Wenn es um den Arabischen Frühling geht, fällt nur selten der Name Saudi-Arabien. Doch vieles am modernen saudischen Selbstverständnis lässt sich auch mit den Entwicklungen seit 2011 erklären.
«Heute? Heute herrscht in Saudi-Arabien ein dunkler, dunkler Winter.» Man erreicht Madawi al-Rasheed an einem Novembermorgen in London, wo die Sozialanthropologin an der renommierten London School of Economics als Gastprofessorin arbeitet. Die 1962 geborene saudische Staatsbürgerin ist eine weithin geschätzte Wissenschaftlerin, zugleich aber auch Aktivistin und oppositionelle Politikerin. Im Exil, versteht sich: In Saudi-Arabien selbst sind Parteien verboten. Fragt man al-Rasheed also am Telefon, was aus dem Arabischen Frühling von 2011 geworden ist, kann sie gar nicht anders, als vom dunklen Winter erzählen, der sich seitdem über ihr Land gelegt habe.
Christopher Resch arbeitet als freier Journalist vor allem zu Themen aus Westasien und Nordafrika und ist Herausgeber des Bandes «Medienfreiheit in Ägypten» (2015). Zuvor war er für das Goethe-Institut in Ägypten und Saudi-Arabien tätig.
Wenn es um den Arabischen Frühling geht, fällt nur selten der Name des Königreichs auf der Halbinsel. Doch vieles am modernen saudischen Selbstverständnis lässt sich auch mit den Entwicklungen seit 2011 erklären. Der berühmte Arabische Frühling begann eigentlich schon im Dezember, und er wurde ausgelöst von der Verzweiflungstat des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, der sich am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid verbrannte. Zuerst standen die Massen in Tunesien auf, dann erhoben sie sich in Ägypten – und schließlich folgten Millionen Menschen in einer ganzen Reihe von arabischen Staaten und protestierten gegen ihre autoritären Regierungen.
Auch in Saudi-Arabien. Es gab wenige Dinge, die das saudische Herrscherhaus mehr fürchtete als eine solche Aufstandsbewegung. Zwar hatte es in den Jahren und Jahrzehnten zuvor durchaus Proteste im Königreich gegeben, die stärksten und kritischsten Strömungen waren religiös unterfüttert. Doch auf den Fernsehbildern der Aufstände in Tunesien, Ägypten, Libyen oder dem südlichen Nachbarland Jemen, die in die Paläste des damaligen Königs Abdullah flimmerten, zeigte sich eine andere Qualität: Hier demonstrierten Frauen und Männer, Junge und Alte, Atheisten und Religiöse über alle Konfessionen hinweg gemeinsam für ein Ziel – dass die Herrschenden endlich Platz machen mögen für eine bessere Zukunft. Das musste verhindert werden. Und aus heutiger Sicht hatten König Abdullah, sein Nachfolger auf dem Königsthron, Salman, und dessen Sohn, der Kronprinz und de-facto-Herrscher Muhammad bin Salman, damit Erfolg. So sehen sie es selbst.
2011: Proteste gegen Korruption und Repression
Schon am 21. Januar 2011, wenige Tage nach der Flucht des tunesischen Präsidenten Ben Ali – übrigens nach Djidda – und noch vor der Abdankung des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak, hatte sich im äußersten Südwesten Saudi-Arabiens ein Mann selbst angezündet. Eine Verzweiflungstat, ähnlich der von Mohamed Bouazizi in Tunesien, gemeint als Protest und Fanal. Kurz darauf versammelten sich einige hundert Menschen in Djidda. Auslöser war eine Überflutung, bei der zehn Menschen starben. Djidda hatte immer wieder unter solchen Überflutungen zu leiden, gegen die, so sahen es die Protestierenden, die Regierung sträflich wenig unternommen hatte. Auch von Korruption war die Rede. Wie in anderen Ländern versuchten zumeist junge Aktivist*innen, die lokalen Protestbewegungen über soziale Netzwerke ins Rollen zu bringen, besonders über Facebook. In Saudi-Arabien war die Nutzungsrate der sozialen Medien im regionalen Vergleich lange Zeit mit die höchste.
