Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist mit sechs Büros in ganz Osteuropa vertreten. Mit unserer Arbeit vor Ort versuchen wir Handlungsspielräume für Frauen zu erweitern und die Emanzipation und Selbstbestimmung von Frauen zu fördern sowie generell eine feministische Politik voranzutreiben. Die konkreten Projekte vor Ort betreuen unsere elf Projektmanagerinnen in den Büros. Sie haben nicht nur durch ihre Arbeit mit den Projektpartnern oder in eigenen Projekten vielfältiges Wissen zum Thema, sondern auch die Transformation selbst erlebt. Eine von ihnen, Nelia Vakhovska aus unserem Kiewer Büro, haben wir gefragt, wie sie diese Zeit er- und durchlebt hat.
In welche Welt wurdest Du hineingeboren?
Nelia Vakhovska: Ich kam 1980 in einer typischen sowjetischen Arbeiterfamilie zur Welt. Meine Eltern sind im Alter von 20 aus ihrem Heimatdorf in die nächste Kleinstadt umgezogen. Eine starke Verbindung zu «ihrem» Dorf blieb aber bestehen. Mein Vater arbeitete als Fahrer bei einem Unternehmen, das die Technik in den umliegenden Kolchosen (landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) betreute. Meine Mutter – die Aufsteigerin – hat als erstes Mitglied ihrer Familie die Universität als Ökonomin abgeschlossen. Dies hatte jedoch keine Auswirkungen auf unser reales Familienleben. Meine Kindheit blieb patriarchal geprägt. Meine Mutter nahm nach der Universität keine Arbeit auf und blieb Hausfrau. Das war eher ungewöhnlich und sie damit eine Ausnahme. Sie sorgte sich um mich, bis ich mit sieben Jahren eingeschult wurde. Sie kümmerte sich um den gesamten Haushalt, den Gemüsegarten und unsere Tiere. Wir waren fast Selbstversorger, hatten Schweine und Hühner, manchmal auch ein Rind. Mein Vater brachte einen bescheidenen Lohn nach Hause und half bei der Versorgung des Viehs, dem Hacken von Brennholz, allerlei Reparaturen und handwerklichen Basteleien. Die «Weiberarbeit» hat er nicht angefasst. Er ging jagen und Pilze sammeln, beides nicht nur zum Spaß, sondern um uns zu versorgen und brachte seinem einzigen Kind, die aus seiner Sicht praktischen Sachen bei: viel Sport und viele Spaziergänge.
Nelia Vakhovska (*1980) arbeitet als Programmmanagerin im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kiew.
Meine Mutter begann 1987 zu arbeiten. Sie arbeitete in der Bezirksbäckerei, die fast 60.000 Menschen nicht nur mit Backwaren, sondern auch mit Torten und Limonaden versorgte. Sie war in der Verwaltung für die Verteilung der begehrten Waren zuständig. Dies ermöglichte ihr ein großes Netzwerk von «besonderen Beziehungen» zu knüpfen, wodurch sie selbst einige Dinge organisieren konnte, die nur schwer zu beschaffen waren. Durch die neue Position meiner Mutter änderte sich auch ihre Beziehung zu meinem Vater, die nun mehr von Konflikten geprägt war. Mein Vater warf ihr vor, dass sie untreu wäre und den Haushalt nicht ordentlich führe. Sie hingegen war der Meinung, dass er ein schlechter Versorger sei, also ein schwacher Mann. Beide fühlten sich gefangen in den ihnen zugewiesenen Rollen. Aber beide schafften es auch nicht, sich daraus zu befreien. Ihre jeweiligen Eltern befeuerten diesen Streit.
Meine Mutter beendete die zweite Schwangerschaft, die sie nicht wollte. Eine Entscheidung, die man als Frau alleine treffen konnte. Allerdings war die Haltung der Medizinerinnen den Patientinnen gegenüber ziemlich repressiv.
Sie wollte sich gerne scheiden lassen. Als Alleinerziehende mit guter Ausbildung hätte sie sicher Wohnung und Arbeit vom Staat gestellt bekommen. Letztendlich hat sie sich aber nicht getraut.
Wie sah Dein Leben aus, als der Staatssozialismus zusammenbrach?
