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Vor 50 Jahren stürzten linke Offiziere die Diktatur in Portugal

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Reproduktion eines Posters:
Nationales Informationssekretariat, Fotoarchiv, Dias,
Plakate, Dok. 0071
PT/TT/SNI/ARQF/DP-003/0071
Autor: Nicht genannt
Bild mit freundlicher Genehmigung von ANTT
  Cartaz 'Portugal. 25 Abril 1974', Quelle: Direcção-Geral de Arquivos

Als am 25. April 1974 das Lied «Grândola, Vila Morena» kurz nach Mitternacht im Radio gespielt wird, halten alle, die zu so später Stunde noch zuhören, unwillkürlich inne. Denn das Lied José Afonsos, das die Heimat der Brüderlichkeit besingt, in der das Volk das Sagen hat, ist im diktatorisch regierten Portugal verboten. Dass es jetzt im Radio erklingt, muss also etwas bedeuten.

Und das tut es auch: Es ist das verabredete Signal für den Staatsstreich, zu dem sich ein paar hundert linke Offiziere verschworen haben.

Der portugiesische Spätkolonialismus

In den portugiesischen Streitkräften rumort es bereits seit einiger Zeit. Denn während in der ganzen Welt der Kolonialismus zusammenbricht, hält Portugal, die drittgrößte Kolonialmacht der Welt, eisern an seinem Kolonialreich fest – auch dann noch, als sich in Angola, Guinea-Bissau und Mosambik bewaffnete Befreiungsbewegungen formieren.

Albert Scharenberg ist Redakteur für Internationale Politik in der Rosa Luxemburg Stiftung.

Durch den Mehrfrontenkrieg in den Kolonien gerät das autoritäre Regime immer mehr unter Druck. Die rasant steigenden Ausgaben führen schließlich dazu, dass rund die Hälfte des Staatshaushalts für die Kolonialkriege aufgewendet werden muss – bittere Armut und nacktes Elend in den Kolonien, aber auch in Portugal sind die Folge. Im Salazar-Regime, das sich als Erbe der jahrhundertealten portugiesischen Kolonialtradition inszeniert, hängen Kolonialismus und Diktatur so stark voneinander ab, dass ihr Schicksal auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden ist.

António Oliveira de Salazar war in der Folge des Militärputsches von 1926 an die Macht gekommen. Nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten 1932 hatte er das Land zum «Estado Novo» – einem mit Franco-Spanien vergleichbaren, klerikalfaschistischen «Neuen Staat» – umgebaut. Die arbeitende Bevölkerung muss hungern, um die Staatsschulden abzutragen, während die traditionellen Eliten – Großgrundbesitzer, Unternehmer, Militärs – begünstigt werden. Opposition bekämpft der Geheimdienst mit rücksichtsloser Repression, in Portugal ebenso wie in den Kolonien. Dennoch wird das autoritär regierte Land 1949 als Gründungsmitglied in die NATO aufgenommen.

Die Kolonialkriege führen in den 60er Jahren zum «Ende der Klassenallianz, die auf Protektionismus und kolonialer Ausplünderung beruhte» (Urte Sperling). Die portugiesische Oligarchie zerfällt in zwei Interessengruppen, nämlich die auf Modernisierung und Öffnung drängende Fraktion und die primär von Kolonialismus und Protektionismus profitierende Elite.

Doch das Regime erweist sich auch unter Salazars Nachfolger, Marcelo Caetano, als reformunfähig. Zaghafte Öffnungsversuche werden von der alten Garde Salazars durch Putschdrohungen beendet, die Kolonialkriege unerbittlich fortgesetzt.

Als Guinea-Bissau 1972 die Unabhängigkeit des Landes erklärt, erkennen Soldaten und Offiziere, wie wenig die Kriegsziele Portugals mit der Realität in den Kolonien zu tun haben. Die militärische Lage wird immer auswegloser. Immer mehr Soldaten werden getötet oder kehren verwundet und traumatisiert in ihre Heimat zurück. Hunderttausende verlassen das Land.

