Nachricht | Nordafrika - Widerstandsbewegungen vernetzen Brief an Omar

Der marokkanische Aktivist Jawad Moustakbal schreibt seinem Freund, dem inhaftierten Journalisten Omar Radi

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Selfie mit Jawad Moustakbal und Omar Radi kurz vor dessen Festnahme
Selfie mit Jawad Moustakbal und Omar Radi kurz vor dessen Festnahme Foto: privat

Omar Radi und Jawad Moustakbal sind Mitglieder von ATTAC Marokko, einer Partnerorganisation der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im September 2018 nahmen sie gemeinsam an der von der RLS mit Alsharq (heute dis:orient)organisierten Konferenz «Widerstandsbewegungen vernetzen: emanzipatorischer Aktivismus in Westasien, Nordafrika und Deutschland» teil, bei der 50 Aktivist*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen aus Westasien und Nordafrika von emanzipatorischen Kämpfen in ihren jeweiligen Heimatländern berichteten und diskutierten, wie solidarische Strukturen und Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung weiter verbessert werden könnten.

Damals stellten Jawad und Omar eine ATTAC-Publikation über den Einfluss der politischen Lage in Marokko auf die Rif-Bewegung vor. Außerdem zeigten sie einen Film über diese Protestbewegungen in der Rif-Region, bei dem Omar Regie geführt hatte. Die Proteste begannen 2016 in Al Hoceïma in der nördlichen Berberregion Marokkos, als Reaktion auf den brutalen Mord an einem Fischer durch lokale Sicherheitskräfte. Die Forderung der Gemeinschaft vor Ort nach Gerechtigkeit wuchs bald zu Massenprotesten gegen das marokkanische Regime an, das darauf mit brutaler Repression reagierte.

Omar Radi ist investigativer Journalist und Menschenrechtsaktivist. Seine Recherchen konzentrieren sich auf politische Themen, wie die Verbindungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Eliten und Korruption. Er ist ein bekannter Kritiker von Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung und ist Korruptionsvorwürfen im Amt nachgegangen. Omar Radi wurde am 29. Juli 2020 wegen des Verdachts auf Spionage und Vergewaltigung von der Polizei verhaftet, wie Human Rights Watch und Amnesty International berichten. Das Komitee zum Schutz von Journalist*innen (CPJ; Committee to Protect Journalists) bezeichnete die Vorgehensweise, Journalist*innen der Sexualdelikte zu bezichtigen, als eine neue Methode, mit der man in Marokko kritische Stimmen zum Schweigen bringt. Das CPJ und die in Europa ansässige Stiftung für Menschenrechte «Bertha Foundation» gaben bekannt, dass die Festnahme auch Omar Radis Bertha-geförderten Recherchen über korrupte Landenteignungen in Marokko ein jähes Ende setzte.

Omar wird seit seiner Festnahme ohne Gerichtsverhandlung in Einzelhaft im Okacha-Gefängnis in Casablanca festgehalten. Jawad hat ihm diesen Brief geschrieben.


An: Omar Radi

Gefangenen-ID 26011
Okacha-Gefängnis
Casablanca, Marokko

Hey mein Freund,

wie geht es dir? Wie läuft’s da drin?

Wir vermissen dich sehr. Wir vermissen dein Lächeln, deine Witze, deinen Humor.

Womit verbringst du deine Zeit? Du wirst wohl lesen wie noch nie? Ich weiß, dass du gerne liest, aber ich weiß auch, dass du gerne ausgehst, Zeit mit Freunden verbringst, lachst, dass du Menschen magst und gemocht wirst ... dass du dein Leben gerne in vollen Zügen genießt!

Jawad Moustakbal ist der marokkanische Landeskoordinator des Internationalen Studienprogramms «Climate Change: The Politics of Food, Water, and Energy» (Klimawandel und Politik: Nahrung, Wasser, Energie) der School of International Training (SIT) in Vermont, USA. Er war Projektmanager für verschiedene Unternehmen, darunter OCP, die staatliche marokkanische Phosphatfirma. Jawad ist Aktivist für soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit, Mitglied des Nationalen Sekretariats von ATTAC/CADTM Marokko, und Mitglied des internationalen Komitees zur Streichung der illegitimen Schulden. Er hat einen Abschluss in Bauingenieurswesen der EHTP in Casablanca.

