Am 22. Mai hätten in Palästina endlich einmal wieder Wahlen für das Parlament stattfinden sollen, wenige Wochen später, am 30. Juni, hätte der Präsident gewählt werden sollen. Am 30. April jedoch wurden die Wahlen von Präsident Mahmoud Abbas abgesagt. Innerhalb der palästinensischen Linken gab es bis zu diesem Zeitpunkt rege Debatten über die Frage, in welcher Formation eine Beteiligung stattfinden könnte und welche Schwerpunkte gesetzt werden sollten.
Die Wahlen, die eigentlich im Jahre 2009 hätten stattfinden sollen, wurden seitdem immer wieder mit den verschiedensten Argumentationen abgesagt. Diesmal wurde die Situation von ca. 6.000 Menschen in Ostjerusalem, denen von Israel die Beteiligung an der Wahl verweigert wurde, als Begründung verwendet. Allerdings wurde dies von großen Teilen der palästinensischen Gesellschaft als Vorwand interpretiert, weil die Chancen auf einen Erfolg der Fatah durch die Ankündigung von Marwan Bargouthi, einem in Israel wegen Terrorismus inhaftiertem Fatah-Mitglied, mit einer eigenen Liste bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten, deutlich geschmälert worden waren.
Linke im Parlament
Für die palästinensische Linke waren die Aussichten auf eine erfolgreiche Kandidatur auch vor Bargouthis Ankündigung nicht rosig. Dies liegt zum einen an dem omnipräsenten Lagerdenken, welches auch in der palästinensischen Gesellschaft vor allem auf die Frage «Fatah oder Hamas?» fokussiert, und zum anderen an der Zersplitterung in der Linken. So wurden bei der letzten Wahl des Parlaments vier linke Parteien gewählt, die gemeinsam allerdings nur auf acht der 132 Sitze kamen. Die größte unter ihnen mit drei Sitzen ist die Popular Front for the Liberation of Palestine – Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), welche auf eine Ein-Staaten-Lösung setzt und lange hinter der Fatah die zweitstärkste Kraft in Palästina war, die pazifistische Partei al-Mubadara mit zwei Sitzen sowie mit jeweils einem Sitz die Palestinian People‘s Party – Palästinensische Volkspartei (PPP) und die Democratic Front for the Liberation of Palestine – Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP).
Jules El-Khatib ist stellvertretender Landessprecher der Linken NRW und Autor des Blogs «Die Freiheitsliebe». Er hat familiäre Wurzeln in Westasien und ist Palästinenser mit israelischer und deutscher Staatsbürgerschaft.
Im Bewusstsein dieser Schwäche hatten die linken palästinensischen Parteien schon vor längerer Zeit damit begonnen, Gespräche zu führen, die zu mehr Einheit hätten führen sollen, und dazu im Rahmen verschiedener Zusammenschlüsse getagt. Mit der Aussicht auf Wahlen wurde ein Komitee gegründet, welches einen geeinten Block der linken Kräfte hätte formieren sollen. Doch schon Ende März wurden die Gespräche beendet – die Begründungen, die hierfür angegeben wurden, variierten je nach Partei. Von einer Mehrheit wurde allerdings die Ursache des Scheiterns im Agieren der PFLP gesehen. Diese formulierte, zumindest nach Schilderungen anderer Beteiligter, als größte Kraft der palästinensischen Linken nicht nur den Anspruch, den ersten Platz auf der Liste zu stellen, sondern sogar die ersten fünf und die restlichen Plätze entsprechend der Wahlergebnisse bei den letzten Wahlen im Jahr 2006. Da die anderen an den Gesprächen beteiligen Parteien damit nicht einverstanden waren, so die Schilderung von Bassam Al-Salihi von der PPP, scheiterten die Gespräche.
Von der DFLP wurde das Scheitern der Gespräche nicht als das Ende der Chancen für die palästinensische Linke gesehen, wie Talal Abu Zarifa gegenüber Middle East Eye erklärte: «Der Dialog zwischen den linken demokratischen Parteien zeigte die Möglichkeit, gemeinsame Nenner zu erreichen, einschließlich der Formulierung eines einheitlichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Programms.» Dieser Prozess sei zwar nicht erfolgreich gewesen, doch habe er aufgezeigt, dass Spielräume bestehen, wie die DFLP betonte.
