Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Arbeit / Gewerkschaften - International / Transnational - Europa - Osteuropa «Respekt beginnt bei 1.000 EUR.»

Der Untertagestreik der Bergleute in Krywyi Rih.

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Autorin

Aljona Tkalitsch,

Foto:commons.com.ua

Seit dem 3. September streiken im ostukrainischen Krywyj Rih, dem Zentrum der ukrainischen Metallurgie und der Heimat des derzeitigen Präsidenten - Wolodymyr Selenskyj - die Bergarbeiter. Einige Hundert von ihnen sind seitdem in anderthalb Kilometern Tiefe und weigern sich, den Schacht zu verlassen.

Sie lehnen die Abschaffung von Sonderkonditionen bei den Rentenauszahlungen ab, fordern eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und angemessene Löhne. 

«Respekt beginnt bei 1.000 EUR» - lautet das Motto des Streiks. Diese Summe fordern die Protestierenden als Lohn. In der Ukraine, wo der Durchschnittslohn bei etwa 300 Euro liegt, ist diese Forderung ziemlich radikal. Jedoch erhielten Bergleute bereits früher schon einmal Löhne in Höhe von etwa 1.000 EUR bis 2014 die massive Abwertung der Hrywna einsetzte.

Das im Krywbass abgebaute Eisenerz wird zu weltmarktüblichen Preisen international exportiert. Die Bergleute glauben, dass ihre Löhne nicht auf Grundlage realer Kosten und Gewinnse des Unternehmens, sondern durch das allgemein niedrige Lohnniveau in der Ukraine bestimmt werden.

In anderen postsowjetischen Ländern vergleichbarer Wirtschaftskraft sind die Löhne höher. So etwa bei ArcelorMittal Temirtau in Kasachstan, das 2018 Löhne zwischen etwa 550 und 850 EUR zahlte. In der Ukraine zahlte das Eisenerzkombinat in Krywyj Rih, ebenfalls zugehörig zur Holdinggruppe ArcelorMittal, im selben Jahr nur etwa 400 Euro im Durchschnitt. Darüber hinaus hat das Unternehmen, in dem jetzt gestreikt wird, 2019 seinen Gewinn im Vergleich zum Vorjahr auf 1.583 Milliarden Hrywna verdoppelt (von rund 24 auf 48 Millionen EUR). In 2019 lag das Durchschnittsgehalt beim Unternehmen ArcelorMittal in Krywyj Rih bei rund 600 Euro. In dieser Berechnung enthalten sind jedoch auch die deutlich höheren Gehälter des Managements. Ungefähr die gleichen Löhne werden in den nördlichen und südlichen Bergbau- und Aufbereitungskombinaten ausgezahlt. Im Eisenerzkombinat in Krywyi Rih wird Eisenerz jedoch unter Tage gefördert, was im Vergleich deutlich mühsamer ist als der Abbau in einer Tagebaumine und sich deshalb auch auf die Löhne auswirken sollte.

Infolge des Streiks stand das Kombinat mit einer Belegschaft von 10.000 Mitarbeitenden plötzlich still. Zudem solidarisierten sich viele Bewohner*innen und organisierten Kundgebungen und weitere Aktionen zur Unterstützung. 
Die meisten landesweiten Medien ignorierten die Proteste, genauso wie der Präsident. Stattdessen erhielten die Streikenden Drohungen vom ukrainischen Geheimdienst. Ein Verfahren wegen «Massenunruhen» wurde durch die Staatsanwaltschaft eingeleitet. 

Am 15. September reisten Kollegen und Angehörige der Streikenden nach Kiew und richteten ein Protestcamp vor dem Parlament ein, dass von ortsansässigen Linken und Gewerkschafter*innen unterstützt wird. Die erste Nacht verbrachten die Menschen direkt vor der Werchowna Rada - dem ukrainischen Parlament. Weitere Aktionen vor anderen Institutionen folgten.

Was war der Anstoß für den Protest?

Der Auslöser des Protestes, einer der größten den Krywyi Rih in den letzten Jahren gesehen hat, war eine Änderung des Lohnsystems. Zuvor richtete sich die Bezahlung nach den geleisteten Arbeitsstunden unter Tage. Dabei wurde die Zeit unter Tage in Gänze berücksichtigt. Durch die Änderung ist der Lohn nun direkt an die Produktionsmenge gekoppelt. Steht die Produktion durch Wartungs- und Reparaturarbeiten still, was auf Grund von maroder und störungsanfälliger Infrastruktur häufiger geschieht, gilt dies nicht als Arbeitszeit.

