Es ist nun das dritte Mal, dass Judith Dellheim und Frieder Otto Wolf ein Buch auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung präsentieren. Das liegt nicht einfach am verbindenden Namen «Luxemburg», sondern auch an der Förderung der Bücher durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Reihe, die von Jan Toporowski und Frieder Otto Wolf herausgegeben wird, geht von drei Grundideen aus:
- Der Begriff «politische Ökonomie» wird in der öffentlichen wissenschaftlichen und politischen Debatte inflationär gebraucht. Wir erinnern daher an das Anliegen von Karl Marx, theoretisch und praktisch die Herrschaftsverhältnisse und insbesondere die Kapitalverhältnisse, die kapitalistische Produktionsweise mit ihren Auswirkungen auf die Menschen und ihre natürlichen Lebensbedingungen radikal zu kritisieren sowie deshalb und dabei eine Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie systematisch zu erarbeiten.
- Die kapitalistische Produktionsweise mit ihren sozialen und ökologischen Folgen, die Kapitalverhältnisse in ihrem Kontext mit den Herrschaftsverhältnissen insgesamt entstehen und entwickeln sich in wechselseitiger Verknüpfung mit Finanzen. Die Finanzen wiederum basieren auf Geld als Ausdruck von Machtverhältnissen in den Vergesellschaftungsprozessen, die sich ihrerseits auf das System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in den Stoffwechselprozessen mit der Natur stützen und die gesellschaftliche Zirkulationssphäre prägen. Dort werden von gesellschaftlichen Akteuren auch und insbesondere Geldzeichen und Finanzen bewegt, konzentriert und zentralisiert. Die Zirkulation hat eigene Dynamiken, die auf die Reproduktion der Gesellschaft, der Kapital- und Herrschaftsverhältnisse, der sozialen und ökologischen Lebensbedingungen der Menschen zurückwirken.
- Rosa Luxemburg hat mit ihrer Auseinandersetzung mit Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie in inspirierender Weise gezeigt, was Marx-Kritik im Marxschen Sinne bedeutet. Dabei richtet sie wiederum besondere Aufmerksamkeit auf Finanzfragen. Es stellt sich die Frage, inwiefern Luxemburgsche Marx-Kritik kritisch aufgenommen, weitergeführt und somit produktiv genutzt werden kann.
Damit ist erklärt, warum die beiden ersten Bände der Reihe Luxemburg International Studies in Political Economy sich mit Luxemburgs Akkumulation des Kapitals und Marx’s Drittem Band des Kapital befassten. Damit wird aber auch nachvollziehbar, warum im vorliegenden dritten Band das besondere Interesse den ökonomischen Schriften von Rudolf Hilferding gilt, der die von Friedrich Engels lesbar gemachten Marxschen Manuskript-Texte und Arbeitsmaterialien zum Dritten Kapital-Band fortzuschreiben trachtete.
Rudolf Hilferding: geboren 1877 in Wien – gestorben 1941 in Paris durch die GESTAPO. Er war ein österreichisch-deutscher Wissenschaftler, Publizist, Politiker der SPÖ und SPD und zweimal Reichsminister der Finanzen (SPD) in der Weimarer Republik.
Dabei fokussierte er auf die Entwicklung und Nutzung der Geldfunktion Zahlungsmittel bzw. Kredit durch die mächtigsten Kapitaleigentümer. Es wird die Frage gestellt, wie Hilferding mit den ihm zugänglichen Schriften von Marx und dessen Methode kritisch umgegangen ist, inwiefern und wie er die theoretische und praktische Kritik der kapitalistischen Produktionsweise und der Kritik der politischen Ökonomie fortgeschrieben hat. Dabei zeigt sich ein Dissens zwischen Luxemburg und Hilferding insbesondere im Verständnis von Gesellschaft, im Politikverständnis und in der Auffassung von «Marx kritisch fortsetzen».