«Es gab Proteste vor allem in zwei Gegenden, die völlig verschieden voneinander sind. Einmal in den schiitischen Regionen, wo die Ursprünge solchen Protests bis zu den 50er- und 60er-Jahren zurückreichen. Und zum zweiten in Qassim, einer sunnitischen Gegend, wo vor allem faire Gerichtsprozesse und die Freilassung politischer Gefangener gefordert wurden», sagt Madawi al-Rasheed. Auch in Saudi-Arabien hatte es Aufrufe zu einem «Tag des Zorns» gegeben. Am 11. März 2011 sollten die Menschen in Riad auf die Straße gehen, schrieben Aktivist*innen in einer Facebook-Gruppe mit dem Namen «Das Volk will den Sturz des Regimes» – ein während des Arabischen Frühlings in vielen Ländern verbreiteter Slogan. Der Staat hatte jedoch von Anfang an klargemacht, dass er keine Demonstrationen dulde, und so fand sich nur ein einziger Demonstrant in Riad ein. Er wurde prompt verhaftet.
Nur in der Ostprovinz ging eine nennenswerte Zahl von Protestierenden auf die Straße. Der Osten Saudi-Arabiens ist traditionell stark schiitisch geprägt. Weil dort jedoch auch die größten Ölfelder und weiterverarbeitenden Anlagen der Ölindustrie liegen, gilt die Region als strategisch äußerst bedeutsam. «Die schiitische Minderheit in Saudi-Arabien leidet seit jeher unter politischer, wirtschaftlicher und kultureller Diskriminierung und hat die saudi-arabische Herrschaft lange abgelehnt», sagt Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die saudischen Herrscher fürchten, die Schiiten des Landes könnten sich zu einer Art fünfter Kolonne des Iran entwickeln – jedoch gibt es laut Steinberg «unter den saudi-arabischen Schiiten keine nennenswerte proiranische militante Gruppierung mehr».
Harte Antwort auf schiitische Unruhen
Was den Schiiten im Königreich jedoch blühte, sollten sie sich zu größeren Aufständen entschließen, zeigt das Beispiel Bahrains. Im kleinen Nachbarland Saudi-Arabiens regiert ein sunnitisches Königshaus eine schiitische Mehrheit. Hier begannen die Proteste Mitte Februar 2011, als schiitische Protestierende auf dem zentral gelegenen Perlenplatz in der Hauptstadt Manama ein Zeltlager errichteten, nach dem Vorbild des Kairoer Tahrir-Platzes. Einen Monat später entsandte Saudi-Arabien 1200 Soldaten ins Land. Riad sieht sich seit langem als eine Art Schutzpatron für Bahrain. Bis Ende März wurden unter tatkräftiger saudischer Hilfe alle Proteste gewaltsam niedergeschlagen. Warum gingen die Saudis hier so resolut vor? Zum einen ging es ja nicht gegen die eigene Bevölkerung, zum anderen gilt Bahrain einigen im Land ohnehin als eine Art saudisches Anhängsel ohne souveräne Rechte. Vor allem aber war der saudischen Regierung ein Dorn im Auge, dass die Protestierenden Schiiten waren, sagt Guido Steinberg: «Saudi-Arabien deutet die Ereignisse in der Region in erster Linie vor dem Hintergrund seines Konflikts mit Iran und geht schon seit 2005 aggressiver als vorher gegen tatsächliche und perzipierte iranische Geländegewinne vor.»
Schon länger als Unruheherd bekannt war Awamiya, eine Kleinstadt in Sharqiyya, der Ostprovinz Saudi-Arabiens. Im Oktober 2011 kam es hier zu einem Zusammenstoß zwischen schiitischen Jugendlichen und der Polizei – angeblich wurden elf Polizisten durch Schüsse und Molotov-Cocktails verletzt. Die Proteste eskalierten in den Monaten danach so weit, dass insgesamt zwölf junge Saudis starben. Die Begräbnisse entwickelten sich zu den größten Kundgebungen seit Jahrzehnten. Auch in der Folge brachen in der Ostprovinz immer wieder Protestfeuer auf, etwa im Juli 2012 nach der Verhaftung des Religionsgelehrten Nimr Baqir al-Nimr. Al-Nimr hatte schon in den 2000er-Jahren mehrfach im Gefängnis gesessen, weil er sich deutlich gegen die staatliche Diskriminierung der Schiiten äußerte. Al-Nimr «avancierte spätestens seit Februar 2011 zu einer wichtigen Symbolfigur der schiitischen Opposition», urteilt Guido Steinberg. Anfang 2016 wurde er hingerichtet, unter anderem wegen Anstiftung zum Aufruhr. Ein Jahr später belagerten saudische Truppen seine Heimatstadt Awamiya und zerstörten sie teilweise – der Funken des Aufruhrs sollte offensichtlich endgültig ausgetreten werden.
