Interview | Partizipation / Bürgerrechte - Amerikas - Andenregion «Dies widerspricht den Ideen eines linken Projektes»

Ein Gespräch über die Menschenrechtslage in Venezuela

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Andrés Antillano
Andrés Antillano ist seit 30 Jahren in Venezuela als Basisaktivist in stadtpolitischen Bewegungen aktiv.
  Foto: Tobias Lambert

Wir fragen den venezolanischen Kriminologen und Aktivisten Andrés Antillano zu struktureller Polizeigewalt und zu dem kürzlich veröffentlichten UN-Bericht über die Menschenrechtslage in Venezuela. Das Interview führte Tobias Lambert.
 

Tobias Lambert: Vergangene Woche ist ein vom UN-Menschenrechtsrat in Auftrag gegebener Bericht erschienen, der schwere Menschenrechtsverletzungen wie extralegale Hinrichtungen und Folter in Venezuela thematisiert. Die Verfasser sehen Anhaltspunkte für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wie ist der Bericht zu bewerten?

Andrés Antillano: Multilaterale Menschenrechtspolitik halte ich für eine wichtige Errungenschaft. Um effektiv zu sein, müssen die jeweiligen Instrumente aber universelle Maßstäbe ansetzen, die für alle Länder gelten und dürfen sich nicht an der Agenda mächtiger Akteure orientieren. Es gibt zumindest begründete Zweifel an den Rückschlüssen, die der Bericht zieht.

Welche Zweifel sind das?

Der Vorwurf, dass die Regierung die Menschenrechtsverletzungen bewusst anordnet und daher Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, scheint politisch motiviert zu sein. Es macht keinen Sinn, die Situation hier mit jener in anderen Ländern zu vergleichen. Doch wirkt der Umgang mit dem Begriff Verbrechen gegen die Menschlichkeit etwas leichtfertig. In Venezuela selbst konnten die Verfasser gar nicht forschen. Die Beurteilung geht zum Beispiel auf Aussagen des früheren Direktors der Geheimdienstpolizei Sebin, Manuel Christopher Figuera, zurück. Dieser war selbst für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und maßgeblich am gescheiterten Putschversuch vom 30. April vergangenen Jahres beteiligt. Anschließend ist er in die USA geflohen. Er kann also kaum als glaubwürdige Quelle gelten. Der Bericht könnte die derzeitigen Versuche zum Scheitern bringen, eine demokratische Reinstitutionalisierung einzuleiten.

Andrés Antillano arbeitet als Kriminologe und Universitätsdozent in Caracas. Als Wissenschaftler hat er umfassend zu struktureller Gewalt in marginalisierten Gebieten geforscht. Seit 30 Jahren ist er in Venezuela als Basisaktivist in stadtpolitischen Bewegungen aktiv.

Unterstellen Sie dahinter eine Absicht?

Das will ich nicht behaupten. Aber Teile der Opposition, die selbst in gewalttätige Umsturzversuche verwickelt sind und Sanktionen gegen die Bevölkerung befürworten, könnten mit Verweis auf den Bericht die gerade begonnene Öffnung torpedieren. Präsident Nicolás Maduro hat kürzlich 110 Oppositionelle begnadigt, von denen einige wohl niemals hätten belangt werden dürfen. Wichtige Teile der Opposition sprechen mit der Regierung in der Folge wieder über die Teilnahme an den Parlamentswahlen. Den Bericht der UNO nun politisch zu instrumentalisieren, würde den Menschenrechten einen Bärendienst erweisen. Die Kritik an dem Bericht darf aber nicht dafür missbraucht werden, die darin beschriebenen Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen.

Vorwürfe über tausende extralegale Hinrichtungen durch die Spezialeinheit FAES in Armenvierteln, willkürliche Verhaftungen und Folter erheben auch andere internationale und venezolanische Organisationen seit Jahren. Warum skandalisiert dies vor allem die Opposition und nicht der Chavismus selbst?

Der rechte Opposition geht es meist nur um Fälle, von denen Mitglieder der Mittel- oder Oberschicht betroffen sind. Für die viel häufiger vorkommenden Menschenrechtsverletzungen in den Armenvierteln interessiert sie sich hingegen kaum. Innerhalb des Chavismus gibt es sehr wohl Kritik und Forderungen, die Polizeigewalt zu stoppen. Dies geht aber eher von basisnahen Sektoren aus, die nicht mehrheitsfähig sind. Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass diese Praktiken aufgrund der eklatanten Einmischung von außen toleriert werden müssen. Doch der entscheidende Punkt ist, dass die Verletzung der Menschenrechte der Idee eines linken, progressiven Projektes, dass sich auf den Rückhalt der ärmeren Bevölkerungsteile stützen will, grundlegend widerspricht.

Wie ist die Polizeigewalt gegen die ärmere Bevölkerung zu erklären, wenn sich die Regierung selbst als als links versteht?

