Analyse | Krieg / Frieden - Westasien - Golfstaaten - Corona-Krise - Westasien im Fokus Ganz auf sich allein gestellt

Der Jemen im Angesicht von Corona

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Gräber für Opfer der Coronavirus-Krankheit auf einem Friedhof in Taiz, Jemen, 23. Juni 2020.
Gräber für Opfer der Coronavirus-Krankheit auf einem Friedhof in Taiz, Jemen, 23. Juni 2020. picture alliance / REUTERS | ANES MAHYOUB

Seit Ende März sind die Nachrichten über Tote im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie ein ständiger Begleiter unseres Lebens. Mit täglich zunehmender Frequenz ertönen Koranrezitationen aus den Lautsprechern der Moscheen unseres bescheidenen Wohnviertels in Sanaa. Dann wissen wir, dass es neue Todesfälle im Umkreis der jeweiligen Moschee gegeben hat. Mein Mann hält mich über die Alltagschronik des Schreckens in unserem Viertel auf dem Laufenden: Ein Ehepaar im Gebäude gegenüber, das sich, an Corona erkrankt, allein zuhause einschloss und schicksalsergeben auf das Ende wartete. Eine alte Frau, die ihre Corona-Erkrankung vor ihrer Familie verheimlichte … und bei deren Trauerfeier sich Dutzende von Gästen mit dem Virus infizierten. Was dazu führte, dass das ganze Viertel abgeriegelt werden musste und alle Häuser durchkämmt wurden. Und dann ist da die Geschichte von jenem Haus, dessen Bewohner*innen die Folgen eines Corona-Falls kollektiv zu spüren bekamen, als die De-facto-Regierung in Sanaa eine ganze Armeeeinheit vor deren Haus beorderte, um sie am Verlassen desselben zu hindern. Und die Bewohner*innen obendrein verpflichtete, die Soldaten mit Essen zu versorgen. Zu all den Todesmeldungen infolge des Krieges ist nun die um sich greifende Corona-Pandemie als weiterer tagtäglicher Schrecken hinzugekommen und hält uns alle in Atem. Die sozialen Netzwerke im Jemen sind zu täglichen Schaufenstern des Sterbens geworden. In hunderten von Posts werden Freund*innen, Verwandte, Mitbürger*innen betrauert, die am Corona-Virus gestorben sind, manchmal ohne dass die Todesursache explizit genannt wird. Die Kriegsmachthaber begnügen sich damit, die Bürger*innen zum Händewaschen mit Wasser und Seife aufzurufen, während die meisten Jemenit*innen nicht wissen, wie sie über den nächsten Tag kommen sollen.

Bushra al-Maktari, geb. 1979, ist Schriftstellerin und Journalistin und lebt in Sanaa. Auf Deutsch liegt bisher von ihr vor: «Was hast du hinter dir gelassen? Stimmen aus dem vergessenen Krieg im Jemen», erschienen 2020 im Econ-Verlag, aus dem Arabischen übersetzt von Sandra Hetzl. Das Buch basiert auf Interviews, die sie unter hohem persönlichen Risiko mit Menschen aus allen Teilen des Landes während einer zweijährigen Recherche geführt hat.
Sie hat 2013 den Françoise Giroud Award for Defence of Freedom and Liberties in Paris und den Leaders for Democrac Prize des Project on Middle East Democracy in Washington erhalten.

Es gehört eigentlich zu den elementaren Pflichten jeder Regierung weltweit, die Ressourcen des Staates für den Schutz seiner Bürger*innen vor der Pandemie zu mobilisieren und auf die daraus resultierenden humanitären Herausforderungen so zu reagieren, dass die Sterberate möglichst niedrig gehalten wird. Nicht so im Jemen, wo die Kriegsmachthaber mit ihrer ruinösen Politik dafür gesorgt haben, dass Corona für die Bevölkerung im Jemen noch viel tödlicher ist als anderswo. Hatte das Land schon aufgrund des nicht enden wollenden Krieges und des Niedergangs der ökonomischen und gesundheitlichen Verhältnisse ein «ideales» Umfeld geboten für die Ausbreitung von todbringenden Epidemien – wie etwa Cholera, Denguefieber, Chikungunyafieber oder Malaria –, so hat die Politik der verschiedenen Kriegsmächte wie auch der im Jemen intervenierenden Staaten erst recht dazu geführt, dass den Jemenit*innen nur mehr eine einzige Wahl bleibt: der Tod.

