Nachricht | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine Chance für Frieden in der Ukraine verspielt?

Präsident Selenskyj hat noch immer keine klare Strategie für den Donbass

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Der ukrainische Präsident Selenskyj zusammen mit dem russischen Präsidenten Putin und Frankreichs Staatschef Macron
Der ukrainische Präsident Selenskyj zusammen mit dem russischen Präsidenten Putin und Frankreichs Staatschef Macron am 9. Dezember 2019 in Paris. Es war das erste Treffen im Normandie-Format seit 2016. picture alliance/dpa/TASS | Mikhail Metzel

Alexej Jakubin ist promovierter Politikwissenschaftler. Borys Holubnytschyj ist Redakteur des Commons Journal.

Die Wahl des sechsten Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, bot die Gelegenheit, den Friedensprozess für den Osten des Landes zu beschleunigen. Selenskyj, der sich selbst oft als «Präsident des Friedens» bezeichnete, versprach eine Beilegung des Konflikts in seiner Amtszeit und betonte die Notwendigkeit eines Dialoges mit allen Parteien. Das Ende der bewaffneten Auseinandersetzung war eine der zentralen Forderungen der ukrainischen Bürger*innen an den neuen Präsidenten, die ihm zur Umsetzung seiner Vision ein beispielloses Mandat gaben. Nach etwas mehr als einem Jahr steht jedoch fest, dass die Chance größtenteils verspielt ist und die Aussicht auf eine friedliche Lösung ungewiss und vage bleibt.

Was hat sich verändert?

Hinsichtlich positiver Veränderungen ist festzustellen, dass zwischen dem ukrainischen und dem russischen Präsidenten direkte Verhandlungen stattfanden (das erste Treffen seit 2016 im Normandie-Format), zudem gab es drei Gefangenenaustausche sowie Truppenabzüge bei Solote, Petriwske und Stanyzja Luhanska.

Doch zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Texts im Juni 2020 lässt die Umsetzung der Vereinbarungen vom Pariser Gipfeltreffen zu wünschen übrig:

  • Ein vollständiger Waffenstillstand wurde bisher nicht erreicht.
  • Die Minenräumungspläne wurden noch nicht verabschiedet, da laut der ukrainischen Delegation bei der Minsker Trilateralen Kontaktgruppe noch nicht alle Gebiete für die humanitäre Minenräumung ausgehandelt sind.
  • Die Koordination von drei neuen Truppenabzugsgebieten steht noch aus.
  • Seit dem Gipfeltreffen wurden im Dezember und April zwei Gefangenenaustausche durchgeführt, der Austausch «aller gegen alle» steht jedoch noch aus.
  • Das Internationale Rote Kreuz hat keinen vollen Zugang zu den Inhaftierten in den selbsterklärten Volksrepubliken Luhansk und Donezk (im Folgenden VRL und VRD bzw. Volksrepubliken).
  • Laut Stellungnahmen der Minsker Trilateralen Kontaktgruppe wurden neue Übergänge entlang der Demarkationslinie vereinbart, die allerdings noch nicht geöffnet sind.
  • Das aktualisierte Gesetz zum «Sonderstatus der lokalen Selbstverwaltung in bestimmten Gebieten in den Regionen Donezk und Luhansk» wurde noch nicht verabschiedet. Die Steinmeier-Formel ist noch nicht in der ukrainischen Gesetzgebung verankert. Beim Pariser Ukraine-Gipfel vereinbart, sieht sie ein vorläufiges Gesetz über die lokale Selbstverwaltung bestimmter Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk vor, das endgültig in Kraft treten soll, wenn die Kommunalwahlen gemäß ukrainischer Verfassung und Gesetzgebung abgehalten und von der Wahlbeobachtung der OSZE anerkannt werden.