Die «Bewegung der Streitkräfte»

Da das Regime zu einer Wende im Kolonialkrieg nicht fähig ist, spitzen sich die Widersprüche – gerade im Militär – dramatisch zu. Am 1. Dezember 1973 treffen sich schließlich rund 200 Offiziere in einem Vorort von Lissabon und verabreden einen Staatsstreich. Sie bilden den Kern des Movimento das Forças Armadas, der «Bewegung der Streitkräfte» (MFA). Diese besteht aus überwiegend jungen Offizieren, die fast alle mittlere Ränge bekleiden und aktiv an den Kolonialkriegen teilgenommen haben. Sie kommen aus politisch unterschiedlichen Strömungen, aber sie teilen die Überzeugung, dass die Kolonialkriege beendet werden müssen – und dass es hierzu des Sturzes der Diktatur bedarf.

Jetzt geht alles Schlag auf Schlag. Ein erster Aufstandsversuch scheitert im März. Die MFA beauftragt daraufhin Major Otelo de Carvalho mit der operativen Planung der Militäraktionen und schließt ein Zweckbündnis mit dem konservativen General António de Spínola.

Als dann am 25. April 1974 das Lied «Grândola, Vila Morena» im Radio erklingt, besetzen die Putschisten die strategisch wichtigsten Einrichtungen. Dabei kommt es kaum zu Gegenwehr; bereits am Nachmittag gibt Ministerpräsident Caetano auf. Das morsche Regime fällt buchstäblich in sich zusammen. General Spínola und die MFA vereinbaren die Bildung einer «Junta der Nationalen Rettung».

Die Bevölkerung begrüßt den Umsturz geradezu enthusiastisch, die Szenen der Verbrüderung mit den Soldaten gehen um die Welt. Zum Symbol des nahezu unblutigen Sturzes der Diktatur wird die Nelke, die Zivilist*innen den Soldaten in die Gewehrläufe stecken. Es ist dieser Jubel der Zivilbevölkerung, der dem Putsch Legitimität verleiht – und aus dem Staatsstreich eine Revolution macht. Nur wenige Tage später verwandeln Hunderttausende die Maifeiern in Volksfeste.

Jetzt erweist sich, welche gesellschaftlichen Freiheitspotenziale der Sturz der Diktatur freisetzt. Es kommt zu einer regelrechten Volkserhebung. Im Industriegürtel Lissabons mobilisieren die Belegschaften zu Streiks und Betriebsbesetzungen, und im Süden beginnt das Landproletariat, sich zu organisieren.

Im Mai wird eine Provisorische Regierung gebildet, die auf einer breiten Koalition beruht, die von den Kommunisten über die Sozialisten bis zu den Liberalen reicht. Aber was in Portugal auf Zustimmung trifft, sorgt im verbündeten Ausland für Entsetzen. Aufgeschreckt von der Regierungsbeteiligung der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PKP) sorgen sich die westlichen Regierungen, Portugal könne sich der sowjetischen Welt zuwenden. US-Präsident Gerald Ford fordert Ministerpräsident Vasco Gonçalves auf, die PKP aus der Regierung zu werfen. Auch die NATO äußert «Besorgnis über die Lage in Portugal» und veranlasst den Ausschluss des Landes aus ihrer Nuklearen Planungsgruppe.

In Portugal treten die Differenzen bereits unmittelbar nach der Revolution zutage. Denn während die MFA eine demokratische Verfassung, freie Gewerkschaften, Parteien und Wahlen sowie eine Wirtschafts- und Sozialpolitik im Interesse der Benachteiligten will, sieht Spínola sich an der Spitze eines autoritären Präsidialregimes. In den Sommermonaten des Jahres 1974 konkurrieren daher zwei militärisch-politische Zentren, die MFA und die Spínola-Gruppe, um die Macht. Als letztere immer unverhohlener auf einen Putsch zusteuert, sieht die MFA sich zum Eingreifen veranlasst, um ihre Ziele – Dekolonisierung, Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung – nicht zu gefährden. Spínola muss als Interimspräsident zurücktreten, sein Nachfolger wird der frühere Oberbefehlshaber Francisco da Costa Gomes, der der MFA angehört.

Mit Spínolas Rücktritt beginnt im Herbst die zweite Phase der Revolution. Die meisten Portugies*innen begrüßen zu dieser Zeit die befristete Herrschaft des revolutionären Militärs. «Das Volk ist an der Seite der MFA!», lautet die Parole.

