In Myanmar haben am 8. November die zweiten demokratischen Wahlen nach Überwindung der seit 1962 bestehenden Militärdiktatur stattgefunden. Obwohl das Militär immer noch erheblichen Einfluss im Land hat, haben die Wähler*innen ihrem Wunsch Ausdruck verliehen, das Militär weiter zurückzudrängen.
Die von Regierungschefin Aung San Suu Kyi angeführte National League for Democracy (NLD) konnte einen eindeutigen Sieg verzeichnen. Die Wahlbeteiligung war hoch, sowohl unter den Burmes*innen, die die Gebiete Zentralmyanmars dominieren, als auch in den Bundesstaaten Kachin, Kayar, Kayin, Chin, Mon, Rakhine und Shan an den Außengrenzen des Landes, die die sieben wichtigsten ethnischen Minderheiten repräsentieren.
Nwet Kay Khine ist Postdoc-Stipendiatin der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Internationalen Forschungsgruppe zu Autoritarismus und Gegenstrategien.
Die Burmes*innen stellen über 68 Prozent der 37 Millionen Wahlberechtigten. Die von ihnen dominierten Gebiete stimmten mit überwältigender Mehrheit für die NLD. Ihre Hauptrivalin, die Union Solidarity and Development Party (USDP), die aus dem zivilen Arm der Militärjunta hervorging, musste die schwerste Niederlage seit Beginn des politischen Übergangs im Jahr 2010 hinnehmen. Zum Auszählungsstand vom 11. November hatte die NLD 391 Sitze gewonnen und damit die für die Bildung einer neuen Regierung erforderliche Anzahl von 322 Sitzen bereits überschritten. Die USDP hatte im selben Zeitraum gerade einmal 22 Sitze gewonnen. Auch die Parteien der ethnischen Minderheiten der verschiedenen Bundesstaaten konnten ihre Präsenz verstärken, wobei der größte Anteil (13 Sitze) an die in den Shan-Wahlkreisen antretende Shan National League for Democracy ging.
Trotzdem wird die NLD nach diesem Wahlsieg mit einigen Herausforderungen konfronitert werden. Die Wahlen boten rechtspopulistischen Kräften vielfältige Gelegenheiten, unter dem Banner der USDP und ihrer verbündeten Parteien Hetzbotschaften zu verbreiten. Wie Wahlbeobachter*innen warnten, hat sich auf lokaler Ebene ein gut organisiertes ultranationalistisches Netzwerk zusammengeschlossen. Obgleich schwächer als unter der USDP-Regierung, verfügt dieses Netzwerk weiterhin über beträchtliche Stärke. Die wichtige Frage ist nun, ob die siegreiche NLD genug Mut und Stärke besitzt, um einer weiteren Ausbreitung des in Teilen der Gesellschaft tief verwurzelten Rassismus entschlossen entgegenzutreten.
Hetzbotschaften und neue Spannungen zwischen Regierung und Militär
Schon in den Tagen vor der Wahl hatten Myanmars Wähler*innen ein Wortgefecht zwischen Militär und Regierung mitverfolgt. In einem Interview mit dem Popular, einem privaten Medienunternehmen, stellte der Chef der Armee, Min Aung Hlaing, die Glaubwürdigkeit und Unparteilichkeit der nationalen Wahlkommission (UEC) in Frage. Während des Vorwahlprozesses sei es zu einer Vielzahl von Gesetzesverletzungen und Verfahrensfehlern gekommen. Ein Regierungssprecher wies diese Äußerungen als haltlose Anschuldigungen zurück und warnte, der Armeechef verstoße gegen die Verfassung von 2008, die besagt, dass sich «Staatsbeamte, einschließlich von Militär und Polizei, in parteipolitischen Dingen zurückzuhalten haben». Das Nachrichtenmagazin Irrawaddy sah in der offenen Kritik der Armee ein Anzeichen dafür, «dass die Militärs einem erneuten Wahlsieg der NLD nicht tatenlos zusehen werden».