Während Hilferding die Gesellschaft als Summe von Individuen und den Verhältnissen zwischen ihnen sieht, fasst Luxemburg diese als Gesamtheit der Individuen IN den Verhältnissen untereinander. Sie orientiert auf die Selbstveränderung der Individuen und zugleich auf die Veränderung der Verhältnisse zwischen den Individuen durch die Individuen. Aus dem scheinbar geringen Unterschied zwischen Hilferding und Luxemburg resultiert zum einen Hilferdings besonderes Interesse an der Zirkulation als Mittlerin zwischen den Individuen während Luxemburg auf den gesellschaftlichen Zusammenhang der Individuen hinter der Zirkulation fokussiert. Das hat dann Konsequenzen für das Verständnis von Geld, Finanzen und das Finanzkapital, die bei Hilferding eher als Angelegenheiten der Zirkulation erscheinen. Luxemburg sieht diese Phänomene hingegen vor allem als Ausdruck von Verhältnissen zwischen den Menschen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, wo auf Grund der Eigentumsverhältnisse insbesondere gesellschaftliche Mehrarbeit verausgabt und gesellschaftliche Arbeitsergebnisse sich privat angeeignet werden. Zum anderen resultiert aus dem unterschiedlichen theoretischen Verständnis von Gesellschaft und konkreten politökonomischen Kategorien auch ein Unterschied im Herangehen an Politik gegen Ausbeutung und Unterdrückung: Während Luxemburg auf die emanzipativ-solidarische Selbstermächtigung und Selbstorganisation der Unterdrückten und Ausgebeuteten setzt, bricht Hilferding trotz Ablehnung von Parteisoldatentum nicht mit der Idee einer hierarchisch strukturierten Arbeiterpartei, die insbesondere der Logik des Parlamentarismus folgt.
Wenn es heute angesichts von übermächtigen Finanzmarktakteuren und transnationalen Konzernen darum geht, ihr Agieren und Funktionieren zu verstehen, die moderne kapitalistische Produktionsweise theoretisch und praktisch radikal zu kritisieren, dann sollten sie und er zu Hilferdings Schriften und insbesondere zum Finanzkapital greifen und sie mit «Luxemburgs Augen» lesen. D.h., die Phänomene des Finanzmarktes sollten nicht aus der linearen Fortschreibung des Marxschen Kapital wie es Hilferding verstanden hat erklärt werden, sondern aus der Perspektive kritisch angeeigneter Gesellschaftsauffassung und Methode von Marx. Damit sollen sich die Leserinnen und Leser unseres Buches Rudolf Hilferding. What do we still have to learn from his legacy? herausgefordert sehen, unsere Beiträge zu kritisieren.
Wir haben die Autorinnen und Autoren gebeten, auf zwei Fragen jeweils eine sehr kurze Antwort zu geben. Die Reihenfolge richtet sich nach dem Inhaltsverzeichnis, wobei wir das Vorwort und die Einführung seitens der Herausgeberin und des Herausgebers übergehen:
Die erste Frage lautet: Was ist in Deinen Augen die wichtigste wissenschaftliche Hinterlassenschaft von Hilferding für unsere heutige Zeit? Und die zweite: Was möchtest Du den Leser*innen unseres Buches konkret empfehlen? Das heißt, das Augenmerk richtet sich auf den Wissenschaftler und Publizisten Hilferding und streift nur den Parteipolitiker und Staatsmann.
Das Buch wird am 16. April 2021 in einer Online-Diskussion mit einigen der Autor*innen vorgestellt.
1. Zum wichtigsten wissenschaftlichen Nachlass
Michael R. Krätke: Hilferding sah sehr deutlich, dass man, um die jüngsten Entwicklungen des Kapitalismus in marxistischen Begriffen zu analysieren, an diesen Begriffen arbeiten muss. Das heißt, man muss die theoretische Arbeit von Marx fortsetzen, einige von Marx' Konzepten erweitern und revidieren. Dies ist eine Arbeit, die durchaus ein gründliches Überdenken der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie impliziert. Und was noch wichtiger ist: um zu einer ernsthaften und genauen Analyse der neuen Phänomene in den jüngsten Phasen der kapitalistischen Entwicklung zu gelangen, muss man die vielen Probleme der Theorie des Kapitalismus (und seiner Kritik) angehen, die Marx ungeklärt gelassen hatte. Und das sind keine philosophischen Probleme oder Probleme der Darstellungsweise, sondern echte Probleme der ökonomischen Theorie.
Nikos Stravelakis: Hilferding ist ein Beweis für die Kraft der politischen Ökonomie. Das heißt: Er hat das Denken der Menschen geprägt und gewogen. Unabhängig davon, ob dies zum Guten oder zum Schlechten neigte, ist dies sein wichtigstes Vermächtnis. Wenn linke Politik in diesem neuen Jahrhundert etwas bewirken soll, muss sie einen Weg finden, um das Denken der Menschen zu prägen, und die politische Ökonomie ist eines der wichtigsten Werkzeuge, um dies zu erreichen.