Auch die beim Treffen vereinbarte Ausweitung des OSZE-Mandats ist nicht erfolgt. Zudem blockierten mit Beginn des Lockdowns die VRL und VRD-Behörden über Monate den Zugang für OSZE-Beobachter*innen und behinderten damit die Überwachung des Waffenstillstands. Das ist auch einer der Gründe, warum die OSZE-Berichte nicht das ganze Bild wiedergeben können. Trotzdem sind sie im gegebenen Zeitraum die neutralste und objektivste Informationsquelle hinsichtlich der Situation in den Konfliktgebieten und den Veränderungen an der Demarkationslinie. 

Im Jahr 2019 verringerten sich die Bewegungsbeschränkungen für OSZE-Vertreter*innen noch, jedoch nur auf der von Kyjiw kontrollierten Seite. 2019 wurden 92 % solcher Fälle in den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten und 8 % in den kontrollierten Gebieten registriert, während das entsprechende Verhältnis im Vorjahr bei 83 % zu 17 % gelegen hatte. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Verstößen gegen die Waffenruhe. 2019 kamen 75 % dieser Verstöße von der unkontrollierten Seite und 25 % von der kontrollierten, im Vergleich zu einem entsprechenden Verhältnis von 57 % zu 43 % im Jahr 2018. Im zweiten Quartal 2020 betrug das Verhältnis schon 85 % zu 15 %.

Die Zahl der Verstöße gegen die Waffenruhe ist 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 4 % zurückgegangen. Aber da das erste, zweite und vierte Quartal im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg verzeichneten, ist dieser Rückgang nur auf das dritte Quartal zurückzuführen und damit als Ergebnis der für die letzten Jahre erfolgreichsten Waffenstillstandsvereinbarung vom 21. Juli 2019 zu sehen – die sich leider nach dem Tod von vier ukrainischen Marinesoldaten am 6. August als kurzlebig erwies. Im ersten Quartal 2020 ist die Zahl der Verstöße gegen die Waffenruhe im Vergleich zum letzten Quartal 2019 zwar um 25 % gefallen, im gleichen Zeitraum hat sich aber der Einsatz von Waffen, die dem Konflikt entzogen sein sollten, um das Siebenfache erhöht. Die OSZE hat keine Aussage darüber gemacht, auf welcher Seite diesbezüglich vermehrt Verstöße stattfanden.

Laut Berichten der Beobachtungsmission der Vereinten Nationen hat sich die Zahl der getöteten und verwundeten Opfer in der Zivilbevölkerung 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 33 % (von 281 auf 167) verringert. Die meisten zivilen Opfer durch Artilleriebeschuss und Handfeuerwaffen wurden auf den Gebieten der LVR und DVR erfasst und sind, ausgehend von der geographischen Lage der Auseinandersetzungen, wahrscheinlich auf die ukrainische Seite zurückzuführen. Damit setzt sich eine Tendenz der letzten Amtsjahre des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenkos fort: 2019 befanden sich 81 % der Opfer in den von der ukrainischen Regierung nicht kontrollierten und 17,1 % in den kontrollierten Gebieten, 2018 betrug entsprechendes Verhältnis 78,3 % zu 17,2 %. Dabei ist zu bedenken, dass die jeweiligen Anteile auch von Faktoren wie der Bevölkerungsdichte abhängen, die in den Gebieten der VRL und VRD am Grenzbereich höher ist. Die Zahl der zivilen Opfer in den ersten sechs Monaten von 2020 entspricht etwa der Hälfte der Fälle von 2019.

Grundsätzlich geht der Trend weiterhin in Richtung einer sinkenden Intensität der Kampfhandlungen und der militärischen und zivilen Verluste, wenn auch langsam. Zugleich bedrohen regelmäßige Eskalationen an der Frontlinie die genannten Entwicklungen.