Auch Graswurzelorganisationen zeigten sich besorgt über die Zeit nach dem Wahltag. Sie waren bereits während des Wahlkampfs Zeugen von Hasskampagnen geworden. Online und offline orchestriert, stehen die Angriffe aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem parlamentarischen Arm des Militärs, der USDP, sowie radikal-buddhistischen Netzwerken in direkter Verbindung. Schon bei den Wahlen von 2015 hatten USDP-Anhänger*innen mit Unterstützung extremistischer Mönche versucht, die Führung der NLD zu schwächen. Im September dieses Jahres kam es zu einer neuen Welle rechtsradikaler Aktivitäten gegen die NLD in einer ganzen Bandbreite von Formaten, von gedruckten Broschüren, Büchern, Flaggen und Videos bis hin zu Bildern und Social-Media-Beiträgen. Obwohl Facebook die meisten Hassbotschaften entfernt, erzielen die Rechtsradikalen eine große Reichweite – nicht zuletzt mithilfe des Einflusses buddhistischer Mönche. Besonders in einigen Bezirken im oberen Myanmar schlossen sich den USDP-Mitgliedern auch andere NLD-feindliche Kräfte an.
Die Angriffe zielen vor allem auf die vermeintlich pro-muslimischen Positionen der NLD ab. Tatsächlich zählte die NLD unter ihren 1.143 Kandidat*innen genau zwei Muslim*innen, die beide trotz des extremen Drucks rassistischer Gruppen ihre Wahlkreise gewannen. Einige Wähler*innen äußerten die Vermutung, die NLD habe dieses Jahr aufgrund des internationalen Drucks ihr Auftreten geändert. Während nationalistische Parteien gezielt die Angst vor einer muslimischen Vorherrschaft schürten, ging die Beteiligung muslimischer Kandidat*innen von über 50 im Jahr 2015 auf 30 im Jahr 2020 zurück. Insgesamt neun Parteien schickten Muslim*innen ins Rennen. Die muslimische Bevölkerungsgruppe der Rohingya verlor derweil schon 2016 das Wahlrecht, nachdem die Regierung ihnen ihre Personalausweise entzog. Nur 0,53 Prozent der 5.651 Kandidat*innen waren Muslim*innen, die nach der letzten Volkszählung 2,3 Prozent der Bevölkerung Myanmars ausmachen.
Um angesichts dieser Situation ihre Repräsentationschancen zu erhöhen, können Muslim*innen entweder versuchen, die Zahl muslimischer Abgeordneter im Parlament zu steigern, indem sie für muslimische Kandidat*innen stimmen, oder aber, indem sie Kandidat*innen ihre Stimme geben, die sich, ungeachtet der eigenen Herkunft, der Verteidigung der Menschenrechte marginalisierter Gruppen wie der Muslim*innen verschreiben. Im Wahlkampf gehören die muslimischen Parteien zu den schwächsten, da viele der Kandidat*innen nicht wissen, wie man soziale Medien wie Facebook richtig nutzt. Viele trauen sich auch nicht Botschaften offen zu verbreiten, aus Angst, selbst moderate Kampagnenbotschaften könnten sie, falsch interpretiert, zu einer Zielscheibe des Hasses machen.
Dass die Wahlen rechtsradikalen Netzwerken ein Revival verschafften, wurde auch deutlich, als sich der vorher ein Jahr flüchtige Anführer anti-muslimischer Gruppen U Wirathu Ende Oktober in Rangoon freiwillig der Polizei stellte. Der Nationalist war im Juni 2019 in Abwesenheit wegen Volksverhetzung verurteilt worden. Wenige Tage vor der Wahl kam er aus seinem Versteck und nutzte seine Gerichtsauftritte, um Lobbyarbeit für die USDP zu betreiben und die NLD anzugreifen. Schon die Botschaft, mit der er zurück an die Öffentlichkeit trat, machte klar, dass es dem buddhistischen Mönch um die Fortsetzung seiner bereits von früheren Auftritten bekannten fremdenfeindlichen Agenda geht: «Ich möchte meine Ordensbrüder im ganzen Land und ihre Gefolgschaft auffordern, für Parteien zu stimmen, die sich für den Schutz der Rasse und Religion unseres Landes einsetzen.»