Patrick Bond: Neben dem enormen Respekt, den wir dem Andenken an Hilferding und allem, was er in seiner politischen Karriere versucht hat, schulden, ist die Überschätzung der Macht des Finanzkapitals für die Lösung kapitalistischer Krisen ein negatives analytisches Erbe. Das ist wichtig, da heute ähnliche reformistische Politiken, finanzkonforme Regulierungsstrategien und institutionalistische Analysen vorherrschen. Der Reformismus, über den ich mir Sorgen mache, entsteht durch den übermäßigen Gebrauch von «Finanzialisierungstendenzen» als Rechtfertigung für die Kritik an Phänomenen, die hauptsächlich an der Oberfläche liegen (in Verbindung mit überbordender Verschuldung, chaotischen Kreditsystemen, korrupten Finanziers und realwirtschaftsfremden Spekulationsprozessen), denn: indem man sich so sehr auf diese institutionellen Erscheinungsformen konzentriert, kommen die ihnen zugrunde liegenden Probleme der kapitalistischen Krisenbildung zu kurz.
Andrew Kilmister: Meiner Ansicht nach ist Hilferdings wichtigstes Vermächtnis nicht irgendeine spezifische Doktrin oder Theorie, sondern es ist ein Ansatz zum Verständnis der Welt. Dieser geht von grundlegenden Prinzipien aus und folgt diesen durch eine Vielzahl aktueller Entwicklungen hindurch ohne dabei die Zusammenhänge zwischen diesen Entwicklungen und der ihnen zu Grunde liegenden Einheit der kapitalistischen Wirtschaft aus den Augen zu verlieren.
Stephen Maher/Scott M. Aquanno: Hilferdings wichtigstes Vermächtnis liegt in seiner Aufmerksamkeit für die Entwicklung von bestimmten institutionellen Formen im Rahmen kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse so wie er von Marx zugrunde gelegt wurde. Dies gilt insbesondere für Hilferdings Analyse der Entstehung des modernen Unternehmens- und Finanzsystems und der Art und Weise wie diese die kapitalistische Klassenmacht konstituieren und reproduzieren. Hilferdings klassisches Werk bleibt der entscheidende Ausgangspunkt für jede marxistische Analyse der heutigen Unternehmensform.
Radhika Desai: Die beiden wichtigsten Vermächtnisse von Hilferding sind seine getreue Ausarbeitung von Marx' ausgefeiltem Verständnis von Geld, das beide nicht als Ware verstanden, und seine Unterscheidung zwischen dem produktiven Finanzsystem der «Musterländer des Finanzkapitals» und dem archaischen, räuberischen, spekulativen und unproduktiven System des Vereinigten Königreichs. Keine Unterscheidung ist von größerer Bedeutung, wenn wir versuchen, den Übeln der Finanzialisierung zu entkommen.
Claude Serfati: Ein wichtiger Beitrag von Hilferding bestand darin, zu betonen, dass das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis ein doppeltes Gesicht hat: als Kapital-Eigentum und als Kapital in Funktion (oder produktives Kapital). Diese Hypothese, die seit langem von Marx untersucht wurde, bietet einen Rahmen für die Analyse der gegenwärtigen Blüte des Finanzkapitals.
John Grahl: Die Bedeutung Hilferdings liegt darin, dass er eine realitätsnähere Sicht auf die wirtschaftlichen Tendenzen vertrat, als sie in den theoretischen Werken Luxemburgs oder Lenins zu finden ist. Das verleiht seinem Werk eine größere aktuelle Bedeutung.
Jan Toporowski: Hilferding zeigte, wie die Funktionsweise der modernen Wirtschaft durch die Unternehmensstruktur bestimmt wird, von großen Wirtschaftskonzernen bis hin zu kleinen und mittleren Unternehmen – ganz anders als das Standard-Narrativ, das vorgibt, dass Kapitalisten Haushalte sind, die sich entschieden haben, ins Geschäft zu gehen. Hilferdings Durchbruch hat wichtige Implikationen für die heutige Regierungspolitik und Strategien für soziale und ökologische Reformen.
Patrick Higgins: Der wichtigste Beitrag Hilferdings ist, dass er den Wert von «Aufgeschlossenheit» in der marxistischen Theorie und Politik demonstriert, da er in seinem Leben aus vielen unterschiedlichen theoretischen Ansätzen Einsichten synthetisieren und mit vielen verschiedenen politischen Gruppen zusammenarbeiten konnte. Mit anderen Worten, er zeigt, wie der Marxismus die Diskussionen über den «Dritten Weg», der von links in die Mitte kommt, bereichern kann statt dass traditionellere kapitalistische Positionen nach und nach «soziale» Elemente einbeziehen.
