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Joe Biden und die Demokraten stehen vor einer schwierigen Aufgabe: Heilung gibt es nur mit Gerechtigkeit

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Washington D.C., 6. Januar 2021: Gerangel mit der Polizei, nachdem Trump's Unterstützer in das Kapitol eingedrungen sind.
«Immer noch 45 Prozent der republikanischen Wähler*innen halten den Angriff auf das Kapitol für gerechtfertigt.» Washington D.C., 6. Januar 2021: Gerangel mit der Polizei, nachdem die Unterstützer des Wahlverlierers in das Kapitol eingedrungen sind, picture alliance / AA | Mostafa Bassim

Als am 6. Januar gegen 14 Uhr die ersten Sicherheitsabsperrungen am US-Kapitol von Anhänger*innen des gegenwärtigen Präsidenten durchbrochen wurden, war es das erste Mal seit der Brandschatzung Washingtons durch britische Truppen 1814, dass sich Menschen gewaltsam Zugang zum Sitz des Kongresses der Vereinigten Staaten von Amerika verschafften. Die Eindringlinge hatten das Gebäude noch nicht verlassen, als in den Medien bereits von einem Aufstand, einem Staatsstreich, einem Putsch die Rede war.

Andreas Günther leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York.

Nun lassen die Vorgänge des Drei-Königs-Tages zwei Elemente vermissen, die gewöhnlich die Verwendung des Begriffs «Putsch» rechtfertigen: die Beteiligung des Militärs oder organisierter paramilitärischer Kräfte und ein erkennbarer Plan zur Ersetzung einer Regierung durch eine andere. Sicher hatte die Anstiftung des gegenwärtigen Präsidenten zum Marsch auf das Kapitol mit ihrer kaum verhohlenen Aufforderung zu Gewalt («Ihr werdet unser Land niemals mit Schwäche zurückgewinnen. Ihr müsst Stärke zeigen, und ihr müsst stark sein.» [sic]) Züge eines Staatsstreiches von oben mit dem Ziel, einen verfassungsmäßigen Machtwechsel zu verhindern. Und ganz sicher wird die Frage, wie es zu einem so schweren Versagen der Sicherheitsvorkehrungen und der faktischen Kapitulation weiter Teile der Polizei des Kapitols kommen konnte, genau zu untersuchen sein. Ebenso muss geklärt werden, warum erst nach Stunden wirksame Verstärkung eintraf, mit deren Hilfe nach sechs Stunden (!) die Sicherheit in den Gebäuden des Parlaments wiederhergestellt werden konnte. Nicht nur der künftige Präsident Joe Biden merkte die Diskrepanz zwischen der Sicherung des Kapitols während der Black-Lives-Matter-Proteste im letzten Sommer und am 6. Januar an, als sich beide Kammern zu einem der zentralen Akte der Verfassungsordnung versammelten und die Gewaltaufrufe im Netz nicht zu überhören waren.

Vor dem Hintergrund der Geschehnisse allerdings verblasst die Frage, ob es sich um einen «richtigen» Putschversuch gehandelt hat, beinahe zur Nebensache. Fakt ist: Ein amtierender Präsident hat über Monate das Vertrauen in die demokratischen Verfahren untergraben und sich geweigert, ein anderes Ergebnis als seinen Sieg anzuerkennen, obwohl er und seine Unterstützer*innen keine Belege für Fälschung oder auch nur schwerwiegende Unregelmäßigkeiten beibringen zu konnten. Er hat gewählte Verantwortliche unter Druck gesetzt, das Wahlergebnis zu seinen Gunsten zu verändern oder zu umgehen, und hat sie aufs Übelste diffamiert, wenn sie ihm nicht folgten. Fakt ist auch: Dieser Mann hat die Stimmen von gut 74 Millionen oder 46,8 Prozent der teilnehmenden Wahlberechtigten bekommen. Fast drei Viertel von ihnen waren noch Ende November der Meinung, er habe die Wahl gewonnen. Tausende kamen an jenem Mittwoch nach Washington, um ihn in seinem Kampf gegen das Wahlergebnis zu unterstützen. Hunderte drangen schließlich in das Kapitol ein. Darunter waren bekannte Rechtsextremisten, Gruppen wie die Proud Boys, Oath Keepers und QAnon-Anhänger. Für die Legende, linke Aktivist*innen hätten die Übergriffe angezettelt, gibt es keine Beweise.