Die Gegner*innen des Friedensprozesses

Selenskyjs Friedensinitiativen trafen von Anfang an auf Widerstand von politischen Kräften und Öffentlichkeit, wurden als «Kapitulation» abgestempelt. Nachdem die ukrainische Führung der Steinmeier-Formel zugestimmt hatte, entbrannten Proteste unter aktiver Teilnahme der politischen Rechten. Unter den im Parlament vertretenen Parteien wurden die Proteste von Poroschenkos Partei «Europäische Solidarität» sowie den Parteien «Stimme» von Swjatoslaw Wakartschuk und, zum geringeren Maße, «Vaterland» von Julija Tymoschenko unterstützt. Diese Kräfte bezweifeln, dass diplomatische Bemühungen den Konflikt lösen können, lehnen Zugeständnisse kategorisch ab und sprechen sich für die Aufrechterhaltung des Status Quo aus oder sogar für Gewalt als Mittel zur Lösung des Konflikts.

In Selenskyjs Team gibt es weder eine klare Strategie für den Donbass noch uneingeschränkte Unterstützung für den Friedensprozess. Das wurde im März 2020 bei der Schaffung eines Beratungsgremiums für die Trilaterale Kontaktgruppe besonders deutlich. Als bekannt wurde, dass Vertreter*innen der LVR und DVR im Rat sitzen sollten, rebellierte ein Teil von Selenskyjs Partei «Diener des Volks».

Nicht weniger entscheidend ist Selenskyjs mangelnder Einfluss auf das schon seit Poroschenkos Amtsantritt vor fünf Jahren von Arsen Awakow geführte Innenministerium. Awakow hat sich das Ministerium komplett dienlich gemacht, seine Leute in Schlüsselpositionen gebracht und die Konkurrenz «beiseitegeschoben». Mittlerweile hat sich sein Einfluss sogar über das Innenministerium hinaus ausgeweitet. Awakows Absetzung könnte zu einem zeitweiligen Kontrollverlust des Präsidenten über den repressiven Staatsapparat führen, was für die Regierung ein großes Risiko darstellen würde. Gleichzeitig ist Awakow nicht an einem Friedensschluss interessiert, denn das Ende der Gefechte würde seine Beliebtheitswerte nicht verbessern und könnte Selenskyj ermöglichen, ihn loszuwerden.

Selenskyj möchte also einerseits den Krieg beenden und hängt andererseits von Awakows Loyalität ab. Ein bemerkenswertes Beispiel dieses Dilemmas ist der Fall Serhij Siwoho, der Selenskyjs Unterstützung hatte, eine zivilgesellschaftliche Dialogplattform mit Vertreter*innen aus dem Donbass, einschließlich der Volksrepubliken, zu gründen. Im März 2020 wurde die Präsentation der Plattform von Vertreter*innen der rechtsradikalen Partei «Nationalkorps» gestört, die aus dem Regiment Asow entstanden ist, als deren Gönner Awakow gilt. Die Polizei griff bei dem Zwischenfall nicht ein und Siwoho verlor seinen Posten als Berater des Sekretärs des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine.

Nichtsdestotrotz ist der Wunsch nach Frieden in der Bevölkerung weit verbreitet. Laut Meinungsumfragen unterstützen 25 % der ukrainischen Bevölkerung die Proteste gegen Selenskyjs Friedensinitiativen, die Mehrheit aber Selenskyjs Politik, einschließlich des Truppenrückzugs an drei Abschnitten. Für die Zukunft wünschen sich 60 % der Ukrainer*innen die Gebiete zum Stand von vor dem Krieg zurück. Der Großteil ukrainischer Bürger*innen hält für einen Frieden Zugeständnisse für nötig, allerdings erreicht kein bestimmter Kompromisspunkt Mehrheiten, auch nicht der Sonderstatus für bestimmte Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk.