Nachdem im März 1975 ein zweiter Putschversuch Spínolas kläglich scheitert, geht die MFA in die Offensive und beschließt die Verstaatlichung der meisten Banken und Versicherungen, weitere Schlüsselbranchen folgen. Auf Druck der sich radikalisierenden Landarbeiter*innen wird zudem eine Agrarreform vorbereitet.

Der «heiße Sommer» der Volksbewegung

Mit der Wahl der Konstituante am ersten Jahrestag der Revolution beginnt die dritte Etappe der Revolution. Wahlsieger sind allerdings nicht die dezidiert linken Parteien, sondern der – massiv von der Sozialistischen Internationale unterstützte – Partido Socialista (PS) unter Mário Soares und die liberale PPD. Beide Parteien haben den Putsch mitgetragen, wollen aber jetzt die revolutionären Maßnahmen abbrechen und zur kapitalistischen Normalität übergehen. Durch das Wahlergebnis ermutigt, erhöhen sie den Druck.

Gleichzeitig intensivieren sich im «heißen Sommer» die Klassenkämpfe, vor allem im Süden des Landes, in der Region Alentejo, wo Großgrundbesitzer über riesige Latifundien herrschen, während im Norden Kleinbauern das Land bestellen. Im Süden weitet sich der Konflikt zwischen Landarbeiterschaft und Großgrundbesitz zum Kampf um die Kontrolle der Ländereien aus. Derweil wächst in den Industriebetrieben die Streikwelle, und in den Städten entsteht eine Hausbesetzerbewegung.

Ende und Erbe der Revolution

Während sich die revolutionäre Bewegung von unten radikalisiert, verlassen PS und PPD die Koalitionsregierung und mobilisieren zu Großkundgebungen unter der Losung «Das Volk ist nicht auf der Seite der MFA». Damit ist der Bruch der Koalition, auf die die MFA sich stützt, vollzogen – just zu dem Zeitpunkt, als die Volksbewegung ihren Höhepunkt erreicht und Zehntausende «Revolutionstourist*innen» ins Land strömen.

Bald erreicht die Spaltung auch das Militär, der linke Flügel der MFA gerät zunehmend unter Druck. Man darf nicht vergessen, dass er nicht die gesamte Armee repräsentiert: In der Marine dominieren die Linken, aber in Luftwaffe und Heer überwiegen konservative und diffus-liberale Kräfte. Zu letzteren zählt eine Gruppe von Offizieren, die im August 1975 öffentlich fordert, die Revolution zu verlangsamen, den Sozialisierungskurs zu stoppen, die Disziplin der Soldaten wiederherzustellen und den Einfluss der PKP zu reduzieren. Nun ist die Spaltung der MFA nicht mehr zu bestreiten.

Die Sechste Provisorische Regierung wird dann von den gemäßigten Kräften dominiert. Jetzt gewährt Bundeskanzler Helmut Schmidt plötzlich einen Sofortkredit, und auch die EG-Kommission stellt Finanzhilfe zur Verfügung. Es kommt zur schrittweisen Entmachtung der MFA-Linken, am 25. November erfolgt die Festnahme ihrer führenden Offiziere. Damit endet die revolutionäre Rolle der MFA.

Was bleibt ein halbes Jahrhundert später von der Nelkenrevolution? Ihre wichtigsten Folgen sind das Ende des portugiesischen Kolonialismus sowie der Sturz der Diktatur und der Übergang zu einer auf sozialen und demokratischen Rechten basierenden Verfassung. Nicht erreicht wird hingegen die Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft im Interesse der Benachteiligten – ihre Revolution in den Fabriken und auf den Ländereien wird abgebrochen.

Dass aber, nur ein halbes Jahr nach dem Putsch gegen die Regierung Salvador Allendes in Chile, eine militärische Linke den Sturz der Diktatur erzwingen und den Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft bewerkstelligen konnte, ist ein bleibendes Vermächtnis, das dem Bild, das wir gemeinhin von Revolutionen pflegen, einen spannenden Mosaikstein hinzufügt.
 

Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.