Und immer noch 45 Prozent der republikanischen Wähler*innen halten den Angriff auf das Kapitol für gerechtfertigt. Allerdings haben auch 43 Prozent von ihnen einen gegenteiligen Standpunkt, ebenso wie 71 Prozent aller registrierten Wahlberechtigten. Diese Risse in der Republikanischen Partei zeichnen sich auch in den Absetzbewegungen des politischen Personals ab. In etwa zu der Zeit, als die ersten Absperrungen durchbrochen wurden, beschwor Noch-Mehrheitsführer Mitch McConnell im Senat seine republikanischen Kolleg*innen, die Demokratie nicht in eine «Todesspirale» aus Misstrauen und Verfahrenstricks zu ziehen. Diese dramatische Rede markierte den endgültigen Bruch mit dem Amtsinhaber und seinen Paladinen, und sie wäre wohl die Meldung des Tages gewesen, wäre sie nicht von den kommenden Ereignissen überschattet worden. Als der Senat um 20 Uhr wieder zusammentrat, gab es zahlreiche Bekundungen des Abscheus und der Distanzierung, und einige auf republikanischer Seite benannten sogar die Schuld des Präsidenten. Es folgten zahlreiche Rücktritte im Weißen Haus, am prominentesten: die Bildungs- und die Verkehrsministerin, sowie der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater.

Der Bruch kam spät und nach Jahren der Nibelungentreue. Einige aber, wie die Senatoren Ted Cruz und Josh Hawley und mehr als hundert Abgeordnete des Repräsentantenhauses, halten dem Amtsinhaber noch immer die Treue. Hier zeichnet sich, wie Mike Davis konstatiert, eine Spaltung der Republikanischen Partei ab:  

Die eine Seite favorisiert die von Reagan begründete «klassische» republikanische Politik von Steuersenkungen und Deregulierung von Arbeits- und Umweltstandards. Die gab es auch unter dem Präsidenten der letzten vier Jahre, aber ergänzt um rechten Populismus und Protektionismus. Darauf würde man gerne verzichten, während sich beide Seiten in ihrem strukturellen Rassismus nicht viel nehmen. Unterstützt wird dieser Teil von den traditionellen republikanischen Geldgebern, wie dem Industrieverband NAM. Letzterer rief am Donnerstag zur Amtsenthebung des Präsidenten nach den 25. Verfassungszusatz auf.

Die andere Seite sind die unbeirrten Unterstützer*innen des Noch-Präsidenten, vor allem, wie oben gesagt, im Repräsentantenhaus. Sie können sich auf die von ihm radikalisierte Basis stützen, die ihm in weiten Teilen nach wie vor die Treue hält. Mit ihnen wird die rechtspopulistisch/rechtextreme Strömung in der Partei fortleben, ob mit oder ohne ihn als Gallionsfigur.

Vor diesem Hintergrund sind die Debatten um eine vorzeitige Amtsenthebung des Präsidenten zu sehen. Dafür gibt es die Möglichkeit des 25. Verfassungszusatzes, nach dem der Vizepräsident und die Mehrheit des Kabinetts der Führung des Senats mitteilen, dass der Präsident nicht in der Lage ist, seine Amtspflichten zu erfüllen. Dann erhielte der Vizepräsident augenblicklich alle Amtsvollmachten des Präsidenten. Dieses Verfahren birgt aber eine Reihe von Risiken: Es ist noch nie gegen den Willen des Amtsinhabers angewandt worden. Zudem sind gegenwärtig vier Kabinettsposten kommissarisch besetzt. Es ist unklar, ob sie mitstimmen dürften (wahrscheinlich nicht) und ob sie zur Ermittlung der Mehrheit mitgezählt werden (unsicher). Außerdem kann der Präsident dem Schreiben widersprechen und erhielte bis zu einem erneuten Schreiben von Vizepräsident und Kabinett seine Vollmachten zurück. Es könnte also zu einem mehrfachen kurzfristigen Wechsel zum Beispiel im Oberbefehl der Streitkräfte kommen. Vizepräsident Pence hat dieses Verfahren nicht ausdrücklich ausgeschlossen, aber es ist kaum zu erwarten, dass er es in Gang setzt.

