Auch in vielen Städten in Brandenburg kam es ab dem 9. November 1938 in einer staatlich inszenierten Aktion zu einem damals noch nicht vorstellbarem Ausbruch an Gewalt gegen Jüdinnen und Juden und Menschen, die als solche durch die NS-Gesetzgebung bestimmt wurden. Fensterscheiben wurden zerschlagen, Geschäfte geplündert, Gebeträume und Synagogen angezündet, jüdische Friedhöfe geschändet und Wohnungen verwüstet. Vor allem aber wurden Menschen gedemütigt, misshandelt, in Konzentrationslager verschleppt, ermordet oder in den Tod getrieben.
An sie wird insbesondere heute am 9. November auch durch das Putzen von STOLPERSTEINEN gedacht - wie auf den Fotos zu sehen zum Beispiel in Senftenberg.
Die Pogrome zogen sich bis zum 13. November, so dass wir in dieser Woche ein paar mehr Infos an dieser Stelle veröffentlichen werden - erst recht, da die eigentlich geplanten Veranstaltungen Corona-bedingt leider nicht stattfinden können.
STOLPERSTEINE in Senftenberg
Die Idee, sogenannte STOLPERSTEINE zu verlegen, geht auf den Kölner Künstler und Bildhauer Gunter Demnig zurück. Er erinnert mit den kleinen Messingtafeln an diejenigen Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus religiösen, politischen, rassistischen oder anderen menschenfeindlichen Gründen verfolgt und getötet wurden - direkt an ihrem letzten selbst gewählten Wohnort.
Auf den Tafeln steht "Hier wohnte ... " und wenige Angaben zum Leben und zum Leidensweg. Die Daten sind so klein, dass man sich herunterbeugen muss, um sie lesen zu können, man verbeugt sich quasi vor den STOLPERSTEINEN. In dem manchmal sehr Unscheinbarem liegt jedoch eine große Wirkung: man stößt häufig eher zufällig auf die Orte, überall in unseren Städten, an denen Nachbarn, Kolleg*innen, Mitschüler*innen, Geschäftsleuten unfassbares Leid geschah - und all zu häufig ohne dass sich ihre Nachbarn schützend vor sie gestellt und sie unterstützt hätten.
Gunter Demnig sagt: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“
Zwischen 2007 und 2016 konnten in Senftenberg (und Hörlitz) insgesamt 21 STOLPERSTEINE verlegt werden. Drei mussten in diesem Zeitraum nachverlegt werden, da sie zerstört oder entwendet worden waren, so auch der STOLPERSTEIN für Dr. Rudolf Reyersbach.
Dr. Rudolf Reyersbach - ermordet am 10. November 1938 in Senftenberg
Als eines der vielen Todesopfer der Novemberpogrome 1938 starb Dr. Rudolf Reyersbach am Morgen des 10. November 1938 auf der Senftenberger Polizeiwache. 1897 geboren, kam der Rechtsanwalt und Notar des Berufes wegen 1925 in die südbrandenburgische Kleinstadt und eröffnete hier eine Kanzlei - in seinem Wohnhaus am Steindamm. Als mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufbeamtentums" allen Jurist*innen jüdischer Herkunft ab 1. April 1933 die Ausübung ihres Berufes verboten wurde, gelang es Reyersbach zunächst, sich dagegen zu wehren, war er doch als Soldat im I. Weltkrieg gewesen. NSDAP-Mitglieder aus Senftenberg denunzierten ihn als "national unzuverlässig" beim Justizministerium, da er der SPD nahe stand und linksorientierte Angeklagte in Prozessen gegen Nazis vertreten hatte. Erneut konnte Dr. Reyersbach seine Wiederzulassung erreichen, da eine ganze Reihe von bekannten Senftenberger Persönlichkeiten ihm in schriftlichen Erklärungen seine "Unbedenklichkeit" bescheinigten.