Unter den vier Szenarien einer Konfliktlösung, nämlich 1) den Krieg bis zum siegreichen Ende weiterzuführen, 2) die Gebiete auf der Basis von Autonomie zu reintegrieren, 3) sie aufzugeben oder 4) die Kämpfe einzufrieren, genießt die letzte Option die größte Zustimmung unter den Wähler*innen der Partei «Diener des Volkes». Gleichzeitig wächst die Zustimmung für einen Sonderstatus auf fast 50 %, wenn dies die Grundbedingung für ein Ende der Kämpfe wäre. Die Situation für die Regierung wird dadurch erschwert, dass ein erheblicher Teil der Gesellschaft Frieden ohne größere Kompromisse erwartet.

Der Friedensprozess in der Pandemie

Vielleicht ist die Hauptfolge der Coronavirus-Pandemie auf den Friedensprozess dessen Verdrängung aus der öffentlichen Wahrnehmung. Im Zeitraum Oktober–Dezember 2019, während des Truppenrückzugs und des Treffens im Normandie-Format in Paris, stieg die Beliebtheit von Wolodymyr Selenskyj und seiner Regierung. Das zeigt, dass der Frieden eine der Hauptprioritäten für die ukrainische Bevölkerung war. Aber seit der Wirtschaftskrise sind bei steigender Arbeitslosigkeit persönliche existenzielle Fragen in den Fokus gerückt. Die Unterstützung für Selenskyj in der Bevölkerung hängt jetzt eher von seinem Erfolg bei der Bekämpfung der Pandemie und der Wirtschaftskrise ab.

Es sollte angemerkt werden, dass wirtschaftliche Probleme dem Friedensprozess bereits vor der Pandemie im Weg standen. So hat das Parlament Anfang November einen wichtigen Gesetzesentwurf abgelehnt, der den Einwohner*innen der nicht-kontrollierten Gebiete die Auszahlung ihrer Renten vereinfachen sollte, da die Umsetzung 4,2 Milliarden US-Dollar erfordert hätte.

Nicht weniger wichtig sind die Veränderungen im Donbass. Seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen wurden die jeweiligen Grenzen beidseitig geschlossen. Das hat die lokale Wirtschaft stark getroffen, die Bevölkerung von VRL und VRD dabei gehindert, Rentenzahlungen und Sozialhilfeleistungen zu bekommen, und die Gräben zwischen den Fronten weiter vertieft. Die Grenzposten öffnen nun nach und nach, aber der Prozess wird von der VRD verzögert.

Während des Lockdowns vollzogen sich auch erhebliche Veränderungen im Verhalten der ukrainischen Delegation bei den Verhandlungen der Minsker Kontaktgruppe. So kehrte sie zu einem Prinzip aus der Poroschenko-Zeit zurück, demzufolge Sicherheitsthemen vor politischen Fragen geklärt werden müssen. Eine vollständige Rückkehr zur Politik von 2017–2018 hat jedoch nicht stattgefunden und die ukrainische Regierung sucht nach neuen Lösungswegen.

Um den Friedensprozess zu beschleunigen, sollte im Mai 2020 die ukrainische Seite in der Minsker Kontaktgruppe durch amtierende Vertreter*innen der Regierung und der Werchowna Rada (ukrainische Parlamentskammer, Anm. d. Übers.) verstärkt werden. Der Vize-Ministerpräsident Oleksij Resnikow wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden der ukrainischen Delegation ernannt. Eine seiner wichtigsten Neuerungen war die Aufnahme zweier aus Donezk geflohenen Journalisten in die Delegation: Denys Kasanskyj und Sergei Garmasch. Sie sind bekannt für ihre Kritik jeglicher Zugeständnisse an Russland und die Separatisten und werden von den Vertreter*innen der VRL und VRD abgelehnt. Zudem fordert die ukrainische Seite, dass Binnenvertriebene und Personen, die keine Funktionäre der Volksrepubliken sind, bestimmte Gebiete vertreten sollten – gemäß der Minsker Abkommen sind sie bei der Durchführung der Wahlen zu konsultieren.

