Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa Rückschläge für Labour, gespaltenes Königreich

Ein kleiner Streifzug durch die Regional- und Kommunalwahlen in Großbritannien

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Florian Weis, Tsafrir Cohen,

picture alliance / REUTERS | Russell Cheyne

Am 6. Mai 20214 fanden Wahlen sowohl für die Regionalparlamente in Schottland und Wales, eine Unterhaus-Nachwahl und eine Reihe ganz unterschiedlicher kommunaler Funktionen in Teilen Englands statt. Entsprechend der verschiedenen Ebenen, Wahlsysteme und der stark differierenden Wahlbeteiligung (rund 63% in Schottland, 47% in Wales, 42% bei den Nachwahlen in Hartlepool sowie zumeist weniger als 40% bei den Lokalwahlen) ergibt sich kein völlig eindeutiges Bild. Festhalten lässt sich aber, dass die Labour Party auf der Ebene der Kommunalvertretungen stark verloren hat, während die Konservativen hier zulegten, was für eine Partei, die seit elf Jahren die britische Regierung stellt, durchaus ungewöhnlich ist. Bei allen Schwierigkeiten, diese heterogenen Ergebnisse auf eine Unterhauswahl umzurechnen, lässt sich doch feststellen, dass die Labour Party ihren beachtlichen Aufholprozess seit dem Sommer 2020 nicht fortsetzen konnte, sondern wieder auf den schlechten Ausgangspunkt der schweren Wahlniederlage vom Dezember 2019 zurückgeworfen wurde.

Teflon Boris: Die erstaunlichen Erfolge der Konservativen

Demgegenüber haben die Tories wieder einen soliden Vorsprung gegenüber Labour hergestellt. Boris Johnson und seine Administration sitzen weiterhin fest im Sattel, trotz der im Jahr 2020 verheerenden Pandemie-Politik mit mittlerweile fast 130.000 Toten, trotz der Unterfinanzierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes NHS, trotz Korruptionsvorwürfen und Schlammschlachten mit seinem früheren Chefberater Dominic Cummings. Immer wieder gelingt es Johnson, dem Eton-Schüler und Oxford-Absolventen, sich als populistischen Kämpfer wider jenes kulturelle und politische Establishment zu inszenieren, dem er selbst zeitlebens angehört, präsentiert er seine Partei und Regierung als Erneuerungskraft, obgleich sie seit elf Jahren regiert.

Was aber wird nun, nach dem absehbaren Ende der Corona-Pandemie, die Politik der Konservativen unter Johnson und seinem Schatzkanzler Rishi Sunak ausmachen? Werden sie ernsthaft eine staatsinterventionistische Wirtschaftspolitik betreiben, wie sie während der Pandemie notwendiger Weise erfolgte? Wird diese konservative Regierung, die bis mindestens 2016/17 eine brachiale Austeritätspolitik verfolgte und sie danach allenfalls modifizierte, wirklich bereit sein, Steuererhöhungen für die Mittel- und Oberschichten und globale Unternehmen durchzusetzen, um so die Bewältigung der Pandemiefolgen und den Ausbau des NHS und der öffentlichen Infrastruktur zu finanzieren? Daran darf gezweifelt werden. Dennoch befindet sich die konservative Partei und ihre Politik seit dem Abgang von David Cameron als Premierminister und George Osborne als Schatzkanzler 2016 in einem Veränderungsprozess, der jenseits der populistisch-nationalistischen Tonlage freilich widersprüchlich und auch umkämpft erscheint.

Sowohl in Schottland als auch in Wales haben sich die Tories mit Ergebnissen zwischen 22 und 26% gut behauptet: Mit 31 von 129 Sitzen wurden sie wiederum zweitstärkste Kraft im Parlament von Edinburgh, ebenso in Wales mit jetzt 16 von 60 Sitzen in Cardiff. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die meisten Vergleichswahlen 2016 stattfanden, als das Brexit-Referendum unmittelbar bevorstand und die rechte UKIP unter Nigel Farage starke Ergebnisse erzielte. Vom Verschwinden der UKIP und später der Brexit Party profitierten nun die Konservativen. Dies zeigte sich besonders in dem spektakulären Sieg der Tories bei einer Unterhausnachwahl in Hartlepool im Nordosten Englands, einem Sitz, den Labour seit 1964 gehalten hatte und nun deutlich verlor.