Nach dem Frühling steigt die Repression
Auf die zahlenmäßig kleinen, aber für Saudi-Arabien durchaus bemerkenswerten Proteste, Kundgebungen und Demonstrationen reagierte der Staat mit autoritärer Repression. In den vergangenen 50 Jahren hatte es mehrere Phasen öffentlichen Unmuts gegeben, jeweils getragen durch charismatische Personen oder mehr oder weniger stark vernetzte Gruppen. «Der bedeutsamste Protest», schreibt Stéphane Lacroix von der Pariser Sciences Po-Universität in seinem Beitrag «Is Saudi Arabia Immune?» vom Herbst 2011, «entsprang in den 1990ern und wurde von der Sahwa-Bewegung angeführt.» Sahwa bedeutet so viel wie «islamisches Erwachen», gemeint ist eine einflussreiche Bewegung saudischer religiöser Gelehrter und Intellektueller. «Die Sahwa verbindet die politische Ideologie der Muslimbrüder mit den religiösen Ideen der lokalen Wahabiyya», sagt Lacroix. Als einer der bekanntesten Protagonisten der Sahwa gilt Salman al-Auda.
Längere Zeit war die Regierung auf solche islamistischen Bestrebungen jedoch eher zugegangen, hatte versucht, sie in den Staat zu integrieren, als sie sofort mit harter Hand anzupacken. Salman al-Auda etwa saß ab Mitte der 1990er-Jahre im Gefängnis, konnte allerdings anschließend – mit etwas gemäßigteren Ansichten – zu einer Art TV-Star mit eigenen Fernsehsendungen werden. Mit dem Arabischen Frühling ab 2011 änderte sich diese phasenweise lockere Haltung. Es war wohl auch der Blick ins arabische Ausland, der dem saudischen Herrscherhaus die Augen geöffnet hat. Schon im Herbst 2011 waren in Tunesien gemäßigte Islamist*innen an die Macht gekommen, und als im Jahr darauf in Ägypten ein Muslimbruder sogar zum Staatspräsident gewählt wurde, war der saudischen Elite klar: Den «Brüdern» muss Einhalt geboten werden. Zu groß war die Sorge vor einer anwachsenden sunnitisch-muslimischen Mobilisierung. Deshalb bekam auch Salman al-Auda als Vertreter der Sahwa wieder Probleme, seit 2017 sitzt er im Gefängnis.
Neben schiitischen und sunnitischen Strömungen gingen im Zuge des Arabischen Frühlings auch liberale Stimmen an die Öffentlichkeit. Prominente Beispiele sind die beiden Reformer Muhammad al-Qahtani und Abdullah al-Hamid, die 2009 zu den Gründern der «Vereinigung für zivile und politische Rechte in Saudi-Arabien» gehört hatten. Als Teil der staatlichen Repressionskampagne gegen jegliche kritische Stimmen wurden sie 2013 zu langen Haftstrafen verurteilt. Al-Hamid starb im April 2020 während der Haft. Ähnliches Aufsehen erregte der Fall von Muhammad Said Tayyib, einem ebenfalls bekannten liberalen Reformer. Im Dezember 2011 hatte er, gemeinsam mit weiteren liberalen und schiitischen Reformern, eine Petition gegen die Verhaftung von Intellektuellen und das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Proteste der Schiiten vorgelegt. Solche Petitionen waren lange Zeit die sichtbarsten Äußerungen oppositioneller Ansichten gewesen. Kurz darauf zwang ihn Regierung Said Tayyib zu einer öffentlichen Entschuldigung und zur Rücknahme seiner Unterschrift. Sie wollte vor allem die Verbindung der liberalen sunnitischen mit der schiitischen Opposition verhindern. «Es musste der Führung in Riad als unerträgliche Provokation erscheinen, dass die Petenten ihr offen vorgeworfen hatten, die konfessionelle Spaltung zu schüren», so Guido Steinberg.
Strategie: Ruhigstellen der Massen
Innenpolitisch setzte die saudische Regierung also vor allem auf Repression – und auf Geldgeschenke. Die konnte sie sich leisten, denn nach dem kurzfristigen Einbruch durch die Finanzmarktkrise 2009 war der Ölpreis schnell wieder von Rekord zu Rekord geklettert. Schon im Februar und März 2011 versprach der damalige König Abdullah der Bevölkerung direkte und indirekte Geldzahlungen. Die Rede war von über 130 Milliarden US-Dollar, um etwa die verbreitete Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot zu bekämpfen. Das groß aufgelegte Paket beinhaltete Extrazahlungen und die Einführung eines Mindestlohns für Regierungsangestellte, 60.000 neue Jobs im Innenministerium, Angebote für Arbeitslose und finanzielle Hilfen für Wohnungssuchende, schreibt Stéphane Lacroix. Ein nicht unerheblicher Teil des Geldes floss zudem an religiöse Institutionen, etwa die Religionspolizei, die damals noch deutlich mehr Rechte besaß als heute. Ein neues Pressegesetz verbot explizit jegliche Kritik an den religiösen Autoritäten. Diese «weichen» Antworten auf die ins Land geschwappten Aufstände dienten also vor allem einem Zweck: die vom Staat als risikobehaftet identifizierten und deshalb einzugehenden Gruppen – Junge, Arme, Religiöse – ruhigzustellen.