Die Situation, die die Jemenit*innen derzeit angesichts der sich ausbreitenden Corona-Pandemie durchmachen, lässt sich in ihrer ganzen Tragik erst dann ermessen, wenn man sich die ökonomischen Folgen des Krieges ins Bewusstsein ruft. Der Machtkampf zwischen der Huthi-Bewegung und der von Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi geführten international anerkannten Regierung hat zu einem Ausbluten der Ressourcen des Landes geführt, wie auch dazu, dass sich die vom Iran unterstützten Huthis die Reserven der jemenitischen Zentralbank in Sanaa unter den Nagel gerissen haben und dadurch der Staat nicht mehr in der Lage ist, die Gehälter der Regierungsbeamten auszuzahlen. Unterdessen hat die Militärintervention im Jemen unter Führung des Königreichs Saudi-Arabien und der Vereinigten Arabischen Emirate die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes noch um ein Vielfaches verschärft. Dadurch dass die Kriegsparteien für ihren Kampf gegen die jeweils andere Seite die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes verfeuern, sind weit über die Hälfte der Einwohner*innen unter die Armutsgrenze gerutscht. Ferner hat der Krieg mehr als vier Millionen Jemenit*innen zu Binnenvertriebenen gemacht. Die meisten von ihnen leben in Geflüchtetenlagern an den Rändern der Städte und sind von stockenden Nothilfelieferungen abhängig. Auch haben die Kriegsparteien die Infrastruktur zerstört, haben sogar Krankenhäuser unter Beschuss genommen, was viele Jemenit*innen jedweder Behandlungsmöglichkeit beraubt hat. Hinzu kommt, dass Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate ihre eigenen Agenden im Jemen betreiben und außerdem in einen sich zuspitzenden regionalen Konflikt mit dem Golfstaat Katar verwickelt sind. In dessen Folge haben sich im Jemen lokale, diesen Regionalmächten loyal ergebene Milizen breit gemacht, die darum wetteifern, ihren Anteil an den Ressourcen des Staates abzubekommen, und die schon etliche in staatlicher Hand befindliche Branchen «privatisiert» haben. Dabei setzen sie gezielt auf eine Kriegsökonomie, welche das Profitieren von humanitären Krisen zum Prinzip erhoben hat. So perpetuieren sie ihre Kriege, während sie die Jemenit*innen der Verarmung überlassen.