Niederlage für Labour mit einigen Lichtblicken

Die Labour Party verharrt auch eineinhalb Jahre nach ihrer vierten Wahlniederlage bei den letzten Unterhauswahlen in einem Dauertief. Die beachtlichen Aufholerfolge in den Umfragen seit dem Sommer 2020 sind verflogen. Labour hat vor allem bei den Wahlen zu vielen englischen Kommunalvertretungen stark verloren, während die Konservativen zulegten. Deutliche Zugewinne erzielten auch die Grünen, während die Liberaldemokraten als landesweit drittstärkste Kraft in etwa ihre Ergebnisse aus den Jahren 2016/17 wiederholen konnten.

Kleinere Lichtblicke bescherten der Labour Party die Bürgermeister:innenwahlen in verschiedenen Großstadtregionen und die Regionalwahlen in Wales. Dort stellt die Partei seit der Errichtung autonomer Strukturen 1999 ununterbrochen den «First Minister». Unter Mark Drakeford, dessen Politikstil manchmal als eher dröge belächelt wurde, steigerte die Labour Party ihren Stimmenanteil auf 40 % der Wahlkreisstimmen, errang so 30 der 60 Senatssitze und kann somit weiterregieren. Die progressiv ausgerichtete Nationalpartei Plaid Cymru verharrte bei 20% der Stimmen und fiel mit 13 Sitzen auf den dritten Platz hinter die Konservativen zurück. In der schweren Pandemiekrise hat Drakefords Auftreten verlässlich und somit positiv gewirkt. Überhaupt, so schlussfolgert der durch seine BBC-Wahlanalysen bekannte Politikwissenschaftler John Curtice durchaus plausibel, können die Wahlen auch als Bestätigung der jeweils regierenden Akteur:innen unter den Pandemiebedingungen verstanden werden: Die Konservativen gewannen in den englischen Kommunen hinzu, die meisten der dortigen Bürgermeister:innen behaupteten sich ebenfalls, in Schottland gewann die Scottish National Party unter Nicola Sturgeon und in Wales eben die Labour Party. Den Konservativen, in geringerem Maße aber auch den jeweils regional Regierenden ist dabei sicherlich die vergleichsweise zügige und erfolgreiche Corona-Impfkampagne zu Gute gekommen.

London und Greater Manchester: Teilerfolge für die Labour Party 

Unter den Labour-Regierungen von Tony Blair und später dann auch konservativen Regierungen wurden schrittweise direkt gewählte Bürgermeister:innenposten für die Großstädte und mittlerweile auch Großregionen geschaffen. Allerdings schwanken die Befugnisse je nach Ort und Region. Eine wirklich konsequente Regionalisierung als Teil einer Überwindung der enormen Machtkonzentration in Westminster steht insofern noch aus. Mag auch das Interesse an solchen strukturellen Machtverlagerungen und der Kommunalpolitik generell, wie die niedrigen Wahlbeteiligungen zeigen, in England begrenzt sein, so könnte die wachsende Sichtbarkeit einiger Bürgermeister:innen in Verbindung mit der verbreiteten, aber diffusen Verbitterung über «London» in großen Teilen Nordenglands langfristig einer systematischen Regionalisierung und Dezentralisierung den Weg bereiten. Gerade die Labour Party müsste daran ein Interesse haben.  

Nach Ken Livingston (2000–2008) und Boris Johnson (2008–2016), zwei ausgeprägten Exzentrikern und Provokateuren in ihren jeweiligen Parteien, hat nun auch der ausgleichend agierende Sadiq Khan (50) seine Wiederwahl als Bürgermeister von London bei einer Wahlbeteiligung von 41% geschafft. Allerdings verfehlte er einen Erfolg bereits im ersten Wahlgang mit 40% deutlich und brauchte Zweitpräferenzstimmen, um sich in der zweiten Runde mit einer Mehrheit von 55% gegen seinen konservativen Hauptgegner Shaun Bailey, dem forsche Töne und rechte Positionen nicht fremd sind, durchzusetzen. Sian Berry errang mit 8% ein respektables Ergebnis für die Grünen, während die Kandidatin der Women’s Equality Party, Mandy Reid, nicht einmal 1% der Stimmen erringen konnte.