Das Verhalten der russischen Regierung und der Separatisten ist ebenfalls ambivalent. Einerseits kann die Absetzung von Wladislaw Surkow Anfang 2020 und die Ernennung von Dmitri Kosak zum stellvertretenden Vorsitzenden der russischen Präsidialverwaltung als Abkehr vom konfrontativen Kurs gegenüber der Ukraine gesehen werden. Andererseits hat Kosak erklärt, die Verhandlungen auf Ebene der Kabinettsberater*innen innerhalb des Normandie-Formats abbrechen zu wollen. Gleichzeitig haben die VRL/VRD-Führungen mehrere Schritte unternommen, die als Weigerung der regionalen Eliten bezüglich einer Wiedereingliederung ausgelegt werden können, beispielsweise die Aufhebung der ukrainischen Sprache als Amtssprache. Ihre Reintegration würde Unsicherheiten mit sich bringen, doch werden sie vom Kreml gesteuert und sind alleine unfähig, den Friedensprozess ernsthaft zu beeinflussen.

Grundsätzlich weisen das aktuelle Verhalten und die offiziellen Stellungnahmen der Ukraine auf Zurückhaltung in Bezug auf weitere Zugeständnisse hin. Auch die russische Regierung will keine Zugeständnisse machen und verlangt, dass die Ukraine ihre Verpflichtungen erfüllt.

Friedensaussichten

Der sozioökonomische Preis des Konflikts wächst indessen weiter: Die Ukraine hat ein Verteidigungsbudget in Rekordhöhe von 6 % des BIP für 2020 eingeplant. Wirtschaftliche Verluste zu Beginn des Konflikts betrugen mindestens 15 % des ukrainischen BIP. Ganz zu schweigen davon, dass die Ukraine in finanzieller Abhängigkeit zum IWF steht, eine Lage, die sich im Zuge der anbahnenden Wirtschaftskrise weiter verschlimmert.

Die sozioökonomische Situation in den Volksrepubliken ist sogar noch schwieriger. Wirtschaftlich sind die beiden Republiken vollständig von Russland abhängig, das ihre Industrie zunehmend zum Kollaps führt. Ein Beispiel ist Vneshtorg Service, ein de facto russisches, in Südossetien registriertes Unternehmen des ukrainischen Oligarchen Serhij Kurtschenko, der 2014 aus der Ukraine geflohen ist. Dem Unternehmen wurde ein großer Teil der «verstaatlichten» Industrie übertragen, was zu einer massiven Verschuldung im privaten Sektor führte und Löcher in den Haushalt riss. Laut der russischen Nachrichtenplattform RBC betrugen die Schulden im November 2019 etwa 400 Millionen US-Dollar. Im Juni 2020 führten ausbleibende Lohnauszahlungen zu Protesten von Bergarbeiter*innen in der VRL. Behörden reagierten mit repressiven Maßnahmen gegen Gewerkschaftsaktivist*innen, zahlten aber einen Teil der ausstehenden Löhne und Gehälter.

Die wirtschaftliche Situation könnte die Konfliktparteien schließlich zu Kompromissbereitschaft zwingen, aber selbst das gibt keinen Anlass für Optimismus. Überstürzte Reintegration aufgrund der Umstände und unter westlichem Druck könnte die politische Situation destabilisieren und eine Eskalation der Gewalt provozieren. Dieses Problem kann nur eine starke Regierung angehen, die den Zuspruch der Bevölkerungsmehrheit genießt – doch das liegt in weiter Ferne.

In den letzten Monaten ist die parlamentarische Fraktion von «Diener des Volkes» allmählich der Kontrolle des Präsidenten entglitten. Selenskyj ist immer noch der beliebteste Politiker des Landes, aber das öffentliche Vertrauen in ihn und die Unterstützung für seine Partei sinken. In diesem Zusammenhang ist die steigende Beliebtheit zweier radikaler politischer Kräfte zu sehen, Poroschenkos «Europäischer Solidarität» und der «Oppositionsplattform – Für das Leben». Letztere ist zu Kompromissen für den Frieden bereit, wird aber von vielen in der Ukraine als pro-russisch wahrgenommen. Zudem kooperiert die Plattform mit der deutschen rechtspopulistischen Partei AfD. Sollte es zu einem politischen Bündnis zwischen Selenskyj und der «Oppositionsplattform – Für das Leben» kommen, könnte ihm eine weit größere Welle der Empörung aus seiner Partei entgegenschlagen als bei der Gründung des Beratungsgremiums.