Erinnerst du dich noch an unsere Reise nach Berlin im September 2018, wo wir als Aktivisten an «Widerstandsbewegungen vernetzen» teilgenommen haben? Wir haben dort den Film Death Over Humiliation über die Hirak-Bewegung gezeigt, bei dem du Co-Regie geführt hast, und das Buch Rif Hirak: A Heroic Grassroots Struggle for Freedom and Social Justice vorgestellt, das wir gemeinsam als Association pour la taxation des transactions financières et pour l’action citoyenne (ATTAC Marokko) und als Komitee zur Streichung der illegitimen Schulden  (CADTM) herausgebracht haben.

Ich erinnere mich noch an unsere Diskussionen während der Arbeit am Dokumentarfilm. Wir wollten unbedingt den tausenden von Stimmen und den Perspektiven der einfachen Leute Gehör verschaffen: den Männern und Frauen, die sich über zehn Monate immer wieder entschlossen, in außergewöhnlich friedlichem Protest auf die Straße zu gehen. Männer und Frauen, die öffentlich Gerechtigkeit forderten für Mohsine Fikri, einem jungen Fischverkäufer, der am 28. Oktober 2016 brutal von der Müllpresse eines Müllautos zerdrückt wurde, als er versuchte, seinen von der Polizei beschlagnahmten und weggeworfenen Fisch wieder herauszuholen. Die Menschen gingen auf die Straße, um gegen diese schreckliche Hogra zu protestieren – ein Begriff für ein tiefes Gefühl von Ungerechtigkeit angesichts des unwürdigen Vorgehens der Autoritäten, zu deren Opfer Mohsine Fikri wurde. Darüber hinaus klagten sie die kollektive Hogra an, unter der die gesamte Region seit Ende der 1950er Jahre und der sogenannten Unabhängigkeit leidet.

Ich erinnere mich, dass wir das Skript und eine kurze Zusammenfassung, noch bevor wir mit der Bearbeitung begonnen haben, zur Diskussion an die Aktivist*innen in der Rif-Region geschickt haben, an diejenigen, die noch frei waren und ihre Familien. Ich erinnere mich auch, dass du nicht einen Augenblick gezögert hast, zur Vorbereitung des Filmes nach Al Hoceïma zu reisen, obwohl die Region noch besetzt und militarisiert war; auf jeden Bewohner kam ein Spitzel, wie du sagtest. Du wolltest Familien in der Stadt besuchen, aber auch die Dörfer sehen, um dir ein Bild von den tieferliegenden wirtschaftlichen, sozialen, historischen und kulturellen Triebfedern des Aufstands zu machen. Leider wurdest du festgenommen, noch bevor du überhaupt nach Al Hoceïma einreisen konntest. Zurück in Casablanca, musstest du dein Drehbuch erneut überarbeiten, das anpassen, was noch möglich und umsetzbar war.

Ich erinnere mich sehr gut daran, dass ich dir immer, wenn wir zusammen Spaß hatten, gesagt habe, dass du nur dann glücklich und voller Enthusiasmus bist, wenn «dir die Flasche fast schon im Arsch steckt» – eine sarkastische Anspielung auf eine der sadistischsten Foltermethoden der marokkanischen Autoritäten, bei der sie den Opfern – vor allem politischen Opponent*innen – eine Glasflasche in den Anus einführen. Es ist die von politischen Aktivist*innen am meisten gefürchtete Foltermethode, und das nicht nur, weil sie außerordentlich schmerzhaft ist, sondern auch aufgrund ihrer psychologischen Nachwirkungen in einer Gesellschaft, in der die Würde einer Person auf ihre Jungfräulichkeit reduziert wird.

Ich habe dir immer wieder gesagt, dass du nur glücklich bist, wenn du riskante Nachforschungen anstellst und zu Themen arbeitest, die die Mächtigen stören: Ungerechtigkeit, Korruption, Beziehungen zwischen Wirtschaft und Politik, Menschenrechte und soziale Bewegungen. Du hast immer leidenschaftlich versucht, Prozesse zu verstehen und offenzulegen, wie Menschen verarmen, indem sie enteignet und beraubt werden: ihres Landes, ihres Wassers und ihres Sandes. Einigen deiner Kolleg*innen ist dein Journalismus zu investigativ und zu radikal. Tatsächlich bist du als Journalist radikal, wie wir es auch als Aktivist*innen sind. Radikal genannt zu werden ist für uns keine Beleidigung, sondern ein Kompliment. Radikal sein bedeutet, dass wir zu den Wurzeln der Probleme vordringen, dass wir uns mit den Ursachen von Krankheiten befassen und nicht nur mit den Symptomen. Radikal sein bedeutet, die Wahrheit zu sagen – die ganze Wahrheit –, selbst wenn sie die Regierenden stört.