Am 10. April diesen Jahres bestätigte die international anerkannte Regierung den ersten Fall einer Infektion mit dem Corona-Virus im Jemen, und zwar in der östlichen Provinz Hadramaut. Bis zum 20. Juli stieg die Gesamtzahl der Fälle auf 1.619, darunter 447 Todesfälle. Die Zahl der Genesenen betrug zu dem Zeitpunkt 714, gemäß dem täglich aktualisierten Report des Yemen Supreme National Emergency Committee for Covid-19. Zusätzlich meldeten die Behörden der Huthi-Bewegung drei Infektionen und einen Todesfall in den von ihnen kontrollierten Territorien. Diese Zahlen machen deutlich: Die Corona-Sterberate im Jemen ist eine der höchsten der Welt. Von 20 Prozent aller landesweit bestätigten Fälle in den ersten Monaten der Pandemie ist sie inzwischen auf 25 Prozent geklettert und liegt damit weit über dem weltweiten Durchschnitt von 7 Prozent (gemäß UN-Angaben). Daran lässt sich gut der kausale Zusammenhang zwischen dem ökonomisch-sozialen Verfall des Landes und einem geschwächten Immunsystem seiner Bewohner*innen festmachen — mit der Folge einer stark erhöhten Mortalität. Auch spiegelt sich darin die düstere Realität des jemenitischen Gesundheitswesens wider. Unter den bestätigten Todesfällen sind sämtliche Altersgruppen vertreten, und es sind auch viele ansonsten gesunde Personen darunter, nicht nur solche mit chronischen Vorerkrankungen. Das heißt, dass die Mehrheit der Jemenit*innen potentielle Todesopfer des Virus sind. Noch dramatischer wird das ganze durch die Tatsache, dass die bestätigten Zahlen der aktuell Infizierten, der Verstorbenen und der Genesenen nicht die wirkliche Ausbreitung des Corona-Virus im Jemen offenbaren. Laut einer Analyse der Todes- und Erkrankungsfälle in einzelnen Regionen des Landes könnten diese bis zu zehnmal so hoch sein wie die bestätigten Zahlen, denn die Kriegsmachthaber verschleiern die wahren Zahlen der an Corona Erkrankten und Verstorbenen in den von ihnen kontrollierten Territorien. Das hat Auswirkungen auf den Umgang der Jemenit*innen mit der Pandemie. Auch beschränken sich die bestätigten Fälle auf diejenigen, die von den wenigen Großstadt-Krankenhäusern mit Quarantänestation erfasst werden, wodurch die ländlichen Regionen und die Geflüchtetenlager aus der Statistik herausfallen. Von dort gelangen nur die absoluten Notfälle bis in die Quarantäne-Krankenhäuser in den Städten. Hinzu kommt, dass das Wirrwarr der verschiedenen Kriegsmachthaber mit jeweils eigenen Statistikbehörden zwangsläufig zu statistischer Intransparenz führt, beziehungsweise dazu, dass in den von extremistischen Milizen kontrollierten Gebieten überhaupt keine Zählung der Infektionsfälle möglich ist. Auch gäbe es gar nicht ausreichende Testkapazitäten, um jemenweit jeden einzelnen Fall mit Corona-Symptomen zu untersuchen. Und noch etwas spielt eine Rolle: Die Art, wie die Kriegsmachthaber mit den Infizierten umspringen, schreckt viele Familien davor ab, ihre erkrankten Angehörigen in die Quarantäne-Krankenhäuser zu bringen.

Die Kartografie der Ausbreitung des Corona-Virus im Jemen spiegelt die derzeitige Grenzziehung zwischen den Herrschaftsterritorien sowie militärische Frontverläufe wider. Zwar managen die Kriegsmachthaber in den von ihnen kontrollierten Gebieten die Corona-Krise auf jeweils unterschiedliche Weise. Doch eint sie die Tatsache, dass sie allesamt Missmanagement betreiben und sich jeder Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung entziehen. Ihre Politik hat mit dazu beigetragen, dass sich die Pandemie von den großen Städten in die abgelegenen ländlichen Regionen verbreiten konnte, die zuvor relativ verschont geblieben waren. Ferner hat die Untätigkeit der Kriegsmachthaber beim Lösen der drängenden ökonomischen Probleme, unter denen die Menschen im Jemen leben müssen, dazu geführt, dass die Bürger*innen nicht in der Lage sind, selbst für Alternativen zu sorgen, um sich gegen die Pandemie zu schützen. Zu allem Übel vereitelt die Zerrissenheit der staatlichen Institutionen zwischen konkurrierenden politischen Kräften von vornherein ihre Bemühungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Dies manifestiert sich in der Abwesenheit einer gesamt-jemenitischen Strategie zum Umgang mit der Pandemie, wodurch die Entwicklung von Krisenreaktionsplänen zur Behandlung von Erkrankten behindert wurde. Auch haben sich die Kriegsmachthaber als unfähig erwiesen, die an ihre jeweiligen Herrschaftsgebiete angrenzenden Territorien gegen eine Weiterverbreitung des Virus durch Personen abzusichern, die sich unkontrolliert von einer Region in die andere begeben. Das alles hat zu einer Ausweitung des Verbreitungsgebiets der Pandemie im Jemen geführt. Alle Versuche der Kriegsmachthaber, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, sind angesichts der eingeschränkten Kapazitäten hinsichtlich der Gesundheitsversorgung gescheitert.