Aus staatlicher Perspektive war die Doppelstrategie aus Repression und Zuwendung ein Erfolg. Größere Protestwellen blieben aus, die Unruhen in der Ostprovinz und in Bahrain wurden niedergeschlagen. Nach dem Tod von König Abdullah im Januar 2015, der Übernahme von König Salman und dessen Sohn, Kronprinz Muhammad bin Salman (MBS), veränderte sich die Strategie. Üppige Geldgeschenke sind seitdem nicht mehr möglich, dafür ist der Druck auf die Staatskasse seit dem Ölpreisverfall von 2014 zu groß. Umso stärker zog MBS ab 2017 die Daumenschrauben an: Wenn in den Jahren nach dem Arabischen Frühling vor allem auf Twitter noch eine rege Debatte möglich war, bekamen sämtliche kritischen Stimmen nun Probleme. Und zwar große.
«Es ist ganz schwer zu beantworten, ob es im Land selbst überhaupt noch eine Opposition gibt. Man sieht nichts und hört sehr wenig», sagt Sebastian Sons, der als politischer Analyst zur Golfregion arbeitet. «Selbst religiöse Geistliche werden mittlerweile schon in Hausarrest genommen, wenn sie sich gar nicht äußern.» Dass Menschen ein Problem bekommen, wenn sie neutral bleiben, wenn sie also nicht in staatliche Jubelarien einstimmen, ist ein neues Phänomen. «Die roten Linien haben sich extrem verschoben», sagt Sons. «Mir haben Leute gesagt, dass sie Angst haben, von ihren eigenen Mitbürgern verraten zu werden. Das ist schon eine bedenkliche Entwicklung.»
Sorge vor Dominoeffekten
MBS hat aus den Erfahrungen seit 2011, als die Bevölkerungen der arabischen Welt ihre Langzeitherrscher stürzten, seine Schlüsse gezogen. Ihn treibt vor allem die Sorge vor Dominoeffekten um, die sich auf die Stabilität der saudischen Herrscherfamilie auswirken könnten. Solche Sorgen existierten schon vor 2011, verstärkten sich aber in der Folge massiv. Der Kronprinz geht damit jedoch anders um als seine Vorgänger an der Macht: Er möchte sich von diesen klar abgrenzen und sich als jemand inszenieren, der konsequent im Sinne der Nation handelt, Stärke zeigt, zu neuen Ufern aufbricht. Dafür musste er mit dem Establishment brechen – den einflussreichen Händlerfamilien, den Religionsgelehrten und sogar mit Mitgliedern des Königshauses.
Nichts belegt das so eindrucksvoll wie die Ritz-Episode: Im November 2017 ließ MBS fast 400 Personen aus den höchsten Zirkeln von Macht und Geld im luxuriösen Ritz-Carlton-Hotel in Riad zusammentreiben. Jüngste Zeugenaussagen sprechen von Folter und Erpressungsversuchen gegenüber den Prinzen, Ministern und Industriellen. Dass es in der Öffentlichkeit stehende Intellektuelle genauso treffen konnte wie Angehörige von Minderheiten, war allen klar. Dass MBS aber nicht einmal das Kräftemessen mit den eigenen Leuten scheute, war eine neue Qualität – und genau das sollte es auch zeigen: Der Kronprinz schreckt vor nichts zurück, um sein Land voranzutreiben. Denn offiziell lautete die Erzählung, man habe durch die Inhaftierung im goldenen Käfig des Ritz die Korruption bekämpft. Allein durch die «Überprüfung» der knapp 400 Menschen seien dem Staat 107 Milliarden US-Dollar zurückgeführt worden.