Jan Greitens: Der Name Hilferding wird heute oft nur noch als Schlagwort im Zusammenhang mit jeglicher Kritik an Banken und Finanzmärkten verwendet. Er ist jedoch ein Autor, der, ausgehend von Marx, in seinem Opus magnum Das Finanzkapital eine umfassende, undogmatische und kreative Analyse der ökonomischen, soziologischen und politischen Entwicklungen seiner Zeit vorgelegt hat.
Judith Dellheim: Die Persönlichkeit und die Schriften von Rudolf Hilferding stellen für jene, die sich der Marxschen Tradition kritisch verbunden sehen, eine enorme theoretische und politische Herausforderung dar. Diese rückhaltlos anzunehmen, eröffnet Einsichten in die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, für die Methode ihrer theoretischen Kritik und für die Politik von Akteuren, die Herrschafts- und Kapitalverhältnisse radikal angreifen und letztendlich überwinden wollen.
Frieder Otto Wolf: Hilferding hat die Frage aufgeworfen, wie weit aufgrund der verfügbaren statistischen Informationen die jeweils gegenwärtigen Prozesse der Reproduktion der Kapitalherrschaft erfasst und theoretisch artikuliert werden können. Damit hat er entscheidend dazu beigetragen, eine an Marx weiterführend anknüpfende wissenschaftliche Forschung auf dem Feld der Kritik der politischen Ökonomie zu begründen – auch wenn das aufgrund der Spaltungen der Arbeiterbewegung von Vielen verdrängt worden ist.
2. Zur Empfehlung an die Leserinnen und Leser
Michael R. Krätke: Ich empfehle jeder/jedem, die/der mehr über den austro-marxistischen Hintergrund von Hilferdings Arbeit und seine fortbestehenden Verbindungen zur austro-marxistischen Schule wissen möchte, einen Blick in meinen Artikel über Austro-Marxismus und Politische Ökonomie zu werfen. Dieser ist auf Deutsch in den Beiträgen zur Marx-Engels-Forschung NF 2018/19 erschienen und wird demnächst auf Englisch in Historical Materialism veröffentlicht.
Nikos Stravelakis: Gewöhnlich wird in Büchern, die sich mit dem Vermächtnis einer Autorin/eines Autors befassen, diese/r entweder gelobt oder kritisiert. In diesem Sammelband gibt es sowohl Lob als auch Kritik für die Ideen von Rudolf Hilferding. Es ist ein origineller Ansatz, der es der Leserin/dem Leser ermöglicht, aus verschiedenen Blickwinkeln und Perspektiven auf Ideen und Ereignisse zu schauen, die einen guten Teil des vergangenen Jahrhunderts geprägt haben. Dieser pluralistische Ansatz eröffnet zugleich Einsichten für das Verständnis des gegenwärtigen Kapitalismus.
Patrick Bond: Hilferding sollte zunächst nicht wegen seiner theoretischen Souveränität, sondern in seinem historischen Kontext gesehen werden: einerseits die Ära des finanziellen Aufschwungs, die es ihm ermöglichte, Fortschritte zu Marx' unvollendetem Band III zur Theorie kapitalistischer Krisen zu machen. Andererseits vernachlässigte Hilferding, wie einige der Autorinnen und Autoren zeigen, Geist und Inhalt von Marx' Denken über die kapitalistischen Widersprüche, einschließlich der Krisentendenzen der Überakkumulation und der anhaltenden sogenannten ursprünglichen Akkumulation als Teil des Imperialismus, wie sie Rosa Luxemburg später genauer beschrieb. In der Tat zeigen diese reichen Werke von 1909 (Finanzkapital) über 1913 (Luxemburgs Akkumulation des Kapitals) bis 1929 (Grossmanns Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems. [Zugleich eine Krisentheorie]), die hauptsächlich den europäischen Kapitalismus – aber auch den Imperialismus – analysieren, die zunehmende Fähigkeit deutscher/österreichischer/polnischer Autoren, von empirischen zu theoretischen Beiträgen überzugehen. Diese Werke werden für alle Zeiten als wichtige Marksteine in der Auseinandersetzung mit den Bewegungsgesetzen des Systems stehen.
Andrew Kilmister: Ich würde den Leserinnen und Lesern des Buches vorschlagen, es als einen Beitrag zu einer anhaltenden Debatte über das Erbe des klassischen Marxismus für das Verständnis der Welt, in der wir leben, sehen. Dies ist keine Debatte über die Aufdeckung offenbarter Wahrheiten, sondern eine kollektive Diskussion darüber, wie die Ideen dieser Tradition einschließlich der Fehler – und vielleicht sogar vor allem dank dieser Fehler – , die vor einem Jahrhundert gemacht wurden, uns heute helfen können.
