Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Bildungspolitik - Türkei - Wohnen Die Angst vor Gezi 2.0

Studierenden-Proteste in Istanbul

Information

#Wir wollen keinen Zwangsrektor
«Kriterien um Rektor zu werden:
Metallica hören  
 Gewählt werden
#Wir akzeptieren es nicht, wir geben nicht auf #Wir wollen keinen Zwangsrektor
»

Eine Anspielung darauf, dass der von Staatspräsident Erdoğan eingesetzte Uni-Rektor Melih Bulu (ein ehemaliger AKP-Politiker) in einem Fernsehinterview gesagt hat, dass er auch gerne Metallica hört, aber sonst keine offensichtlichen Qualifikationen besitzt. Foto: Sultan Eylem Keleş

Seit über einem Monat protestieren die Studierenden der Boğaziçi-Universität in Istanbul gegen die Einsetzung eines neuen Rektors durch Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Ihr Widerstand wirkt auf die gesamte Opposition, deren Wortführer die Studierenden geworden sind. Demgegenüber steht die Regierung, die religiöse und nationalistische Empfindlichkeiten aufwühlt und gleichzeitig mit Polizeigewalt und Inhaftierungen gegen die Studierenden vorgeht. Über 500 von ihnen wurden bereits in Gewahrsam genommen und unter Auflagen freigelassen, Dutzende befinden sich im Hausarrest, neun in Untersuchungshaft. Währenddessen führen die anderen den Protest laut und äußerst pluralistisch fort; sie proben dabei gewissermaßen das Leben in der Welt ihrer Träume. Die Gruppe der Protestierenden setzt sich zusammen aus LGBTI+ Personen, aus Konservativen, organisierten Linken und noch unpolitischen Studierenden. Warum der türkische Staat so hart gegen sie vorgeht und welche Teile der sogenannten Opposition kein zuverlässiger Partner in diesem Kampf sind, kommentieren Sultan Eylem Keleş und Svenja Huck aus Istanbul und Berlin.
 

Bereits am 4. Januar, dem ersten Tag der Proteste, eröffnete die Regierung den Krieg gegen die Studierenden. In den darauffolgenden Tagen nahmen die Polizeigewalt und die Angriffe der Regierung auf die Protestierenden zu. In den frühen Morgenstunden des 6. Januar stürmten Anti-Terroreinheiten der Polizei die Wohnungen der Studierenden. Die Begründung: Verstoß gegen das Gesetz zu Kundgebungen und Demonstrationen nach Paragraf 2911 des türkischen Strafgesetzbuchs. Normalerweise steht in der Türkei kein besonders hohes Strafmaß auf einen Verstoß gegen dieses Gesetz, dennoch wurden die Studierenden tagelang in polizeilichem Gewahrsam gehalten. Und nicht nur das: Ihren Berichten zufolge fanden auch Menschenrechtsverletzungen in Form von Nacktdurchsuchungen statt, von denen die Regierung erst kürzlich behauptete, es gebe sie nicht. LGBTI+ Studierende wurden zudem mit Vergewaltigung und Mord bedroht. Die Polizei setzte gegen die Demonstrant*innen Gummigeschosse, Tränengas und Wasserwerfer ein. Die Verhafteten mussten oft stundenlang mit auf dem Rücken in Handschellen gefesselten Armen warten, danach wurden sie von der Staatsanwaltschaft oder vom Gericht unter Auflagen freigelassen.

Sultan Eylem Keleş studierte Journalismus an der Ege Üniversitesi in Izmir. Nach einem Praktikum bei der Zeitung Agos arbeitet sie nun als Journalistin in Istanbul. Sie beschäftigt sich mit politischen Kämpfen nationaler Gruppen, die in der Türkei nicht zur dominierenden Nation gehören, sowie mit Themen der Arbeitswelt.

Svenja Huck studierte Geschichtswissenschaften in Berlin mit Auslandsaufenthalten in Istanbul und London. Ihre Abschlussarbeit thematisiert die türkische Gewerkschaftskonföderation DİSK 1967-80. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen als freie Journalistin über Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.