Die PFLP dagegen sah die Ursachen des Scheiterns nicht bei sich selbst, sondern erklärte, dass dies vor allem in unterschiedlichen Verständnissen im Umgang mit Fatah und Hamas begründet sei. Der Journalist Hassan Jaber beschrieb gegenüber Middle East Eye dagegen, dass vor allem das Misstrauen sowie die Weigerung von einzelnen Kräften, eine Regierung mit der Fatah oder der Hamas auszuschließen, zum Scheitern geführt habe. Diese Kritik dürfte sich vor allem an die PPP und die Palästinensische Demokratische Union (FIDA) richten, die nach den Kommunalwahlen im Jahr 2016 die Fatah unterstützt hatten. Ein weiterer Streitpunkt soll die Frage gewesen sein, in welcher Schärfe die Oslo-Abkommen und die Zusammenarbeit mit der Palästinensischen Administration (PA) in Ramallah abgelehnt werden solle, wobei insbesondere die PFLP eine scharfe Ablehnung forderte, während FIDA und PPP dies in der Praxis nur bedingt so handhaben.
Rückschlag für progressive Kräfte
Die Folgen des Scheiterns der Gespräche für die palästinensischen Linke sind schwerwiegend, insbesondere für den Fall, dass es in der nächsten Zeit doch zu Wahlen kommen sollte. Das palästinensische sogenannte Grabenwahlsystem, welches für die Hälfte der Sitze eine zwei Prozent-Hürde vorsieht, für die andere Hälfte die Direktwahl von Abgeordneten in den Wahlkreisen, die abhängig von der Größe zwischen einem und neun Abgeordneten stellen, bevorzugt vor allem über die Wahlkreise größere Parteien. Eine geeinte palästinensische Linke hätte sich in den größeren Wahlkreisen Chancen ausmalen können, Mandate zu erringen. Einzeln dürfte das für die Parteien nahezu unmöglich sein. Auch die zwei Prozent-Hürde könnte, zumindest für die PPP, die FIDA (wobei diese angekündigt hat, zusammen mit der Fatah anzutreten) und al-Mubadara, ein Problem darstellen. Diese Situation erschwert die Möglichkeiten sowohl im Bezug auf soziale Verbesserungen für die Palästinenser*innen, die aufgrund der Besatzung ohnehin schon schwierig sind, wie auch für gesellschaftspolitische Gegenwehr gegen reaktionäre Vorstöße der Hamas.
Doch auch für den Fall, dass es nicht zu Wahlen kommt, hat die palästinensische Linke gezeigt, dass sie nicht in der Lage ist, die internen Differenzen über Bord zu werfen und einen dritten bzw. vierten Block – falls Bargouthi sich tatsächlich von der Fatah löst – zu entwickeln. Dies birgt die Gefahr der Frustration insbesondere für junge Palästinenser*innen, die weder in der korrupten Fatah noch in der islamistischen Hamas eine Chance sehen. Die palästinensische Jugend hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass sie ein Motor für Veränderungen in der palästinensischen Gesellschaft sein kann, was sowohl bei den feministischen Protesten in verschiedenen Städten als auch bei den immer wieder aufkommenden Protesten von jungen Erwachsenen in Gaza, die sowohl gegen Hamas und Fatah als auch gegen die israelische Besatzungspolitik protestieren, deutlich geworden ist. Dies zeichnete sich auch im Hinblick auf neuere Entwicklungen wie den palästinensischen Generalstreik ab, der vor einigen Tagen sowohl in Palästina wie auch in Israel stattfand, um gegen den Krieg zu protestieren. In diesem Kontext müssten Ansätze diskutiert werden, wie ziviler Widerstand gegen die Besatzung und Militarisierungspolitik organisiert werden kann, und welche Möglichkeiten es gibt, um gemeinsam mit der israelischen Linken zu agieren.
Will die DFLP mit ihrer Analyse Recht behalten, dass die Proteste eine Chance bieten, so ist unbedingt notwendig, dass eben jene junge Generation, die sich weder an Fatah noch an Hamas gebunden fühlt, in zukünftige Gespräche eingebunden wird und die aus Spaltungen resultierenden Abneigungen der älteren Generation überwunden werden.