Stephen Maher/Scott M. Aquanno: Wir hoffen, dass dieser Band die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise lenken wird, in der Hilferdings reiche Methodologie das marxistische Verständnis des gegenwärtigen Unternehmenskapitalismus und der verschiedenen Stadien seiner Entwicklung voranbringen kann – insbesondere in Bezug auf die weitgehend missverstandenen Phänomene der Finanzialisierung. Wir denken, dass der Band die anhaltende Bedeutung von Hilferdings Ideen für heute aufzeigt, da wir uns alle bemüht haben, eine differenziertere theoretische Erklärung des modernen kapitalistischen Unternehmens als Organisationsform zu entwickeln.
Radhika Desai: Dieses Buch ist eine große Aufarbeitung Hilferdings für unsere Gegenwart, in die einige der wichtigsten kritischen Denker unserer Zeit einbezogen sind. Es untersucht den vollen Umfang von Hilferdings Arbeit zur politischen und geopolitischen Ökonomie, einschließlich der Veränderungen in der industriellen Organisation, des Geldes und der Finanzen, seine Beziehungen zum damaligen intellektuellen Milieu und seine Bedeutung für spätere Denkerinnen und Denker.
John Grahl: Unsere Arbeit sollte von dem Bedürfnis ausgehen, auf marxistische Positionen gestützt gegenwärtige ökonomische Entwicklungen zu erklären und dabei gleichzeitig die erfolgten tiefgreifenden Transformationen zu würdigen, was diese Positionen für heute so relevant macht.
Jan Toporowski: Die Leserinnen und Leser unseres Buches sollten sich von Hilferdings monumentalem Bemühen inspirieren lassen, die Politik seiner Zeit nicht als Resultat der Entscheidung Einzelner und noch weniger als eine Verschwörung der Elite zu verstehen, wozu Hobson neigte, sondern als institutionelles Ergebnis der Art und Weise, in der das Geschäft funktioniert. Die Finanzwirtschaft, die heute als neuer Protagonist auf der Bühne erscheint, ist, wie Hilferding zeigte, ein wesentlicher Bestandteil des vom Großkapital dominierten Systems. Aber die größte Veränderung gegenüber Hilferdings Zeit ist die entscheidende Rolle, die die Regierung heute im Finanzwesen spielt. Der Übergang zu einer besseren Gesellschaft erfordert das Verständnis der Finanzen.
Patrick Higgins: Hilferdings eher flexibler und heterogener Ansatz, das «Kapital» und seine Folgen für die Entwicklung des globalen Finanzwesens und des modernen Kapitalismus zu verstehen, ist eine fruchtbare Grundlage für die Geschichte der Wirtschaftstheorie, der wirtschaftlichen Entwicklung sowie für die Geschichte des ökonomischen Denkens. Einige seiner Aussagen über die Kartellisierung und Hierarchiesierung von Finanzstrukturen sowohl als Lösung für als Auslöser globaler Finanzkrisen klingen prophetisch in einer Zeit, in der «Too Big to Fail» zu einem festen Bestandteil unseres politischen Diskurses geworden ist.
Jan Greitens: Wie jede/r Autor/in ist auch Hilferding an die Probleme, Debatten und politischen Ereignisse seiner Zeit gebunden. Das Buch macht einige dieser Einflüsse auf Hilferding sichtbar und man muss bei jedem Versuch zu seiner Aktualisierung die historischen Umstände seiner Entstehung berücksichtigen.
Judith Dellheim: Die Lektüre unseres Buches soll helfen, sich in Hilferding in seiner Situation hineinzuversetzen und der Frage nachgehen, inwiefern Hilferdings Schriften und seine Biographie uns unterstützen, die eigene Denkweise, die Welt von heute und die eigenen politischen Handlungsbedingungen zu verstehen. Produktive Hilferding-Kritik erfordert radikale Selbstkritik.
Frieder Otto: Hilferding stellt einen wichtigen Bezugspunkt auch für gegenwärtige Debatten dar – nicht als ein nur noch zu erhaltendes und zu sicherndes Erbe, sondern als eine Herausforderung zur gegenwärtigen Untersuchung und Auseinandersetzung. Das zeigen die Breite, der Tiefgang und die Vielfalt der in diesem Band materialisierten Diskussion. Aus der wird deutlich, welchen substanziellen Beitrag von Marx ausgehende Analysen zu einem wissenschaftlichen Begreifen gegenwärtiger Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung leisten können.