Nominell übt in den als «befreit» bezeichneten Gebieten die international anerkannte Regierung, unterstützt von Saudi-Arabien, die Herrschaft aus. Im Süden des Landes macht ihr aber der von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützte Südliche Übergangsrat Konkurrenz. Er kontrolliert die Regionen um die Städte Aden, Lahidsch und ad-Dali‘ sowie die Insel Sokotra. Dies erschwert es dem Staat in diesen Gebieten zusätzlich, seinen Aufgaben bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie nachzukommen. Gleiches gilt für die Region Abyan: Diese ist zu einem tagtäglichen Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen zwischen den beiden konkurrierenden Kräften geworden, was zu einem Kollaps der medizinischen Einrichtungen in den umkämpften Gebieten geführt hat, sodass Corona-Fälle unbehandelt bleiben. Des Weiteren hat in Teilen der «befreiten» Gebiete eine eigentlich loyal zur international anerkannten Regierung stehende Kraft die De-facto-Herrschaft übernommen: die Islah-Partei (mit vollem Namen Jemenitische Versammlung für Reform), welche als das jemenitische Pendant zu den Muslimbrüdern gilt und die von Katar und der Türkei unterstützt wird. Die international anerkannte Regierung ist also nicht mehr in der Lage, die Behörden vor Ort anzuweisen, Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus zu ergreifen, wie etwa die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Bürger*innen oder das Verbot von religiösen und gesellschaftlichen Zusammenkünften; denn die politische Macht in diesen Gebieten wurde an die De-facto-Regierungen abgetreten und ist nun in erster Linie deren partikularen Interessen unterworfen. All das hat zu einer rasanten Ausbreitung des Corona-Virus in den «befreiten» Gebieten geführt.

Das Scheitern der international anerkannten Regierung beim Managen der Corona-Krise in den ihrem Einflussbereich unterliegenden Gebieten spiegelt lediglich deren Schwäche wider. Nicht nur, dass sie es nicht vermochte, die von ihr auf dem Höhepunkt der Pandemie verkündeten Präventionsmaßnahmen umzusetzen; sie hat mit ihrer Gesundheitspolitik mögliche Chancen, die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen, regelrecht vereitelt. Denn während die unter saudischer Verfügungsgewalt stehenden Einreisewege über Land sowie über die Flug- und Seehäfen weiterhin offen gehalten wurden, ohne Quarantänestellen für die Erkrankten und Testmöglichkeiten für die Einreisenden bereitzustellen, warf die international anerkannte Regierung sämtliche Ressourcen des Staates in die Waagschale, um den Machtkampf im Süden des Landes gegen die mit ihr konkurrierenden Kräfte für sich zu entscheiden. Dadurch büßte ihr Kampf gegen die Pandemie an Effektivität ein, denn sie tat nichts, um die staatlichen Krankenhäuser in den Städten und auf dem Land für die Behandlung von Erkrankten auszustatten, etwa durch die Bereitstellung von Ausrüstung zur Durchführung von Labortests sowie zum Schutz des medizinischen Personals. Indem die international anerkannte Regierung nichts tat, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu lindern, heizte sie den Preisanstieg bei Lebensmitteln und Medizinprodukten weiter an, wodurch sie das Leiden der Bevölkerung weiter verschärfte. Ebenso wie die international anerkannte Regierung scheiterte auch die vom Südlichen Übergangsrat gebildete De-facto-Regierung daran, mit den gesundheitlichen und humanitären Herausforderungen der Ausbreitung des Corona-Virus in den südlichen Landesteilen fertig zu werden. Dieses Scheitern auf allen Ebenen lässt sich gut am Beispiel der humanitären Situation in der Stadt Aden illustrieren. Zwar hat die Organisation «Ärzte ohne Grenzen» mit ihrem Engagement immerhin dafür gesorgt, dass auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie ein Covid-19-Behandlungszentrum im Al-Amal-Krankenhaus in Aden betrieben werden konnte. Die miteinander rivalisierenden Machthaber der Stadt haben jedoch keinerlei Notfallmaßnahmen ergriffen, um das marode Gesundheitswesen Adens vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Dazu würde etwa die Sicherstellung der Stromversorgung in einer der heißesten Städte des Jemen zählen. Denn dieser Umstand hat dazu geführt, dass die Sterberate im Zuge der Corona-Pandemie und anderer Fiebererkrankungen in die Höhe geschnellt ist. So ist die Zahl der Todesfälle im Mai auf über 1.800 gestiegen.