Die staatlichen Einnahmen Venezuelas hängen seit Jahrzehnten fast ausschließlich vom Erdölverkauf ab. Immer, wenn der Ölpreis fällt und dadurch die zu verteilende Erdölrente kleiner wird, nimmt in Venezuela die Repression gegen die Unterschichten zu. Das war auch schon während der Krise in den 1980er Jahren so, nachdem die Repression während des Erdölbooms der 1970er Jahre zurückgegangen war. Hugo Chávez hat die Polizeigewalt der Vorgängerregierungen immer scharf kritisiert. Vor allem in seinen ersten Regierungsjahren ab 1999 verfolgte er eine aktive Menschenrechtspolitik, in der Kriminelle als Opfer der sozialen Verhältnisse betrachtet wurden. Dies war nicht nur ein Diskurs, sondern spiegelte sich auch in einer rechtlichen Aufwertung der Menschenrechte durch die neue Verfassung wider. In der Folge gingen die Polizeirepression in den barrios und die Anzahl der inhaftierten Personen deutlich zurück. Im Zuge der Krise änderte sich das Narrativ von der strukturellen zu einer moralischen Ebene.

Was bedeutet das?

Heute ist der Kriminelle ein Feind, der durch eine «Politik der harten Hand» bekämpft werden muss. Die ärmere Bevölkerung gilt nicht mehr als Subjekt der Revolution, sondern als verdächtig. Hinzu kommt seit einigen Jahren die rassistische Behauptung, die Gewalt werde von kolumbianischen Paramilitärs nach Venezuela exportiert, wofür es überhaupt keinen Beleg gibt. In der Folge erleben wir eine völlig unverhältnismäßige Gewalt gegen die popularen Sektoren, die seit dem Einbruch der Erdölpreise ab 2015 deutlich zugenommen hat.

Welche politischen Folgen hat dies?

Die Menschen vertrauen nicht mehr darauf, dass der Staat Mechanismen zur Lösung von Konflikten bereitstellt. Diese Probleme sehen wir in vielen Ländern Lateinamerikas. Die Gewalt geht letztlich von institutionell schwachen Regierungen aus, auch wenn dies auf den ersten Blick paradox klingt. Die Regierungen wenden Gewalt an, weil sie nicht in der Lage sind, einen sozialen Konsens und politische Hegemonie herzustellen. Mit den ursprünglichen Ansätzen des Chavismus ist dies nicht vereinbar. Was wir brauchen ist eine offene Debatte darüber, wie die Menschenrechtsverletzungen gestoppt werden können, sowie eine Rückkehr zu sozialer Inklusion und politischer Partizipation.

Nicht nur die Polizeigewalt hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Seit Jahrzehnten steigt die Mordrate kontinuierlich an, auch andere Gewaltindikatoren zeigen nach oben. Woran liegt das?

Tatsächlich leben wir seit Ende der 1980er Jahre mit der makabren Dynamik, dass sich die Anzahl der Morde alle zehn Jahre verdoppelt. Das hat verschiedene Ursachen wie fehlgeleitete Politiken, Repression gegenüber den ärmeren Bevölkerungsschichten und die immer noch bestehende Praxis, Kleinkriminelle zum Beispiel wegen geringfügiger Drogendelikte einzusperren, während wohlhabende Straftäter davonkommen. Das Strafrecht wird in Venezuela seit eh und je gegen die Armut instrumentalisiert.

In der Regierungszeit von Hugo Chávez sind Armut und soziale Ungleichheit deutlich zurück gegangen. Warum ist es der Regierung trotzdem nicht gelungen, einen weiteren den Anstieg der Gewalt zu verhindern?

Das Thema der Gewalt zeigt die realen Grenzen der linken Transformationsprojekte auf, die es nicht geschafft haben, sich aus der Rohstoffabhängigkeit zu befreien. In Venezuela und auch in anderen Ländern der Region ist nicht die Arbeit Quelle des Reichtums, sondern der Zugang zu den Einnahmen aus dem Rohstoffverkauf, in unserem Fall der Erdölrente. Es stimmt, dass Venezuela bis vor ein paar Jahren soziale Fortschritte erzielt hat. Aber erstens basierten diese auf einer Verteilung der Erdöleinnahmen und nicht auf strukturellen Veränderungen. Im Zuge der Krise ab 2014 konnte sich die Exklusion weiter Teiler der Gesellschaft somit reproduzieren und die sozialen Fortschritte wieder verschwunden oder die Situation sogar hinter das Ausgangsniveau zurückfallen. Und zweitens waren die Sozialpolitiken nicht universell.

Aber ab 2003 hatten sie landesweit doch eine beachtliche Reichweite ...

Dennoch hatten innerhalb der ärmeren Schichten nie alle Menschen Zugang zu den Sozialprogrammen, zum Bildungssystem und zu formeller Arbeit. Es gibt viele marginalisierte junge Männer, die nie einen festen Job hatten – und das sind statistisch betrachtet die Hauptakteure der Gewalt. Darin unterscheidet sich Venezuela nicht von anderen Ländern Lateinamerikas. Und paradoxerweise kann die Verbesserung der sozialen Lage in der Gesellschaft die Gewalt in den Armenvierteln sogar anheizen.

Inwiefern?

Wenn du als junger Mann keine Arbeit hast und mitbekommst, wie um dich herum im barrio plötzlich viele Leute mehr Geld haben und neue Schuhe tragen, kann das noch schmerzhafter sein, als wenn du es nur in den Vierteln der Mittel- und Oberschicht siehst. Diese Exklusion innerhalb der Unterschichten erweckt noch mehr das Bedürfnis, auch konsumieren zu wollen. Gewalt ist in diesem Zusammenhang ein Mechanismus, um sich einen Teil der Erdölrente einzuverleiben. Und während die sozialen Verbesserungen nicht alle Menschen erreichen, kommen Repression und Strafjustiz sehr wohl an.