Der Großteil von ihnen darf das Land nicht verlassen, andere müssen wöchentlich ihre Anwesenheit auf der Polizeiwache quittieren und Dutzende sind im Hausarrest. Ihnen wurden elektronische Fußfesseln angelegt, dazu steht ein Modem in ihren Wohnungen, das das Signal gibt, dass die Person sich zu Hause befindet. Damit werden die Studierenden ihres Rechts auf Arbeit, soziale Kontakte, aber auch auf Teilnahme an demokratischen Protesten beraubt. Für viele bedeutet das, ihren Familien finanziell zur Last fallen zu müssen. Die elektronischen Fußfesseln wurden übrigens vom Technologieminister Mustafa Varank als «heimatliche und nationale» Geräte betitelt. Ursprünglich waren sie für den Einsatz gegen Täter gedacht, die wegen Gewalt an Frauen verurteilt wurden, nun finden sie sich an den Fußgelenken von rund 30 Studierenden. «Recht und Justiz werden in den Händen der Regierung als Bestrafungsinstrument benutzt. Sämtliche Entscheidungen, die getroffen wurden, sind politischer Natur. Die Straftaten, derer die Studierenden bezichtigt werden, sind alles kleinere Delikte, die keine Strafe notwendig machen. Es besteht auch keine Fluchtgefahr, dennoch werden großzügig Strafen verhängt. Das Ganze hat genau ein Ziel: Opposition klein halten und die Studierenden unterdrücken», kommentiert Anwalt Yağız Timoçin, der seit Beginn der Proteste die Studierenden verteidigt.

Um die Legitimität der Proteste zu unterminieren, bezichtigt der Regierungsblock die Studierenden des Terrorismus, des Vandalismus, des Putschversuchs sowie seines wohl größten Albtraums, der Organisierung eines zweiten Gezi-Protests. Die Regierung, die in den letzten Jahren von einer zunehmenden Anzahl interner Konflikte und Parteiabspaltungen betroffen war, weiß nur zu gut, dass ein zweiter, das gesamte Land umfassender Aufstand ihr Ende bringen könnte und attackiert die Studierendenproteste deshalb mit voller Kraft. Darüber hinaus hat die AKP ihre Herrschaft auf gewissen Gegensätzen errichtet, der wichtigste davon ist die «Volk-Elite»-Dichotomie. Die Boğaziçi Universität, die mit ihrer historischen Kultur und ihren Gründungswerten laut der Regierung zu eben jener «Elite» gehört, soll nun so stark wie möglich niedergerungen werden durch ein Regime, das keine Toleranz für diejenigen aufbringt, die nicht auf seiner Seite stehen. Dadurch soll auch die eigene Wählerschaft konsolidiert werden, denn in der Türkei sitzt der Regierung die nächste Wahl immer im Nacken. Der Ausgang dieser Strategie ist zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss, die Proteste konnte sie jedoch nicht ersticken – und das, obwohl mit Hilfe der Gouverneure in verschiedenen Städten Proteste verboten und ganze Städte förmlich in Polizeistationen verwandelt wurden, die Universität von der Polizei blockiert wurde, Helikopter darüber flogen und ringsherum Scharfschützen positioniert wurden.

Die Regierung spielt nun den letzten Trumpf, den sie in der Hand hält: Sie versucht die Wahrnehmung derjenigen zu beeinflussen, deren «nationale und religiöse» Befindlichkeiten sie anstacheln kann. Dafür attackiert sie die ohnehin schon benachteiligten Gesellschaftsgruppen, in diesem Fall die LGBTI+ Personen. Diese Angriffe bezeichnet die AKP, die selbst einen neoliberalen und konservativen Charakter hat, als «Schutz der Familie und der Gesellschaft» und als «Verteidigung der gesellschaftlichen Werte». So wird auch die Anwendung von Gewalt vor der eigenen Wählerschaft gerechtfertigt. LGBTI+ sind ein Bestandteil der Boğaziçi-Universität und waren von Beginn an den Protesten beteiligt. Nachdem in einer Ausstellung auf dem Campus der Universität ein anonymes Bild gezeigt wurde, dass die Kaaba zwischen LGBTI+-Fahnen darstellte, gerieten sie ins Visier. Innenminister Süleyman Soylu nahm die Ausstellung zum Anlass, vier verhaftete Studierende als «LGBTI-Perverslinge» zu bezeichnen, darauf folgte die Schlagzeile «LGBTI-Schande an der Boğaziçi» in den sozialen Medien. Der LGBTI+-Club der Universität wurde geschlossen und die Polizeidienststelle verkündete, «LGBTI+-Fahnen sichergestellt» zu haben, als sei dies der Beweis für eine Straftat. Für die protestierenden Studierenden war dies eigentlich keine Überraschung, denn bereits am ersten Tag der Proteste warnte uns der Boğaziçi-Student Enes Karakaş: «Um uns stillzuhalten, wird die Regierung diejenigen von uns ins Visier nehmen, die ohnehin schon benachteiligt sind, so wie die Kurd*innen oder die LGBTI+-Personen.» Genauso kam es dann auch, doch die Betroffenen ließen nicht lange mit einer Antwort auf sich warten: Auf dem Unigelände wurden Pride-Märsche organisiert und als die Polizeigewalt wieder einmal eskalierte, wurde eine Regenbogenfahne über dem Eingangstor der Universität geschwungen.