Dem stehen auf der anderen Seite der Frontlinie die von der iranisch unterstützten Huthi-Bewegung kontrollierten, dicht besiedelten Hochlandregionen des Jemen gegenüber, einschließlich der Hauptstadt Sanaa. Dort wurde im Zuge der Pandemie eine Politik der medialen Verheimlichung gefahren, um den Nachschub von Huthi-Kämpfern an die Kriegsfront sowie den Fortbestand der Kriegsökonomie sicherzustellen, auf welche die Huthi-Bewegung zur Versorgung ihres militärischen Apparats und zum Führen ihrer Kriege in den umkämpften Gebieten angewiesen ist. Denn obwohl Sanaa dasjenige Gebiet war, wo die Pandemie zum ersten Mal im Jemen aufgetreten ist, haben die Huthis die Existenz von Corona-Fällen bisher hartnäckig geleugnet – mit Ausnahme eines einzigen Todesfalls und dreier Erkrankungen. Diese Realitätsverweigerung hat in den ihnen unterstehenden Gebieten für eine rasante Ausbreitung des Corona-Virus gesorgt, sodass sich Sanaa inzwischen völlig im Griff der Pandemie befindet. Statistiken zufolge, die auf Websites einheimischer jemenitischer Gesundheitsorganisationen zu finden sind, waren allein in Sanaa bis Juli 2.000 Erkrankte und 300 Verstorbene zu verzeichnen, wozu noch mehrere Dutzend Fälle von erkrankten und verstorbenen Personen in den restlichen unter Huthi-Herrschaft stehenden Gebieten hinzuzurechnen sind. Angesichts der Ausdehnung dieser Gebiete im Vergleich zu den von der international anerkannten Regierung kontrollierten Gebieten waren die Huthis ganz offensichtlich nicht in der Lage, die Pandemie einzudämmen oder sich flächendeckend um die Gebiete außerhalb der großen Städte zu kümmern, mangelt es diesen doch schon an den elementarsten medizinischen Voraussetzungen zur Behandlung normaler Krankheiten. Hinzu kommt, dass die Huthis Misstrauen gegenüber der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen hegen und auch mit der Organisation «Ärzte ohne Grenzen» auf Kriegsfuß stehen. Dadurch können diese Organisationen in den von den Huthis kontrollierten Gebieten nur noch unter großen Einschränkungen arbeiten, was Millionen von Jemenit*innen jeder medizinischen Versorgung beraubt hat. Mochte diese auch rudimentär und improvisiert gewesen sein, so hätte sie doch einen Unterschied machen können bei der Eindämmung der Pandemie und der Begrenzung der menschlichen Verluste.

Die Institutionen der Huthi-Bewegung ließen bei der Bewältigung der Corona-Krise jedes moralische und menschliche Verantwortungsgefühl vermissen und haben dadurch die Todeszahlen infolge des Virus in die Höhe getrieben. Ihre Hygienemaßnahmen beschränkten sich darauf, einzelne Viertel abzuriegeln und zu desinfizieren, ohne aber einen kompletten Lockdown über die von der Pandemie betroffenen Regionen zu verhängen. Stattdessen haben sie die Ausbreitung des Virus ignoriert und die Erkrankungs- und Todesfälle verschleiert, zudem haben sie ihr Scheitern und ihr Missmanagement der WHO in die Schuhe geschoben. Indem sie in der Hauptstadt Sanaa inmitten dicht bewohnter Gegenden Quarantäne-Krankenhäuser einrichten ließen, handelten sie grob fahrlässig, denn genau solche Gegenden wurden zu Brutstätten für die Weiterverbreitung des Virus in die benachbarten Wohnviertel, was wiederum zu einer Vielzahl von Todesfällen in diesen Vierteln führte, sowie dazu, dass die Quarantäne-Krankenhäuser dem Ansturm neuer Fälle nicht mehr gewachsen waren. Außerdem hat die Praxis der Huthis, in ihren Gebieten Razzien in den Häusern von Erkrankten durchzuführen, zu einer Kriminalisierung der Patient*innen geführt, mit der Folge, dass viele Familien davor zurückschrecken, die Erkrankung von Angehörigen öffentlich zu machen. Dadurch sind bereits zahlreiche Personen in ihren Häusern gestorben, aus Angst vor einer sozialen Ausgrenzung, von der ihre gesamte Familie betroffen gewesen wäre. Schließlich war die Politik der Huthis, die Existenz von Corona-Fällen in ihren Gebieten systematisch zu leugnen, verantwortlich dafür, dass die Bürger*innen sich nicht dem Social Distancing verpflichtet fühlten. Durch das Horten von medizinischem Material und die Manipulation der Lebensmittelpreise haben die Huthis das Leiden der Bevölkerung in den von ihnen kontrollierten Territorien noch verschärft, zumal diese Regionen im Vergleich zu anderen ohnehin schon zu den ärmsten des Landes zählen.

