglichkeiten Stehende auch selbst zu tun.