Faszinierenderweise wird sowieso jeglicher ernstzunehmende, ehrliche Journalismus in unserem Land die Regierenden stören. Ich erinnere mich, wie wir darüber scherzten, dass wir wissen, wir sind auf dem richtigen Weg, wenn wir sie stören – diejenigen, die wirklich an der Macht sind. Diese Gemeinsamkeit zwischen Journalismus und Aktivismus erinnert mich an einen Ausspruch deines Kollegen Ali Anouzla: «Wenn du in Marokko Journalist*in sein willst, musst du Aktivist*in sein.» Auch Ali Anouzla wurde zum Opfer von Repressionen und schließlich wegen seiner Meinungen und Arbeit als Journalist festgenommen.

Am 28. Januar dieses Jahres wurde Maati Monjib, der bekannte Historiker und Mitbegründer der Association Marocaine du Journalisme d’Investigation (AMJI; marokkanische Vereinigung für Investigativjournalismus), zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Genau wie du war Monjib über Jahre von der Polizei verfolgt und ab 2015 mehrfach befragt worden. Ihr beide, wie auch Soulaiman Raissouni, wurdet zum Opfer von Verleumdungskampagnen der regierungstreuen Medien, die schon Monate, bevor du von der Polizei befragt wurdest, von den erfundenen Vorwürfen berichteten. Soulaiman, ein brillanter Journalist und Chefredakteur der Zeitung Akhbar al-Yaoum, sitzt seit dem 22. Mai 2020 im Gefängnis.

Und du, mein Freund, bist seit dem 29. Juli letzten Jahres in Haft, ohne verurteilt worden zu sein, ohne dass dein Verfahren überhaupt begonnen hat; genau wie dein Freund Soulaiman Raissouni. Nach einem Monat ununterbrochener Verfolgung durch die Polizei mit zehn Vorladungen der Brigade nationale de la police judiciaire (BNPJ; nationale Kriminalpolizei), die allesamt über neun Stunden dauerten, wurdest du schließlich festgenommen. Die Schikanen begannen direkt nach der Veröffentlichung des Berichtes von Amnesty International, in dem stand, dass dein Handy von der Pegasus-Software des israelischen Unternehmens NSO angegriffen worden war.

Die erfundenen Vorwürfe gegen dich sind die der «internen und externen Gefährdung der Sicherheit des Landes, sowie der Vergewaltigung und sexuellen Übergriffe». Dabei ist offensichtlich, dass dein einziges Vergehen war, offen deine Meinung über Menschenrechtsverletzungen und Korruption gesagt zu haben. Dein einziges Vergehen war, dass du dich und deine Arbeit so sehr der Unabhängigkeit und Integrität gewidmet hast, dass die Regierenden es nicht ertragen konnten. Du bist ihnen zu ehrlich. Du bist zu intelligent. Du bist nicht bestechlich und deswegen bist du gefährlich. Denn du arbeitest gegen ihre Interessen und deckst die tatsächlichen Vergewaltiger auf, die wirkliche Mafia, die das Land an internationale Unternehmen verkauft hat.

Jedes Mal, wenn ich mit dir in deiner Zelle telefoniere, inspiriert mich deine Kraft, noch immer zu lächeln und zu lachen – es ist eine mächtige und unerschöpfliche Waffe im Widerstand. Jedes Mal, wenn ich mit dir spreche und eigentlich vorhatte, dich aufzumuntern, merke ich, dass du gerade mich aufmunterst.

Den vergangenen Sonntag habe ich mit deinen Mitstreiter*innen und deinen wundervollen Eltern verbracht, der liebevollen und intelligenten Fatiha und Ssi Dri, dem unermüdlichen Aktivisten und Verteidiger unseres Landes. Wir haben dich gefeiert – wir haben für Freiheit und Liebe gesungen, wie du es so gerne machst und wie wir noch vier Tage vor deiner Festnahme zusammen gesungen hatten.

Bitte lächle, lache und träume weiterhin, mein lieber Omar. Ich bin mir sicher, dass du aus dieser sehr schweren Phase nur noch stärker hervorgehen wirst, den Kopf noch stolzer erhoben.

Ich hoffe, dass wir bald deine Freilassung feiern können! 

Herzlich,

M. Jawad

Casablanca

24. März 2021

 
[Übersetzung von Claire Schmartz & Lisa Jeschke für Gegensatz Translation Collective]