Erschwert wird die Lage durch die strukturellen Besonderheiten der ukrainischen Zivilgesellschaft, die sich in zwei Hauptflügel teilt: ein rechtes und ein nationalliberales Lager. Trotz gelegentlicher Konflikte haben sich die beiden Lager im Laufe des letzten Jahres de facto weiter angenähert. Der Krieg im Donbass verstärkt dieses Bündnis und die anti-russischen Ressentiments in der Gesellschaft. In der Kriegssituation ist es einfach, eine Position als pro-russisch zu diffamieren und damit ihren politischen Einfluss zu entwerten oder zu schwächen. All das führt dazu, dass die Kulturpolitik der Regierung zunehmend nationalistisch und ausschließend wirkt, was eine Reintegration der Einwohner*innen der unkontrollierten Gebiete in die ukrainische Gesellschaft weiter erschwert.

Trotz aller Widrigkeiten darf der Krieg im Donbass nicht vergessen werden. Um die drei Millionen Menschen leben weiterhin in der Konfliktzone und in den unkontrollierten Gebieten. Das Gebiet, auf dem der Konflikt ausgetragen wird, könnte sich jeden Moment in eine ökologische Katastrophenzone verwandeln, deren langfristige negative Folgen weit über die Region reichen würden. Der Krieg ist einer der zentralen Faktoren, der der Ukraine bei ihrer Entwicklung im Weg steht.

Da unter den gegebenen Umständen keine baldige Reintegration möglich sein wird, sollte eine vollständige Einstellung aller Feindseligkeiten oberste Priorität haben. Der einzige Weg könnte die Entsendung eines internationalen Friedenskontingents in den Donbass sein, zum Beispiel in Form einer Polizeimission unter der Aufsicht der OSZE. Das Ende der Kämpfe würde eine maßgeblich neue Donbass-Politik ermöglichen.

Es ist auch wichtig, Druck zur Einhaltung der Menschenrechte auf die Regierung in Kyjiw auszuüben, um den Schutz der Zivilbevölkerung in der Kriegszone zu gewährleisten. Sozial- und Kulturpolitik sollte der Bevölkerung der Volksrepubliken gegenüber inklusiver werden. Staatliche Institutionen müssen aufhören, rechte Organisationen zu finanzieren und die Exekutive muss ihnen Einhalt gebieten. Ebenso wichtig ist es, Druck auf die russischen Behörden hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte und des Zugangs für internationale Organisationen zu den von ihnen kontrollierten Gebieten der Volksrepubliken aufzubauen.

Es ist notwendig, neue Grenzübergänge zu schaffen, das Verfahren für die Überquerung der Demarkationslinie zu vereinfachen und die Wirtschaftsblockade Schritt für Schritt abzubauen. Im Weiteren ist es essenziell, Verbindungen zwischen den von Kyjiw kontrollierten und den nicht kontrollierten Gebieten wiederherzustellen, deren gegenseitige Isolation sich im Laufe des Krieges verhärtet hat. All das wird schließlich eine neue politische Realität schaffen, die eine Reintegration möglich macht.

Übersetzung ins Englische von Viktoriia Muliavka, Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche von Irina Bondas und Lisa Jeschke für Gegensatz Translation Collective.

Für den Inhalt des Artikels sind die benannten Autoren verantwortlich. Der Inhalt des Artikels spiegelt nicht zwangsläufig die Position der Rosa-Luxemburg-Stiftung wieder.