In diesem Kampf zwischen der Regierung und den Studierenden standen die gesamte HDP, die Abgeordneten der Arbeiterpartei der Türkei (TİP), Erkan Baş und Barış Atay, sowie der unabhängige Abgeordnete Ahmet Şık an der Seite der Protestierenden. Die große Mehrheit der Opposition hingegen, allen voran die CHP, blieb in ihrer Unterstützung für die Studierenden eher verhalten und konzentrierte sich stattdessen darauf, Ratschläge zu erteilen. Sie riefen zu Ruhe und Gelassenheit auf und dazu, «den Boden der Legitimität nicht zu verlassen». Die CHP, die eigentlich an der Spitze der Opposition stehen sollte, ist jedoch immer die Allererste, die ihre Feuerwehruniform anlegt und den Brand löscht, sobald irgendein Teil der Gesellschaft einen berechtigten Protest beginnt. Von Zeit zu Zeit wiederholt sie die Leier der Rechten, ebenso wie sie es bei den Protesten an der Boğaziçi-Universität tut. Dafür gibt es zwei Gründe; 1) die CHP hat nicht das Potenzial, irgendeinen Aufstand zu organisieren, anzuführen und zu konsolidieren; 2) die CHP hat die Gründungsprinzipien des Nationalstaats verinnerlicht. Das heißt, auch sie ist kurdenfeindlich, leugnet sogar die Existenz von Kurd*innen und damit auch ihre eigene historische Schuld und ist Befürworterin von Assimilation.

Die Studierenden betonen seit dem ersten Tag ihrer Proteste, dass die Einsetzung eines Rektors Teil der Zwangsverwaltungspolitik der AKP ist und sich nicht von der Einsetzung von Zwangsverwaltern in den Stadtverwaltungen in den kurdischen Regionen unterscheidet. Deshalb ist der Kampf gegen die Zwangsrektoren an den Universitäten zugleich ein Kampf gegen die Zwangsverwalter in den kurdischen Gebieten. Die Studierenden bringen dies in ihren Statements zur Sprache, sie teilen Beiträge auf Kurdisch über ihre Solidaritätskanäle, sie gedenken Suphi Nejat Ağırnaslıs, der in Rojava gefallen ist und zuvor auch an der Boğaziçi studiert hat, und sie verurteilen das Massaker in Roboski, dass sich gegen die Kurd*innen richtete. Die CHP ist strukturell nicht in der Lage, Seite an Seite mit dieser Realität öffentlich aufzutreten. Ihre Unterstützung geschieht höchstens heimlich und verdeckt, oder einzelne Abgeordnete beteiligen sich aus individueller Initiative.

Die massiven Repressionen gegen die Studierenden zeigen deutlich die Angst der Herrschenden vor einem erneuten Massenprotest, der dem Gezi-Aufstand von 2013 ähneln könnte. Der Protest an der Universität allein hat zwar nicht die Kraft, die politischen Verhältnisse grundlegend zu ändern, doch es formiert sich zunehmend Widerstand gegen die politische und wirtschaftliche Krise in der Türkei, für den die Boğaziçi-Universität ein Leuchtfeuer geworden ist.