«Dieses System wurde in allen vier Minen des Eisenerzkombinats eingeführt, die sich am Protest beteiligen (Rodina, Hwardijska, Ternowska, Oktjabrska). Zuerst jedoch in der Mine Oktjabrska», erzählt Jurij Samojlow, Chef der Unabhängigen Gewerkschaft der Bergarbeiter von Krywyi Rih. Die Gewerkschaft ist eine der aktivsten in der Region, auf den Demonstrationen zum 1. Mai wird die Forderung nach 1.000 EUR regelmäßig laut. Zudem gibt es im Kombinat die Gewerkschaft der Metallurgiearbeiter und Bergleute der Ukraine. Beide Gewerkschaften kommunizieren die Forderungen der Bergarbeiter gegenüber dem Management und informieren die Angehörigen über die dringendsten Bedürfnisse der Bergleute. 

«Der Generaldirektor bekommt 343.000 Hrywna pro Monat, das sind etwa 11.000 US-Dollar», sagt Jurij Samojlow.

Derzeit ist Serhij Nowak Generaldirektor des Eisenerzkombinats. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten möchte. Mehr noch: zu Beginn der Proteste erklärte die Kombinatsleitung, dass die Bergarbeiter kriminelle und illegale Taten begehen würden. Deshalb wandte sich das Management an den Geheimdienst der Ukraine und versprach, die entstandenen Verluste auf Kosten der Arbeiter zu kompensieren. Darum fordern die Streikenden und die Gewerkschaften auch einen Wechsel des Generaldirektors.

Ein weiterer Grund für den groß angelegten Protest ist laut Jurij Samojlow das Risiko, bestimmte Rentenleistungen zu verlieren. In den ukrainischen Rentengesetzen sind eine Reihe von Berufen festgelegt, die besonders gefährlich und schädlich für die Gesundheit sind. «Zuletzt wurde eine Überprüfung von Berufen durchgeführt, wodurch bekannt wurde, dass zahlreiche Arbeitnehmer wahrscheinlich keine Vergünstigungen erhalten werden. Ihre Berufe stehen nicht mehr auf den entsprechenden Listen. Davon betroffen sind etwa viertausend Menschen im Eisenerzkombinat.» betont der Gewerkschafter. 

Bisher darf, wer in solch einem Beruf tätig ist, zehn Jahre früher in Rente gehen, zudem gibt es einen Anspruch auf mehr Urlaubstage. Schwangere Frauen und Frauen in Elternzeit genießen zusätzliche Vergünstigungen. «Bergarbeiterinnen im Mutterschutz erhalten Sonderkonditionen, das betrifft die Zeit des Mutterschutzes sowie die Elternzeit. Ein Viertel der Belegschaft im Kombinat sind Frauen. Wir haben 75% Männer und 25% Frauen. Das heißt, der Anteil von Frauen ist bedeutend. Und das ist wichtig.» betont Samojlow.

Vor einigen Jahren wurde von der Werchowna Rada eine Rentenreform verabschiedet, die vor allem Frauen getroffen hat. Das Renteneintrittsalter für Frauen im Bergbau wurde um fünf Jahre erhöht, auf nun 50 Jahre. Anfang des Jahres erklärte das Verfassungsgericht der Ukraine diese Entscheidung des Parlaments für rechtswidrig. Weil es jedoch eine rechtliche Kollision gibt, wurden die Beschwerden der Bergarbeiterinnen vor Gericht und gegenüber dem Rentenfond abgelehnt.

Diese Entscheidung hat einen Teil der Beschäftigten zu direkten Protestaktionen bewogen. Am 15. September begann bei weiteren Unternehmen von ArcelorMittal ein Frauenstreik in Krywyi Rih. Krankenschwestern, die im Gesundheitsdienst des Stahlriesen arbeiten, fordern ebenso eine Lohnerhöhung.

Was riskieren Menschen, die unter Tage bleiben?

Nach Angaben von Samojlow, befanden sich (Stand 15. September) 200 Bergleute unter Tage in den Minen Rodina (80 Menschen), Oktjabrska (26 Menschen), Ternowska (54 Menschen) und Hwardijska (26 Menschen). Mehrere Menschen mussten den Streik bereits auf Grund von gesundheitlichen Problemen abbrechen.

Der Gewerkschafter sagt, das seien typische Folgen eines mehrtägigen Aufenthaltes unter Tage: «Die Nieren funktionieren nicht mehr, der Körper nimmt all diese toxischen Substanzen auf. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit, wegen der Tiefe.»

Doch ihren Eifer haben die Bergleute nicht verloren, sagt Tetjana Garkusha, eine Mitarbeiterin des Kombinats, die zu den Streikenden hinabgestiegen ist.

«Ihr Kampfgeist ist so stark, dass es für mehr als ein Land ausreichen würde. Ich kann für meine Mine, für meine 30 Leute, sprechen. Sie sind drauf, als ob der Zweite Weltkrieg vor der Tür stünde. Sie sind bereit alle zu besiegen. Die Bedingungen, nun ja, wir verstehen alle, was eine Mine ist. Und davon wird es einem schwer ums Herz, das tut weh. Die Menschen riskieren bewusst ihre Gesundheit, sie opfern das Wohl und die Ruhe ihrer Familien. Sie verstehen, was ihre Familien und Freunde jetzt durchmachen. Sie handeln sehr bewusst, um gehört zu werden», sagte sie während der Protestaktion vor dem Parlament in Kiew zur Unterstützung der Bergleute. 

Wer ist für das Schicksal der Bergarbeiter verantwortlich?

Alle vier Minen, in denen der Protest stattfindet, sind Teil des Eisenerzkombinats Krywyi Rih. Nach Angaben des Parlamentsabgeordneten Mychajlo Wolynetc, gehören 50% der Aktien des Unternehmens der Holding Metinvest von Rinat Achmetow, dem reichsten Oligarchen der Ukraine. Die anderen 50% gehören der Privat Gruppe von Igor Kolomojskij, einem weiteren mit dem Präsidenten Selenskyj verbundenen Oligarchen, die sich jedoch – nach Angaben der Geschäftsführung des Kombinats – im Besitz von vier anderen Unternehmen befinden.

Wolynetc behauptet jedoch, dass dies nichts Anderes sei, als ein Vertuschungsmanöver: «Kolomojskij möchte Sanktionen umgehen, mit denen er von europäischen Ländern belegt wurde und die intransparenten Aktivitäten der Unternehmen seiner Privat Gruppe untersuchen. Deshalb hat er seinen Anteil auf vier andere Firmen registrieren lassen.» Formal würden die Offshore-Firmen, die auf Zypern registriert sind, vom Geschäftsmann Alexander Jaroslawski kontrolliert. Allerdings sitzen in der Leitung des Kombinats Manager von Kolomojskij. Samojlow sagt, dass die Streikenden sehr gut über die wahren Eigentumsverhältnisse und Offshore-Firmen informiert seien.

«Deshalb haben sie sich auf den Weg zum Präsidenten gemacht. Sie werden ihn in Kiew aufsuchen. Und sie werden nicht gehen, bevor er reagiert, um einen Dialog mit Kolomojskij zu beginnen», sagte der Gewerkschafter. Die lokalen Behörden in Krywyi Rih unter der Leitung vom Bürgermeister Jurij Wilkul, unterstützen den Protest. 

«Bortsch wird gekocht, Medikamente werden gebracht. Die kommunalen Sender vor Ort beleuchten den Protest angemessen. Der Stadtrat hat für die Unterstützung der Bergarbeitenden gestimmt. Mit anderen Worten, die Stadt unterstützt die Protestierenden. Sie richteten einen Appell an den Präsidenten und haben ihre Position erklärt. Unter Berücksichtigung der Lokalwahlen, die bald stattfinden, ist das wichtig», sagt Samojlow. 

Ihm zufolge konnten die Bergarbeiter in Krywyj Rih schon einige Siege verbuchen. So gelang es den Beschäftigten 2017 nach groß angelegten Protesten, die die meisten Unternehmen der Stadt erfassten, eine Lohnerhöhung zu erreichen. Damals streikten fast zeitgleich unter Tage Bergarbeiter der Eisenerzkombinate von ArcelorMittal und Jewraz Sucha Balka. Dennoch sind die Bergarbeiter fast jedes Jahr aufs Neue gezwungen, ihre Errungenschaften zu verteidigen.

Es ist bezeichnend, dass das Management von Jewraz Sucha Balka bereits begonnen hat, die Löhne präventiv zu erhöhen, aus Angst vor Streiks. Zeitgleich veröffentlichte die Leitung des ArcelorMittal Kombinates am 16. September eine offizielle Presseerklärung, in der die Proteste der Bergarbeiter als «illegaler Streik» bezeichnet werden. Zudem weigert sich das Management, Zugeständnisse zu machen. Der Streik wird durch die Bestimmungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gestärkt, wonach es möglich ist, einen Streik nur dann einzuschränken, wenn er seinen friedlichen Charakter verliert. Darüber hinaus haben sich am 17. September die Eisenbahner im Krywbass dem Protest angeschlossen. Das Stoppen des Güterverkehrs kann ein zusätzliches Druckmittel für den Beginn eines Dialogs sein. 

Laut einer Studie, die von der GUE/NGL gefördert wurde, verliert der ukrainische Haushalt durch Offshore-Konstrukte der Eisenerzkombinate in Krywyi Rih jährlich etwa 540 Millionen Dollar Steuereinnahmen. Diese Mittel sind mit der internationalen Hilfe vergleichbar, die die Ukraine vom IWF und anderen Institutionen bekommt. Der Kampf gegen Steuerhinterziehung würde nicht nur angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen für Bergarbeiter mit sich bringen, sondern auch die Einnahmen im sozialen Bereich erhöhen. Ein Bereich der chronisch unterfinanziert ist und die Mehrheit der Bevölkerung der Ukraine betrifft.

Die Journalistin Aljona Tkalitsch, Redakteurin von «Socportal» und Aktivistin der NGO «Socialnyj ruch» berichtet aus der Ostukraine.

Aus dem Ukrainischen von Sofija Onufriv