Um keine weitere Zeit zu verlieren, hat die Demokratische Partei um Haussprecherin Nancy Pelosi darum heute, am 11. Januar, ein erneutes Amtsenthebungsverfahren eingeleitet, unter anderem wegen «Aufstachelung zum Aufruhr». Es ist allerdings höchst unwahrscheinlich, dass das Verfahren bis zur Amtseinführung Joe Bidens abgeschlossen wird. Auch wenn das Repräsentantenhaus die Anklage im Eiltempo beschließt – der Senat ist in der Sitzungspause und müsste erst zusammentreten. Außerdem ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, was trotz der neuen demokratischen Mehrheit und bisher zwei republikanischen Abweichler*innen unwahrscheinlich erscheint. Trotzdem scheint es den Demokrat*innen wichtig zu zeigen, dass das Verhalten des Amtsinhabers nicht unsanktioniert bleibt. Denkbar ist auch, das Verfahren trotz seines Ausscheidens aus dem Amt zu Ende zu führen und ihm das Ausüben von Staatsämtern in Zukunft zu untersagen – wichtig in Hinblick auf eine viel diskutierte erneute Kandidatur 2024.

Wichtiger als das Schicksal des Amtsinhabers ist aber die weitere Entwicklung an der MAGA*-Front, deren Spitze am Mittwoch ins Kapitol eingedrungen ist. Wenn das Ganze auch in weiten Strecken unorganisiert und fast lächerlich wirkte, so war es doch gefährlich. Inzwischen ist bekannt, dass auch gut organisierte Kräfte beteiligt waren. Man kann sich leicht ausmalen, was eine gut vorbereitete Kerntruppe mit einem klaren Ziel in einer solchen Situation hätte anrichten können. Für den 17. Januar wird zu bewaffneten Märschen auf das Kapitol und alle Staatsparlamente aufgerufen, und für die Amtseinführung am 20. Januar wird mit gewalttätigen Protesten gedroht. Die Lage ist alles andere als beruhigt, und mit jedem neuen Schlag gegen ihr Idol werden seine Anhänger*innen weiter aufgebracht werden.

In dieser Situation steht die neue Administration vor einer schwierigen Aufgabe. Der kommende Präsident Joe Biden hat angekündigt, eine überparteiliche, sachorientierte Politik verfolgen zu wollen. Angesichts des beschriebenen Zustands der republikanischen Partei ist fraglich, wie realistisch das trotz knapper Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses ist. Auch in der Demokratischen Partei gibt es Stimmen, die zu Recht darauf verweisen, dass Einheit erst das Ergebnis von Gerechtigkeit und dann Versöhnung sein kann. Senator Bernie Sanders hat darauf hingewiesen, dass die Kongressmehrheiten von kurzer Dauer sein könnten, wenn es nicht gelingt, deutliche Verbesserungen die große Mehrheit der arbeitenden Menschen, die seit Jahrzehnten immer mehr vom gesellschaftlich Wohlstand abgehängt werden und gegenwärtig auch noch am meisten unter der Pandemie leiden, insbesondere People of Color, zu erreichen. Nur so wird es gelingen, dem Rechtspopulismus dauerhaft Einhalt zu gebieten. Sanders drängte auf kühne Maßnahmen, um eine Situation wie 2009/10 zu verhindern, wo die Demokratische Partei zuletzt die Präsidentschaft und die Mehrheit in beiden Häusern hatte, die sie bei den Midterms 2010 verlor und nun erstmals zurückerlangt hat.

Es scheint wie die Quadratur des Kreises: die drängenden Probleme des Landes – Gesundheit, Klimawandel, Gerechtigkeit für die ethnischen Gruppen und zwischen den Geschlechtern, Infrastruktur, Bildung – mit den vereinten Kräften der vielstimmigen Demokratischen Partei anzugehen und dabei noch den Ausgleich mit einer großen Gruppe der wahlberechtigen Bevölkerung zu finden, die die Legitimität der Regierung insgesamt bezweifelt.

Joe Biden und Kamala Harris werden viel Kraft, Geschick und auch einiges Glück brauchen, um diese Aufgabe zu meistern.


* Das Akronym «MAGA» steht in den USA für «Make America Great Again»