Eine ähnliche Rhetorik war in den letzten Monaten immer wieder auch von führenden Vertreter*innen der USDP zu hören. So ist es ist ein offenes Geheimnis, dass die «Patriotische Vereinigung zum Schutz von Rasse und Religion» (auch als «Mabatha» bekannt) systematisch die muslimische Bevölkerung ins Visier nimmt, indem sie zum Boykott muslimischer Geschäfte aufruft und den Gedanken einer Koexistenz von Buddhist*innen und Muslim*innen ablehnt. Während der Armeechef die Integrität der Regierungspartei in Frage stellte, wies er jeglichen Verstoß der USDP gegen den Verhaltenskodex für die Wahlen zurück. Erst kürzlich hatte der Präsident der USDP, Than Htay, erklärt, seine Familienabstammung sei rassisch rein: «In meiner Familie gibt es keine langen Nasen oder blaue Augen oder lockiges Haar oder kohlefarbene Haut». Aung San Suu Kyis Ehe mit einem britischen Staatsbürger brandmarkte er als nationale Schande. Noch bedenklicher ist, dass Burma Monitor, ein Watchdog extremistischer und nationalistischer Bestrebungen, berichtet, dass über 213 extreme Nationalisten, die nachweislich an antimuslimischen Protesten und Kampagnen beteiligt waren, an der Wahl teilnahmen und Parteien in Allianz mit der USDP vertraten.
Armee und Regierungspartei: eine Hassliebe
Während es Zeiten gab, in denen sich NLD und die Armee gegenseitig unterstützten, hat der Wahlkampf die Beziehungen erneut vergiftet.
Das Militär brauchte 15 Jahre, um die aktuelle Verfassung auszuarbeiten, die ihm eine zentrale Rolle als Hüter der Nation zuweist. Militärdelegierte besetzen 166, das heißt 25 Prozent der Parlamentssitze, sie sind befugt, über die Bedingungen und das Tempo der von der Legislative eingeleiteten politischen Liberalisierung zu entscheiden. Da jede Verfassungsänderung die Zustimmung von mehr als 75 Prozent der Abgeordneten des Ober- und Unterhauses erfordert, kann das Militär effektiv jede von der NLD vorgeschlagene substanzielle Änderung blockieren. Darüber hinaus kontrolliert die Armee drei Ministerien: Verteidigung, Grenzangelegenheiten und innere Angelegenheiten. In der letzten Legislaturperiode der NLD wurden nur vier von 114 Änderungsanträgen vom Parlament angenommen, was erneut zeigt, dass die Regierungspartei nur geringfügige Änderungen vornehmen kann. Zu den wichtigsten Gesetzesvorschlägen, die von der Armee und der USDP abgelehnt wurden, zählten die Abschaffung des Artikels, der Bürger*innen mit ausländischen Familienangehörigen die Ausübung der Präsidentschaft verbietet, eine schrittweise Reduzierung der dem Militär zugeteilten Parlamentssitze von 25 auf 0 Prozent bis 2030 und die Senkung der 75-Prozent-Hürde für Verfassungsänderungen auf 66 Prozent. Seitdem hat sich die Kluft zwischen der Armee und der NLD-Regierung nur noch vergrößert.
Dennoch verteidigte Aung San Suu Kyi die Armee vor dem Internationalen Gerichtshof in einer von Gambia angestrengten Anklage wegen der Verfolgung der Rohingya-Minderheit. Die Regierung arbeitete auch mit der Armee zusammen, als diese im Namen der «nationalen Sicherheit» beschloss, zwischen Juni 2109 und August 2020 das Internet in der Hälfte des Staates Rakhine und einigen Teilen des Staates Chin abzuschalten. Schon bei ihrem Machtantritt hatte die NLD-Regierung Militärbeamte in Schlüsselpositionen berufen. Viele nahmen damals an, die NLD-Regierung tue dies um der nationalen Aussöhnung willen, nur wenige suchten eine tiefergehende Erklärung. Doch in den fünf Folgejahren trat die NLD-Regierung selbst immer wieder in die autoritären Fußstapfen der Armee, etwa indem sie wenig Toleranz gegenüber den Medien und der Zivilgesellschaft zeigte. Das Schweigen der NLD zu den Menschenrechtsverletzungen der Armee in den Gebieten ethnischer Minderheiten löste Enttäuschung bei den ‚ethnischen‘ Parteien und der Zivilgesellschaft aus.