Der Zustand des Gesundheitswesens im Jemen stellt eine wirkliche Herausforderung dar, die es fast unmöglich macht, die Ausbreitung des Corona-Virus unter Kontrolle zu bekommen – sowohl in den «befreiten» Gebieten als auch in den von den Huthis kontrollierten Territorien, aber natürlich auch und gerade in den Kampfgebieten. Denn die Luftwaffe der von Saudi-Arabien angeführten Militärallianz und die Artillerie der Huthi-Bewegung haben den Gesundheitssektor in Schutt und Asche gelegt. Die meisten Krankenhäuser sind dadurch nicht einmal mehr in der Lage, normale Fälle aufzunehmen, und schon gar nicht, dem Corona-Virus etwas entgegenzusetzen. Zudem mangelt es den staatlichen Krankenhäusern, die von den Kriegsmachthabern als Quarantäne-Stationen bestimmt wurden, an der nötigen Ausstattung, um Corona-Untersuchungen durchführen zu können. Im ganzen Jemen gibt es – nach Auskunft des Gesundheitsministeriums der international anerkannten Regierung – nur sechs entsprechende Laborgeräte, und nur 500 Geräte zur künstlichen Beatmung, verteilt auf einige wenige Krankenhäuser in den großen jemenitischen Städten. Die meisten staatlichen Krankenhäuser sind also gar nicht dafür ausgerüstet, um schwere Fälle zu behandeln. Und das bedeutet wiederum eine deutlich erhöhte Sterberate. So muss beispielsweise die Stadt Taizz, die im Einflussbereich der international anerkannten Regierung liegt, der Corona-Pandemie mit nur sechs Beatmungsgeräten die Stirn bieten. Zusätzlich schränkt die im Vergleich zu den Privatkliniken geringe Anzahl staatlicher Krankenhäuser deren Kapazitäten zur Behandlung von Corona-Fällen ein, zumal die meisten privaten Krankenhäuser sich hartnäckig weigern, an Corona erkrankte Personen aufzunehmen, was für Patient*innen mit chronischen Vorerkrankungen, wie etwa Herzschwäche, Asthma oder Nierenversagen, ein Todesurteil bedeutet. Auch die Tatsache, dass es aufgrund des Krieges und des Gehaltsauszahlungsstopps zu einem massiven Braindrain ins Ausland gekommen ist, spielt eine Rolle: Dadurch hat das fachliche Niveau des im Jemen verbliebenen ärztlichen Personals einen Niedergang erlitten, was etwa bei Corona-Fällen Diagnosefehler mit tödlichem Ausgang zur Folge haben kann. Hinzu kommt die Angst einiger Ärzt*innen vor der Arbeit im Krankenhaus, da es dort an jeglicher Schutzausrüstung fehlt. Eine Angst, die keineswegs unbegründet ist: Schließlich hat Corona bereits zu schweren Verlusten unter dem im Jemen verbliebenen ärztlichen und sanitären Personal geführt. Allein in Sanaa und Aden sind 80 Ärzt*innen und Apotheker*innen an dem Virus verstorben.