Wenn die Regierung die Muskeln spielen lässt, müssen die Bürger*innen klein beigeben. Das ist in Saudi-Arabien heute viel dramatischer der Fall als noch vor wenigen Jahren. Allerdings gehört auch zur Wahrheit: Viele, vor allem junge, Saudis tragen den Kurs des Kronprinzen mit. «Er hat sich durch den Bruch mit dem Establishment natürlich Feinde gemacht, aber gerade in der jüngeren Generation auch sehr viele Freunde», erklärt Sebastian Sons. «In der Anfangsphase von MBS waren alle unglaublich euphorisch und optimistisch, auch weil er sich als Fürsprecher der Jugend inszenierte. Er hat sich strategisch sehr klug in der Gesellschaft positioniert, 70 Prozent sind unter 30. Und auch er selbst ist Teil dieser Generation.» Zudem habe ihn der Trump’sche Politikstil beeinflusst, sind sich viele Expert*innen einig. Sons nennt es die «saudische Art des Populismus: Ein Land wie ein Start-up zu führen, schnelle Entscheidungen zu treffen und sich dadurch Respekt zu verschaffen».
Entsetzen wegen des Khashoggi-Mordes
Doch MBS hat auch eine Reihe strategischer Fehler begangen – etwa den sündhaft teuren Jemen-Krieg, in dem sich eine der bittersten humanitären Krisen der Welt abspielt. Zum anderen hat selbst unter der jüngeren Bevölkerung der Mord an Jamal Khashoggi im Oktober 2018 großes Entsetzen hervorgerufen. Warum sie trotzdem an ihm festhalten? «Sie haben keine andere Option», sagt Sons. «Sie rechnen ihm hoch an, dass er sich für sie einsetzt», nachdem jahrzehntelang nur die Älteren die Geschicke des Landes lenkten. «Im Ton ist MBS teilweise sehr selbstkritisch, er spricht die Sorgen der jungen Menschen durchaus an.» Hinzu komme eine Art Wagenburg-Mentalität, «wir gegen äußere Feinde» wie Iran oder auch den Westen, der Saudi-Arabien nur und ausschließlich als das große Böse sehe. Wenn es MBS allerdings nicht schafft, den versprochenen wirtschaftlichen Aufschwung endlich anzustoßen, werde auch die Geduld der jungen Frauen und Männer endlich sein, glaubt Sons.
Das sagt auch Faris, ein saudischer Journalist, der seit kurzem in Europa wohnt. Sein Name und sein Wohnort sollen geheim bleiben. «In ein paar Jahren haben sich alle an die neuen gesellschaftlichen Freiheiten gewöhnt. Wenn dann aber die Menschen nicht genug verdienen, um diese Freiheiten genießen zu können, rücken politische Themen wieder in den Vordergrund.»
Natürlich weiß das auch der Kronprinz. «Er ist ehrgeizig, das schon, aber er ist auch paranoid», sagt Madawi al-Rasheed. «Nicht so sehr, weil er die Revolution fürchtet, sondern weil er sich um seine eigene Sicherheit sorgt.» Al-Rasheed hat im Spätsommer 2020 die oppositionelle Partei NAAS gegründet – im Exil, versteht sich. Die Abkürzung steht für «Partei der Nationalversammlung», Naas liest sich im Arabischen aber auch wie «Leute, Menschen». Großen Schwung hat die Partei noch nicht aufgenommen, im Ausland nicht und von Saudi-Arabien selbst ganz zu schweigen. Aber es geht Madawi al-Rasheed auch um eher langsame Schritte: «Es gibt in dieser Hinsicht einfach ein Vakuum. Wir hoffen, dass wir nach und nach die Sprache verändern können, in der die Opposition spricht.»
Faris hat gemischte Gefühle, wenn er, selbst im Exil, auf solche Bestrebungen blickt. Weil sie im Land selbst nicht sichtbar seien, sei ihr Einfluss auf die saudische Regierung gering. Aber: «Sie können immerhin die Regierungen anderer Länder zu bringen, Druck auf Saudi-Arabien auszuüben.» Der virtuelle G20-Gipfel im November 2020 habe allerdings gezeigt, dass viele Regierungschef*innen nur sehr leise Kritik äußern – wenn überhaupt.
Die größte Kraft für Veränderungen haben die saudischen Bürger*innen selbst, sagt Faris. Zum Beispiel mit einer Art Abstimmung der Füße. UN-Daten der vergangenen Jahre zeigen, dass die Zahl der Menschen, die das Land verlassen, stetig ansteigt. «Das bereitet dem saudischen Königshaus große Sorge.» Ob mehr Kinos, mehr Festivals und oberflächlich gewährte Rechte für Frauen diesen Trend aufhalten können, ist fraglich. Es braucht jedenfalls mehr als die vielen gut bezahlten PR-Firmen, die das Image des Landes aufpolieren wollen.
«Welche Jahreszeit ist es nun in Saudi-Arabien?», fragt Faris. «Schwer zu sagen, es ist eine Mischung. Ein kultureller Frühling, und ein sehr kalter politischer Winter.»