Khan, für den die neue Wahlperiode gleichzeitig seine letzte in London sein wird und der in der Mitte der Labour Party verortet werden kann, ist damit zwangsläufig auch ein kleiner Hoffnungsträger für die Labour Party. Aus Sicht der Parteilinken trifft dies weit mehr noch auf Paul Dennett zu, der in Salford mit 59% gleich im ersten Wahlgang erfolgreich war, wobei die Wahlbeteiligung mit 28% extrem niedrig ausfiel. Neben anderen Labour-Bewerber:innen setzte sich insbesondere Andy Burnham mit 67% der Stimmen (bei freilich auch nur einer niedrigen Wahlbeteiligung von 34%) als Bürgermeister der Großregion Manchester durch. Burnham (51), der bereits unter Gordon Brown Kabinettsposten bis 2010 innehatte und 2015 als Kandidat für den Parteivorsitz Jeremy Corbyn unterlag, gehört zu den wenigen Labour-Poltiker:innen, der sich auch unter den Pandemie-Bedingungen Gehör gegen die konservative Regierung verschaffen konnte, indem er den ignoranten Zentralismus der Johnson-Regierung und die Unterfinanzierung der nordenglischen Regionen wirkungsvoll anprangerte. Es verwundert also nicht, dass Burnham, der innerhalb der Labour Party dem «moderaten» oder «rechten» Parteiflügel zuzurechnen ist, bereits als möglicher Nachfolger von Keir Starmer gehandelt wird.

Denn so vernünftig es war, dass die im April 2020 neu gewählte Parteiführung angesichts des großen Tory-Sieges und der Corona-Pandemie zunächst einen vorsichtigen, auf lange Sicht angelegten Oppositionskurs verfolgte, so wenig konnte die Labour-Führung seit Jahresbeginn programmatisch und kommunikativ überzeugen. Der jetzt angekündigte größere personelle Umbau des «Schattenkabinetts» ist vor dem Hintergrund der geringen Außenwirkung der meisten seiner Mitglieder notwendig. Die Art und Weise aber, mit der Starmer und sein Team insbesondere die stellvertretende Vorsitzende Angela Rayner in Frage stellten und sie, die eine sehr eigenständige, von Corbyn unabhängige Parteilinke und öffentlich wirksame Politikerin ist, zu Unrecht maßgeblich für die Wahlverluste verantwortlich machen wollten, zeugt von wenig Souveränität und integrativer Führungsstärke. Auch wenn Rayner nun eine stärker nach außen sichtbare Führungsrolle erhalten wird, hat Starmer mit diesem Vorgehen der Partei geschadet und seine eigene Position erheblich geschwächt.