Versöhnung und Inklusion sind der Schlüssel
Diese Vergangenheit suchte die NLD während des Wahlkampfes heim. Auch aus den Reihen ihrer Anhänger*innen hatte es hasserfüllte Angriffe gegen ethnische Minderheiten gegeben. Im Gegenzug zeigten sich auch die Anhänger*innen der Parteien der ethnischen Minderheiten der NLD gegenüber feindselig, insbesondere als die Wahlkommission die Wahlen in den Bundesstaaten Kachin, Rakhine und Shan unter Berufung auf die dort anhaltenden bewaffneten Konflikte annullierte. Diese Entscheidung nahm rund 1,4 Millionen Bürger*innen das Wahlrecht. Viele vermuteten, die Kommission wolle der NLD so helfen, sich die Kontrolle über diese Gebiete zu sichern.
In diesem Zusammenhang hörten die Parteien der ethnischen Minderheiten auf, der NLD in derselben Weise entgegenzukommen, wie sie es noch 2015 getan hatten und schreckten nicht länger davor zurück, selbst energische Kampagnen zu führen. Aung San Suu Kyi wiederum kritisierte diesen ethnozentrischen politischen Wahlkampf in den Staaten der ethnischen Minderheiten scharf. Sie rief zur nationalen Einheit auf und stilisierte eine Wahl der NLD als Signal gegen die Parteien der ethnischen Minderheiten. San Suu Kyis Plädoyer hatte ironischen Charakter, hatte sie sich doch als Anführerin der Regierungspartei in den fünf Jahren seit ihrem Wahlsieg herzlich wenig um die Einheit des Landes gekümmert. Mit dem Ziel, ihre Herrschaft zu festigen, berief sich die NLD auf ihr von der Verfassung verbrieftes Recht, die leitenden Minister*innen der Bundesstaats- und Regionalregierungen zu berufen. Dies bedeutete, dass die erste gewählte demokratische Regierung Myanmars es den Regionalparlamenten nicht erlaubte, ihre eigenen Premierminister*innen zu wählen. Nationalistische Kreise waren schockiert und auch unter den Parteien der ethnischen Minderheiten, die in vielen dieser Staaten Mehrheiten erzielt hatten, machten sich Ressentiments gegen die Regierung breit. Die Hoffnungen dieser Parteien auf einen Wahlsieg in diesem Jahr wurden nun jedoch durch den Erfolg der NLD in allen Provinzen mit nicht-burmesischen Mehrheiten zunichte gemacht. Es scheint, dass die jüngsten Wellen der landesinternen Massenmigration eine neue demographische Zusammensetzung geschaffen haben, die für die Parteien der Minderheiten eine enorme Herausforderung bei den Wahlen darstellt.
Obwohl die NLD in den «ethnischen» Staaten an Stimmen gewann, bleibt die Gesellschaft Myanmars extrem gespalten. Immer noch führt die Regierung einen langwierigen Bürgerkrieg mit bewaffneten Minderheitsgruppen. Die vergangenen vier Runden der von der NLD geführten Friedensgespräche erreichten keine Lösung, in vielen Gebieten haben sich die Konflikte eher noch verschärft. Signifikante Fortschritte können nur dann erzielt werden, wenn die Befürworter*innen einer echten föderalen Demokratie aus den Reihen der ethnischen Minderheiten in der kommenden Amtszeit angemessen gehört und anerkannt werden. Darüber hinaus muss Myanmar die strukturelle und kulturelle Gewalt gegen nicht-indigene Minderheiten, einschließlich der Menschen indischer und chinesischer Abstammung, angehen. Ohne ein faires und verpflichtendes Abkommen zur Machtteilung zwischen der Mehrheit und den Minderheiten wird der Traum von einer vereinten Zukunft kaum mehr als ein Traum bleiben. In den kommenden Wochen und Monaten muss die NLD ihren Wahlsieg nutzen, um die Spaltungen der Nation zu überbrücken, statt sie weiter zu vertiefen.