Jedoch nahmen die Angriffe gegen seine Kanzlei und gegen sein Wohnhaus zu: bereits im März 1933 wurden des Nachts Fensterscheiben eingeworfen. Besonders verheerend war jedoch das Novemberpogrom 1938 in Senftenberg. Am Morgen des 10. November 1938 wurden die als jüdisch markierten Bürger*innen der Stadt aus ihren Wohnungen gezerrt und auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Aus Augenzeugenberichten kann man die unvorstellbaren Gewaltexzesse und Demütigungen nur erahnen. Dr. Reyersbach wurde an diesem Tag auf dem Markt fast zu Tode gequält - in aller Öffentlichkeit. Kurz darauf verstarb er 41-jährig auf der Polizeiwache. Seine nicht-jüdische Ehefrau Martha und sein 1931 geborener Sohn Walter überlebten in Deutschland. Seine Mutter Valeska sowie die Schwestern Marianne und Henny wanderten zunächst nach Guatemala aus und lebten später in der Schweiz.
2007 konnten wir für Dr. Rudolf Reyersbach einen STOLPERSTEIN durch Gunter Demnig verlegen lassen - in Anwesenheit seines Sohnes Walter und seiner Familie. Am 30. Januar 2013 wurde dieser STOLPERSTEIN gewaltsam entwendet - die Täter*innen konnten nicht ermittelt werden. Am 9. November 2013 konnten wir den STOLPERSTEIN nachverlegen.
Auch Dora Singermann, Ernestine Grünzeug, Siegfried Marcus, sein Bruder Ludwig und dessen Frau Else wurden am Morgen des 10. November 1938 in aller Öffentlichkeit misshandelt und gequält - ebenso wie die 12-jährige Astid Zellner und ihre Eltern Leo Zellner und Herta Röstel. Leo Zellner wurde ins KZ Sachsenhausen verschleppt und seine Frau starb schließlich an den Spätfolgen der Misshandlungen, hatte sie sich während des Pogroms doch schützend vor ihren Mann geworden.
Mehr Informationen zu den genannten Personen gibt es hier...
Senftenberg hatte keine Synagoge, Menschen jüdischen Glaubens zählten sich zur Gemeinde in Cottbus. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde dort die Synagoge in der Karl-Liebknecht-Straße angezündet und durch den Brand vollständig zerstört.
Der rbb hat 2018 eine interaktive Karte zu Gebetshäusern und Synagogen in Berlin und Brandenburg veröffentlicht, die jeweils darüber informiert, was dem Gebäude in den Novemberpogromen widerfahren ist.
Aufgrund der Recherchen eines Studierenprojekts der Universität Potsdam sind in Brandenburg 16 Synagogen zerstört und zehn beschädigt worden, eine blieb unzerstört, von sechs weiteren sind keine Informationen überliefert. Die Ergebnisse dieser Forschungen sind auch im - aktuell leider nicht mehr im Handel verfügbaren - Buch "Synagogen in Brandenburg" veröffentlicht worden und auf der Projekt-Homepage zusammengestellt.
Unter Nachbarn - eine Theatertour entlang der STOLPERSTEINE
Eine Gruppe von Studierenden aus Potsdam hat gemeinsam mit Sharon Kotkovsky und Sabine Wiedemann einen theatralen Rundgang durch die Potsdamer Innenstadt entwickelt, der anhand der STOLPERSTEINE, des Denkmals für die Opfer des Faschismus und der beiden Standorten der Alten und der zukünftigen Synagoge von jüdischem Leben in Potsdam berichtet, von Ausgrenzung, Entrechtung, Verfolgung, Enteignung, Ermordung, Überleben, Weiterleben und die Frage stellt, wo die Zusammenhänge sind - gestern und heute.
Das Projekt konnte mit Hilfe der Cultus UG realisiert werden, unterstützt durch die Landeshauptstadt Potsdam und auch durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Mehr zum Projekt gibt es bei facebook. Das Video kann bei youtube angesehen werden oder hier direkt: