Im Dezember 2018 löste ein plötzlicher Anstieg der Brotpreise an mehreren Orten im Sudan Demonstrationen aus. Die Folgen einer jahrelangen Austeritätspolitik und die immer schlechteren sozioökonomischen Bedingungen trieben Menschen aus allen Teilen des Landes auf die Straße. Ihre Demonstrationen wuchsen sich zu einem landesweiten Aufstand aus, mit der Forderung nach dem Rücktritt des seit 30 Jahren regierenden Diktators Omar Al-Bashir. In den folgenden Monaten machten rasch zwei sehr unterschiedliche Bilder der sudanesischen Revolution die Runde. Das eine ist das inzwischen ikonische Bild von Alaa Salah, wie sie in einem fließenden weißen Kleid auf der Motorhaube eines Autos vor dem Hauptquartier der sudanesischen Streitkräfte steht und die umstehenden Demonstrant*innen in ihren rhythmischen Protestgesängen anfeuert. Das andere Bild, das nur zwei Monate nach dem ersten kursierte, zeigt die Leichen von vierzig Demonstrant*innen, die in der sudanesischen Hauptstadt Khartum aus dem Nil geborgen wurden.
Je nachdem, auf welches Bild man sich konzentriert, ergeben sich unterschiedliche Geschichten über die Revolution. Im ersten Bild erscheint der sudanesische Aufstand vom Dezember 2018 als Triumph einer Strategie des friedlichen politischen Übergangs, die mit einer umfassenderen Festigung demokratischer Strukturen in der Region zusammenhängt. Das zweite Bild zeigt hingegen die finstere Realität, die denen droht, die es wagen, wirkliche Freiheit in Anspruch zu nehmen. Beide Geschichten handeln von derselben sudanesischen Revolution, wie sie im Dezember 2018 mit einem noch nicht zu Ende geschriebenen Kapitel begann, dessen Titel «Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit» lautet. Indem ich beide Bilder in den Fokus nehme, werde ich in diesem Artikel einige der komplexen politischen und sozialen Realitäten des sudanesischen Aufstands analysieren und reflektieren. Ziel ist es dabei, die politischen Akteur*innen und Verläufe zu kartieren, wie sie sich heute, zwei Jahre nach Beginn der Revolution darstellen.
Ahmed Isamaldin (geb. 1989) ist ein bildender Künstler, Designer und Blogger aus Khartum.
Er studierte Physik an der Universität von Khartum sowie Grafikdesign und Fotografie in Kairo. Isamaldins praktisches Interesse gilt Fragen der Immigration und Psychologie sowie den Prozessen von Revolutionen, entkolonialisierendem Design und Technologie. Er hat sich an verschiedenen Ausstellungen in Khartum, Kairo und Berlin beteiligt und studiert derzeit Visuelle Kommunikation an der Weißensee Kunsthochschule Berlin.
Das Bild der führungsstarken Frau im weißen Kleid
Am 6. April 2019 rief die Sudanese Professionals Association (der Verband sudanesischer Fachkräfte, Anm. d. Übers.) zu einem Marsch zum Hauptquartier der Streitkräfte auf, dem hunderttausende Demonstrant*innen Folge leisteten. Das anschließende massenhafte Sit-in war der erfolgreiche Höhepunkt einer fünfmonatigen (oder, je nach Sichtweise, dreißigjährigen) Entwicklung, während derer die Bewegung sich organisierte und demonstrierte. Durch die Besetzung des Platzes und die Weigerung ihn wieder zu räumen schufen sich die zuvor verstreuten revolutionären Kräfte endlich ein Hauptquartier, eine materielle Plattform. Als Alaa Salah in ihrem weißen Kleid auf der Motorhaube eines Autos stand und Sprechchöre anführte, wiegten sich die Genoss*innen außerhalb des Bildausschnitts zur Feier der gelungenen Mobilisierung freudig und dicht gedrängt. Die Szene vermittelte ein klares Bild der Protestbewegung als Einheitsfront, verbündet gegen «ein im islamistischen Jargon gerechtfertigtes Austeritätsregime, und das zu einem zutiefst krisenhaften Zeitpunkt», wie Magdi El Gizouli und Edward Thomas es ausdrücken. In nur wenigen Tagen errang das breite Bündnis, das sich beim Sit-in zusammengefunden hatte, seinen ersten Triumph: Am 11. April entmachtete das Militär Omar Al-Bashir und «enthauptete» damit das Regime.
Die in diesem Moment mündende Mobilisierung beruhte auf Einsichten, die man im Zuge der im vorangegangenen Jahrzehnt unternommenen Versuche, eine erfolgreiche Bewegung aufzubauen, gewonnen hatte. Eine dieser Einsichten war die Notwendigkeit einer einheitlichen revolutionären Front. In diesem Zusammenhang vermochte die «Deklaration für Freiheit und Wandel» der Sudanese Professionals Association vom Januar 2019 die verstreuten Kräfte ideologisch zu einen. Die neun Forderungen der Deklaration beruhten auf einem Minimalkonsens zwischen Gruppen, die die wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte der Revolution repräsentierten, von der Frauenbewegung, die bei der Mobilisierung die bedeutendste Rolle spielte, über die Arbeiterbewegung bis hin zu reformistischen politischen Parteien. Die Deklaration war gleichsam die Verfassung des Sit-ins, welches wiederum die bedeutendste politische Versammlung in der Geschichte des Landes darstellt. Die radikalen Kräfte begriffen die Deklaration als Grundsatzerklärung, einige Reformist*innen sahen in ihr hingegen eine bloße Verhandlungsgrundlage. Das sollte sich später als Gefahr für die erfolgreiche Beendigung der Revolution erweisen.
Die Entmachtung Omar Al-Bashirs war nicht das alleinige oder auch nur das Hauptziel jener revolutionären Bewegung, die mit ihrem Sit-in eine neue Verfassung und eine Kommune ins Leben rief. Während Al-Bashirs Generäle die Macht an sich rissen, um den Aufstand einzudämmen, hatte das Sit-in – die Nationalversammlung – bereits begonnen, eine «Zivilregierung» zu fordern, was Ausdruck politischer Reife sowie eines tiefen Verständnisses der politischen Geschichte des Sudan war. Schließlich hatten sich die sudanesischen Streitkräfte an Al-Bashirs dreißigjähriger autoritärer Herrschaft beteiligt. Sie sind die Erben einer langen Geschichte der Aussetzung von Demokratie und Freiheit sowie der Begünstigung sozio-politischer Ungerechtigkeiten. Diese Geschichte reicht bis zur britischen Kolonialherrschaft zurück. Die Forderung nach einer Zivilregierung zeigte, dass die Bewegung einen grundlegenden Bruch mit den bisherigen Machtstrukturen anstrebte, und sollte bald auch radikaleren sozialen und wirtschaftlichen Aktionen den Weg ebnen.
Neue und stärkere soziale Kräfte begannen aus der politischen Praxis des Sit-ins hervorzugehen. Vor allem die feministische Bewegung begann, die antipatriarchalen Früchte des politischen Kampfes zu ernten. MANSAM, ein Bündnis von Frauen aus zivilgesellschaftlichen und politischen Gruppen, veröffentlichte am 14. April 2019 eine erste Erklärung, die eine paritätische Beteiligung an der zu gründenden Übergangsregierung forderte. Auch die unter den Demonstrant*innen zirkulierenden Forderungen nach einer umfassenden Justizreform gingen auf die Frauen zurück; ihnen kam in den Protesten eine Führungsrolle zu.
Arbeiter*innen spielten ebenfalls eine bedeutende Rolle, indem sie Generalstreiks organisierten, sowohl am 12. Mai 2019 als auch erneut am 28. und 29. Mai. Der Darstellung der Aktivistin Muzan Al Nile zufolge gelang es vor allem dem zweiten Streik, «die Befangenheit des Staates zu verdeutlichen und dessen Verbündete zu identifizieren. Es gelang des Weiteren, die Macht der Arbeiter*innen zu demonstrieren, auch uns selbst gegenüber. In einigen Situationen griffen die Arbeiterversammlungen direkt auf diese Lehren zurück, um ihre Forderungen durchzusetzen.» Die zur Reife gelangte organisierte Arbeiterbewegung, die in der Revolution ihre Macht einsetzte, um radikale Wirtschaftsreformen durchzusetzen, war eine Herausforderung für das neoliberale Staatsmodell, die weder die reformistischen Kräfte noch das Militär oder deren regionale Verbündete lange dulden sollten.
Zu guter Letzt gab es noch die Widerstandskomitees in den Stadtteilen: eine weitere für die Revolution ausschlaggebende soziale Bewegung. Die Komitees organisierten und erweiterten sich im Gleichschritt mit der Ausweitung des Sit-in. Sie leisteten eine Organisierung der Bürger*innen auf geografischer Ebene und schufen neue Machtkanäle. In den Worten von El Gizouli und Thomas:
«Neu in Inhalt und Form, stellt das ‹Widerstandskomitee› einen offen zugänglichen Knotenpunkt politischer Macht außerhalb des Staates dar, der sich über die Testphase der Mobilisierung und des Protests hinaus behauptet hat und dem es seitdem gelungen ist, auf lokaler Ebene einen beträchtlichen Teil der Regierungsgewalt zu spalten, zu übernehmen und selbst auszuüben. Das ‹Widerstandskomitee› ist wohl in der Tat das Geschenk der jüngsten revolutionären Erfahrung des Sudan an die Welt: ein kühner Versuch, sich die Stadt und ihre übermäßig kommodifizierten Ressourcen wiederanzueignen, und das Produkt einer global beobachtbaren Kollision von Gemeinschaft und Kapitalakkumulation.»
Die Arbeiterklasse hatte ihre tatsächliche Macht unter Beweis gestellt. In den vertikal kommunizierenden Widerstandskomitees der Stadtteile formierte sich eine neue Bewegung, die die Revolution im folgenden Jahr vorantreiben sollte.
Derweil bereiteten sich Ende Mai 2019 reformistische und reaktionäre Kräfte, die vor allem aus sektiererischen und neoliberalen politischen Akteur*innen bestanden, darauf vor, vom Zug der Revolution abzuspringen und die Macht an sich zu reißen, während das Militärregime sich mittels der Anerkennung durch seine regionalen Verbündeten zu legitimieren suchte. Das frappierende Bild der in Weiß gehüllten Alaa Salah, wie sie Hand und Stimme erhebt, um die regimekritischen Sprechchöre der Menge anzuführen, begann zu verblassen und wich einer von extremer Polarisierung geprägten Stimmung. Die Angst vor der radikalen Revolution schwebte über Khartum und die Bedingungen waren reif für jene Gegenreaktion, die zu dem zweiten, grausamen Bild führen sollte.
Das Bild der vierzig Leichen am Nilufer
Angesichts der oben beschriebenen Entwicklungen beschlossen die konterrevolutionären Kräfte – eine Mischung aus sudanesischem Militär, Verbündeten aus den Golfstaaten und bewaffneten Stammesmilizen –, den Aufstand genau dann niederzuschlagen, als er die nötige Reife erlangt hatte, um bedeutende politische und soziale Veränderungen herbeizuführen. Nachdem gut organisierte Widerstandskomitees am 22. und 23. Mai 2019 einen Versuch des Militärs vereitelt hatten, das Sit-in zu räumen, schlugen die Streitkräfte am 3. Juni erneut zu. In einem brutalen Massaker wurden mehr als hundert Demonstrant*innen getötet und viele weitere verletzt. Die Räumung des Sit-Ins war der bisher blutigste Gewaltausbruch der sudanesischen Revolution. Er zerschlug die aufstrebenden Kräfte der organisierten Bewegung zu einem Zeitpunkt, den El Gizouli und Thomas als «Moment der Taufe einer neuen Generation im Feuer und durch das Schwert sudanesischer Machtspiele» beschrieben haben. Vergewaltigung wurde als Waffe eingesetzt, um die politische Führung der Frauen zu zerschlagen, und General Himidti drohte den Arbeiter*innen in den finsteren Tagen nach der Räumung ganz offen. Die Intervention der internationalen Gemeinschaft kam zu spät. Der Wunsch dieser Gemeinschaft, die neoliberale Struktur des sudanesischen Staates zu erhalten, hatte zur Folge, dass auch internationale Akteur*innen die radikalen Forderungen der revolutionären Bewegung weitgehend fürchteten. Das Bild der aus dem Nil geborgenen Leichen von vierzig Aktivist*innen markiert das Ende der radikalen Entstehungsphase der sudanesischen Revolution.
Am 21. Juni 2019 wurde in Deutschland ein Treffen des neu gegründeten Gremiums «Freunde des Sudan» abgehalten, um angesichts der Zerschlagung der revolutionären Bewegung und der Auflösung des Sit-ins durch konterrevolutionäre Kräfte einen Containment-Plan auszuarbeiten. Auf dieses Treffen, bei dem kein*e Vertreter*in des Sudan anwesend war, wurde der Wille der Bevölkerung verworfen und durch eine neoliberale internationale Agenda ersetzt. Die Gruppe der «Freunde des Sudan» – zu der die USA, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Äthiopien, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten gehören – hat eine monströse Rolle gespielt bei der Verdrängung der Forderungen des geräumten Sit-ins und der Aushandlung eines Deals, der es der sudanesischen Armee und den konterrevolutionären Milizen erlaubt, an der Macht zu bleiben, wenngleich unter der Bedingung, dass sie eine Beteiligung ziviler Kräfte an der Regierung zulassen.
Im Oktober 2019 erließ der sudanesische Interimspremierminister ein Dekret zur Einsetzung einer Untersuchungskommission, die sich mit dem Massaker vom Juni 2019 befassen soll. Den Vorsitz des rein männlichen Gremiums hat ein prominenter Anwalt inne, der für seine Arbeit im Bereich der Menschenrechte bekannt ist. Ebenfalls beteiligt sind Vertreter des Verteidigungs- und des Innenministeriums, also genau jener Institutionen, die in das Blutvergießen verwickelt waren. Im Juni 2020 erklärte der Kommissionsleiter, er sei, was die Erstellung des Abschlussberichts angehe, an keinen Zeitplan gebunden; des Weiteren sei keine Veröffentlichung des Berichts geplant, sondern dieser werde direkt an die Justizbehörden weitergeleitet. Die Untersuchungskommission zu den Ereignissen des 3. Juni 2019 hat sich somit als Instrument der Verdunkelung und bürokratischen Verzögerung entpuppt, wie bereits eine ganze Reihe ähnlicher, in den letzten 18 Monaten gegründeter und mit weiteren Fällen staatlicher Gewalt befasster Kommissionen.
Die sudanesische Übergangsregierung setzt sich aus herkömmlichen Parteipolitiker*innen, internationalen NGO-Mitarbeiter*innen und Angehörigen der Streitkräfte zusammen. Seit ihrer Einsetzung betreibt die Übergangsregierung eben jene Wirtschaftspolitik, die den Aufstand im Dezember 2018 überhaupt erst ausgelöst hat. Am 27. Februar 2020 fiel der Wert der sudanesischen Währung auf ein Rekordtief, was zu Preiserhöhungen für lebenswichtige Güter, außerdem in einigen Provinzen zu Brot- und Benzinengpässen geführt hat. Aus dem Bundesstaat El Gezira wurde berichtet, dass der Preis für einen Laib Brot auf dem Schwarzmarkt im Februar 2020 bis zu 5 sudanesische Pfund betrug, mehr als das Doppelte des Preises im September 2019. In Khartum und am Weißen Nil kam es zu Demonstrationen, bei denen Brot, Benzin und die Absetzung von Politiker*innen des alten Regimes gefordert wurden; letztere verfügen innerhalb des Staatsapparats nach wie vor über enorme Macht.
Die Warteschlangen für Brot und Benzin wuchsen auch zu Beginn des Jahres 2021 weiter, während sich Expert*innen stritten, wie die Wirtschaftskrise am besten zu bewältigen sei. Vorhersehbar war die Botschaft derjenigen, die dem von internationalen Finanzinstitutionen wie der Weltbank und dem IWF vorgegebenen Skript folgen: Sie fordern eine Ausweitung neoliberaler Wirtschaftsreformen, einschließlich der Aufhebung von Subventionen für Brot und Benzin. Seit fast zwei Jahren hat die Übergangsregierung keine Legislative gebildet, denn das würde es den revolutionären Kräften erlauben, wieder zusammenzufinden, ihre Macht auszuüben und potenziell auch politische Forderungen zu verwirklichen. Der Verfassungsentwurf, durch den sich die Übergangsregierung konstituiert hat, legitimiert auch bewaffnete Stammesmilizen. Die Übergangsregierung hat mehr als ein Jahr damit zugebracht, ein Friedensabkommen auszuhandeln, das eine Machtteilung mit der bewaffneten revolutionären Bewegung (SPLAN, JEM) zur Folge hat, ohne dass dadurch der bewaffnete Konflikt beendet worden wäre. Das entspricht ganz der Vorgehensweise des gestürzten Al-Bashir-Regimes.
Betrachtet man das erste Bild der sudanesischen Revolution – die führungsstarke Frau im weißen Kleid – aus neoliberaler Perspektive, so könnte man die Revolution als Erfolg verbuchen und darauf hinweisen, dass die zweite Welle der Aufstände in Nordafrika und Westasien günstiger verlaufen sei als die erste. Wenn wir jedoch die Kamera schwenken, um das zweite Bild zu betrachten – die Leichen der Demonstrant*innen am Nilufer –, dann geben sich die blutigen und destruktiven Folgen der neoliberalen Konterrevolution deutlich zu erkennen. Zwischen diesen beiden Bildern bleibt Hoffnung. Zurzeit mögen die revolutionären Kräfte angesichts ihrer neoliberalen Gegenspieler auf lokaler und internationaler Ebene zerstreut und schwach sein. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis neue revolutionäre Strukturen und Visionen entstehen. Vielleicht erhalten sie dann auch breite regionale und internationale Solidarität.