1991, als die Wende kam, war ich elf Jahre alt und Mitglied der Pionierorganisation, deren Rituale längst hohl geworden waren. Das Leben bis dahin war eintönig. Danach überrollte uns die volle Pracht des Konsums. Kaugummis in allen möglichen Geschmacksrichtungen, Jeans und andere Klamotten – nicht mehr nur aus der DDR, sondern «richtig coole» aus dem Westen. Hollywood-Blockbuster und Pornofilme konnte man jetzt geheim in sogenannten Videosalons sehen – im Keller auf dem Fernseher mit Videorekorder und unausstehlich schlecht vertont. Plötzlich kamen Wunderheiler*innen, Esoterik-Anhänger*innen und Missionare aller Art sogar in die Schule, wo Lehrende und Lernende gleich naiv ihren Geschichten lauschten. Fasziniert wie die Indigenen von den Glasperlen der Kolonisator*innen.
Was bedeutete der Zusammenbruch des Staatssozialismus für Dich? Wie hat sich Dein Leben danach geändert?
Die Welt brach auseinander. In vielen Familien verlor jemand die Arbeit. Plötzlich erfuhr man, was Armut ist. Polizisten verwandelten sich in Banditen. Und die Banditen wiederum in Businessmen. Der Lohn meines Vaters wurde mehrere Monate lang nicht ausgezahlt. Er versank in einer Depression. Meine Mama wurde praktisch zur Alleinverdienerin. Wir bekamen zwei Grundstücke (ca. 0,3 Hektar) zugeteilt und haben angefangen, sie per Hand zu beackern. Beide Elternteile klauten auf der Arbeit, meistens Lebensmittel, die in der Kolchose oder der Bezirksbäckerei zu bekommen waren, während Ihre Vorgesetzten ganze Unternehmen, Autos und alles andere, was sich irgendwie zu Geld machen ließ, an sich rissen. Alles zerfiel. Es gab ein Jahr, wo ich nicht mal neue Socken bekam. Meine Mama weinte, als sie mir endlich eine Hose kaufen konnte. Ich verstand nicht, warum. Ich war glücklich.
Die «neuen Reichen» – Typen in himbeerfarbenen Sakkos, mit Waffen, umgeben von bekifften Schönheiten – schlichen langsam vom Fernsehen ins reale Leben des Städtchens hinein. Man fühlte sich unsicher und permanent bedroht, insbesondere als junge Frau.
Gibt es etwas, was Du aus feministischer Perspektive als größten Verlust dieser Zeit bezeichnen würdest?
Das Gefühl der Sicherheit – es ist nie wiedergekehrt. Ich wurde sozialisiert mit der Haltung: man kann sich auf niemanden verlassen, insbesondere als Frau.
Wie würdest Du diese Zeit bezeichnen?
Es war ein Verbrechen. Es dauerte fast 20 Jahre und hat den Menschen ihre Würde genommen. Ich bin immer noch wütend, wenn ich an die Zeit denke.
Wenn Du die Situation heute beschreibst, wie würde das aussehen? Welchen Einfluss hat der jetzige Kapitalismus auf die Geschlechtergerechtigkeit in eurer Gesellschaft.
Der Übergang zu diesem wilden entfesselten Kapitalismus, den wir mit seiner grassierenden Armut und dem unaufhaltsamen Aufstieg der Konservativen durchlebten, hat das Patriarchat viel mehr gestärkt, als die Gleichstellung der Geschlechter vorangetrieben. Die Forderung nach Gendergerechtigkeit ist gut und richtig, sie hätte aber viel früher und schärfer erhoben werden müssen.
Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben zwar einerseits zur Abschaffung einiger repressiven Normen geführt. So wurde die Homosexualität entkriminalisiert und für die Änderung des Geschlechts ist die Sterilisation keine Voraussetzung mehr. Die Liste der Berufe, die für Frauen verboten sind, wurde abgeschafft.
Andererseits sind die wirtschaftlichen Rechte und viele Freiheiten der Frauen stärker eingeschränkt worden. Nationalkonservative aller Couleur drängen die Frauen in die drei «K» (Küche, Kinder, Kirche) zurück. Es kann passieren, dass man wieder auf der Straße erschlagen wird, wenn man eine andere sexuelle Orientierung hat als die Mehrheit.
Ich glaube nicht, dass die Sowjetunion ein supertolles System war, der Kampf um unsere Rechte hätte aber einen anderen Weg nehmen sollen als die Übernahme des Kapitalismus.