Deutlicher, aber nicht überragender Sieg des schottischen Unabhängigkeitslagers

In Schottland setzte sich erwartungsgemäß die SNP, die seit 2007 die Regionalregierung stellt, unter ihrer populären «Ersten Ministerin» Nicola Sturgeon durch. Bei einer vergleichsweise hohen Wahlbeteiligung von 63% gewann die SNP rund 48% der Wahlkreisstimmen und 40% der Regionallistenstimmen, was gegenüber den Regionalwahlen 2016 und den Unterhauswahlen 2019 allenfalls eine minimale Verbesserung darstellt. Die weniger tages- als symbolpolitische wichtige absolute Mehrheit im Regionalparlament von Edinburgh verfehlte die SNP äußerst knapp (64 von 129 Mandaten). Mit den ebenfalls die Unabhängigkeit befürwortenden und politisch linksstehenden Gründen, die mit acht Mandaten leicht zulegen konnten, hat das Unabhängigkeitslager eine stabile Mehrheit. Die Veränderungen gegenüber den Wahlen 2016, seit denen sich immerhin das Brexit-Referendum, der Wahlsieg Boris Johnsons, der Vollzug des Brexits und die Corona-Pandemie ereignet haben, sind auffallend gering. Die Labour Party verlor zwar zwei Sitze und liegt nun in der Mandatsverteilung deutlich hinter den Konservativen (22 gegenüber 31 Sitzen), konnte sich unter ihrem neuen Vorsitzenden Anas Sarwar aber zumindest auf einem niedrigen Niveau stabilisieren. Auffallend war, dass in einigen Wahlkreisen offenbar ein taktisches Wählen gegen die SNP durch diejenigen erfolgte, die für einen Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich sind. Der Ausgang eines nach 2014 möglichen zweiten Unabhängigkeitsreferendums, den Sturgeon nun unternehmen wird, ist freilich nicht nur wegen der Blockademöglichkeit der Londoner Regierung offen, denn einen «katalonischen Weg» eines rechtlich unzulässigen Referendums wird die SNP kaum gehen wollen. Nicht alle Wähler:innen von SNP und Grünen werden zwingend für die Unabhängigkeit stimmen, während die allermeisten Anhänger:innnen von Konservativen, Labour und Liberaldemokraten für den Verbleib beim Vereinigten Königreich votieren dürften. Ein knappes Ergebnis ist mithin wahrscheinlich.

Der Brexit, die (englische) Arroganz der Johnson-Regierung und die im letzten Jahr verheerende Corona-Politik Londons können den Unabhängigkeitswunsch bestärken, jedoch gibt es auch gegensätzliche Faktoren: Manche Schott:innen könnten in Zeiten so vieler Unsicherheiten nicht auch noch den nächsten Bruch riskieren wollen, denn eine vernünftige Entflechtung der seit über drei Jahrhunderten bestehenden Union von Schottland und England würde noch weit größere Herausforderungen mit sich bringen als der britische EU-Austritt. Ob sich die schottischen Hoffnungen auf einen zügigen EU-Beitritt eines dann unabhängigen Schottland erfüllen können, ist ebenfalls offen.

Zwei Lehren des zu einem unversöhnlichen Kulturkampf eskalierten Brexit-Prozesses, sollten gezogen werden. Erstens muss es bei der jeweils unterlegenen Seite die Bereitschaft geben, ein demokratisches Votum zu akzeptieren, sie muss aber auch eingeladen, angesprochen und aktiv eingebunden werden. Denn sowohl das Brexit-Referendum 2016 als auch das schottische Unabhängigkeitsreferendum 2014 haben tiefe Risse in lokalen Communities, ja Familien hervorgebracht, die nur mühsam zu überwinden sind. Zweitens ist es objektiv für die politische Linke schwierig, mit einer differenzierten Position in simplen Ja-Nein-Fragen, bei denen es um staatliche Souveränität geht, durchzudringen. Auch wenn sich die Befürworter:innen der schottischen Unabhängigkeit mehrheitlich der politischen Mitte und Linken zurechnen, bedeutet das nicht, das ein unabhängiges Schottland automatisch den Sozialstaat stärken und die Verheerungen des Neoliberalismus überwinden wird, denn die Politik der regierenden SNP ist, ungeachtet ihrer fraglos progressiven und inklusiven Agenda, keineswegs durchgehend sozial und erfolgreich. Allerdings gelingt es der SNP bisher bemerkenswert gut, Erfolge ihrem eigenen Handeln zuzuschreiben und Probleme der Londoner Regierung anzulasten. Aufgabe der Labour Party, der Gewerkschaften und anderer Linker wäre es somit, zum einen auch eine dritte Variante in die Abstimmungskampagne einzubringen, nämlich eine stärkere Autonomie Schottlands bei einem gleichzeitigen Verbleib im UK, und zum anderen die sozial- und wirtschaftspolitische Fragen stark zu machen und sich dadurch stärker von den Konservativen abzugrenzen als dies in der Kampagne 2014 der Fall war.