Durch die Abwesenheit einer gesamtjemenitischen politischen Autorität, eines Staates, der seiner Aufgabe nachkäme, die Jemenit*innen zu schützen, sind die Menschen der Corona-Pandemie hilflos ausgeliefert, welche nach Schätzungen der WHO möglicherweise bis zu 16 Millionen Jemenit*innen treffen könnte, während die Kriegsmachthaber auf dem Höhepunkt der Pandemie die Herdenimmunität propagiert haben und nun einträchtig die Rückkehr zur «Normalität» befürworten. Gleichzeitig sind die Jemenit*innen permanent mit der Herausforderung konfrontiert, dem Tod durch Corona zu entkommen. Keine staatliche Macht stellt ihre Lebensmittelversorgung sicher, damit sie Social Distancing einhalten können – normalerweise ein Ding der Unmöglichkeit, angesichts der bitteren Armut im Land und der Tatsache, dass Millionen von Jemenit*innen für ihr tagtägliches Überleben auf Arbeit angewiesen sind. Keine Obrigkeit ist in der Lage, den althergebrachten gesellschaftlichen Traditionen im Jemen einen Riegel vorzuschieben, wie etwa Hochzeits- und Trauerfeierlichkeiten. Diese stellen einen die Verbreitung des Corona-Virus begünstigenden Faktor dar. Ebenso hat die von der Huthi-Regierung in ihren Gebieten betriebene Verschleierungspolitik die Bürger*innen dazu veranlasst, die Hygienemaßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie weniger konsequent einzuhalten, was ein Hochschnellen der Infektions- und Sterberate zur Folge hatte. Ganz zu schweigen vom Boykott der neuen Währung durch die Huthis, welche die international anerkannte Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten in Umlauf gebracht hat, mit den sich daraus ergebenden zusätzlichen Härten für die Bevölkerung. Noch dramatischer wirkt sich aus, dass die Kriegsmachthaber in den jeweiligen Territorien des Jemen sich nicht dazu bemüßigt sehen, die Gehälter der Staatsbediensteten auszuzahlen, nachdem die international anerkannte Regierung die jemenitische Zentralbank im September 2016 von Sanaa nach Aden verlegt hat. Stattdessen setzen sie die Gehälter als politisches Pfand ein, wodurch mehr als eine Million Staatsbedienstete und ihre Familien sich nicht einmal mehr das Allernotwendigste zum täglichen Überleben leisten können.

Im Jemen, diesem kriegs- und pandemiegebeutelten Land, nimmt zwischen sinnlosem Morden, Hungersnöten und Seuchen die tagtägliche Tragödie ihren Lauf. Die Corona-Pandemie ist lediglich eine weitere Spielart jenes Todesreigens, der seit fünf Jahren die Jemenit*innen dahinrafft – allerdings eine, die am Ende womöglich mehr Opfer fordern wird, als es der Krieg unter der Zivilbevölkerung und den Kämpfenden schon getan hat. Währenddessen machen die internationale Gemeinschaft und die internationalen Organisationen keinerlei Anstalten, die Jemenit*innen zu retten und der Geschäftemacherei mit ihrem Leid ein Ende zu setzen. Es wäre deren Pflicht, Druck auf Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate auszuüben, damit diese den Gesundheitssektor, den sie zerstört haben, wieder instand setzen und unter anderem Testgeräte zur Verfügung stellen. Die Kriegsmachthaber müssen gezwungen werden, ihre ganzen Ressourcen und Kapazitäten zur Eindämmung der Pandemie einzusetzen. Zuallererst müssen aber die kriegsführenden Kräfte im Jemen und die sie unterstützenden Regionalmächte dazu gebracht werden, die Kriegsmaschinerie, die für die Jemenit*innen Tod und Verderben bedeutet, zu stoppen. Nur das könnte den Menschen im Jemen ihr legitimes Recht auf ein menschenwürdiges Leben zurückgeben, das ihnen die Verantwortlichen für all die Verbrechen genommen haben.
 

[Übersetzung von Rafael Sanchez & Susanne Munz für Gegensatz Translation Collective]