«Wissen unterhaltsam aufbereitet», dies formuliert der Reclam Verlag als Anspruch für seine Reihe «100 Seiten» («für 100 Minuten»).[1] Das «unterhaltsam aufbereitet» für den vorliegenden Band eine unpassende Formulierung ist, muss nicht weiter begründet werden, stellt aber auch keinen Grund dar, den vorliegenden Band deshalb in Frage zu stellen. Denn Micha Brumlik, der als Erziehungswissenschaftler Professuren in Heidelberg und Frankfurt am Main innehatte, das Fritz-Bauer-Institut leitete und mittlerweile Seniorprofessor an der Goethe-Universität ist, gelingt es überzeugend, in diesem kurzen Format eine Darstellung des Antisemitismus und Antijudaismus in den letzten 2.000 Jahren zu geben. Angesichts des Format verbietet es sich auch weitgehend, diese oder jene Auslassung oder unvermeidbare Verkürzung zu monieren. Entscheidend ist vielmehr, dass es Brumlik gelingt, den großen Bogen in sieben Kapiteln überzeugend zu schlagen, von einer Einführung, in der er eigene biographische Erlebnisse als Jude in Deutschland beschreibt, über Judenfeindlichkeit in der Antike, christlichen Antijudaismus, «Aufklärung und Revolution» bis hin zum rassistischen Antisemitismus, der Shoah und schließlich seinen gegenwärtigen Ausprägungen und der Frage, welche Gegenwehr möglich ist.
Brumlik konzentriert sich in seinem Überblick auf Europa sowie, von wenigen, darüber hinausreichenden Einschüben abgesehen, auf Westasien und Nordafrika. Diese Beschränkung ist mit Blick auf die Shoah, auf christlichen Antijudaismus sowie den «modernen» Antisemitismus und Rassismus, gut begründet.
Differenziert beschreibt Brumlik verschiedene Phasen am Ausgang der römischen Antike und während des Mittelalters und den christlichen Antijudaismus, den er nicht als gleichmäßig starke oder kontinuierlich ansteigende Ausgrenzung beschreibt, sondern in deutlich unterscheidbaren Phasen. Eine wesentliche Ursache für die wesentlich brutalere Ausgrenzung und Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Europa ab dem ausgehenden 11. Jahrhundert sieht er in den beginnenden starken Umbrüchen dieser Gesellschaften, also keineswegs nur vordergründig in den Kreuzzügen:
«In dieser Umbruchszeit wurden die Juden zu klassischen Sündenböcken, die in einer Jahrhunderte währenden Leidenszeit immer wieder den Preis für die Unbill derer zu zahlen hatten, die unter den massiven gesellschaftlichen Umbrüchen litten.» (S. 27)
Einen mithin wesentlich - wenn auch nie ausschließlich - in ökonomischen und sozialen Umbrüchen und Verwerfungen wurzelnde Erklärungsansatz verfolgt Brumlik auch für spätere Phasen des Antisemitismus (S. 66). Indem er Antisemitismus als «rassistische Erscheinungsform der Judenfeindschaft» und als «sehr spezielle Variante des Rassismus» (S. 7) definiert, hebt er sich auch von anderen Deutungsrichtungen ab.
Bekanntlich brachte die Reformation keine grundlegende Verbesserung für die Juden mit sich, vielmehr verweist Brumlik auf einen «ersten antisemitischen Höhepunkt» (S. 33) insbesondere bei Martin Luther. Den endgültigen Übergang in den «modernen» Antisemitismus schildert Brumlik an den bekannten Beispielen von Ernst Moritz Arndt, «Turnvater» Friedrich Jahn und Gottlieb Fichte bis hin zu Wilhelm Marr und Adolf Stoecker. Vergleichsweise ausführlich kritisiert Brumlik Karl Marx und resümiert:
«Doch war Marx keineswegs die einzige Geistesgröße im 19. Jahrhundert, die zwar früh revolutionär, jedoch in ihrem Wirken und Denken zutiefst antisemitisch geprägt war.» (S. 64)
Diese Auffassung ist nun natürlich dazu angetan, in einem linken Umfeld kritisch erörtert zu werden; Marx vermeintlicher Antisemitismus wurde ja auch immer wieder kontrovers behandelt. Entscheidender ist jedoch, ob damit die auf Marx fußende Kapitalismusanalyse und -kritik als antisemitisch kontaminiert beschrieben wird, was Brumlik nicht tut. Zum Verhältnis von Marxismus, Arbeiterbewegung, Antisemitismus und «jüdischer Frage» sei hier nur auf viele Publikationen von Mario Keßler sowie von Jack Jacobs verwiesen.[2]
Für ein linkes Publikum sind neben dieser Einordnung von Marx zwei weitere Aspekte von Brumliks Darstellung von besonderem Interesse und sicherlich wiederum Anlass zu kontroversen Reaktionen. Dies betrifft zum einen die (äußerst knappe) Einschätzung der realsozialistischen Gesellschaften vor 1989/91, zum anderen den Anteil, den ein von Brumlik so bezeichneter «islamistischer Antisemitismus» gegenwärtig ausmacht.
So richtig dabei der Hinweis auf den Antisemitismus in den stalinistischen Schauprozessen vor allem, aber nicht nur in der UdSSR und CSSR zwischen 1948/49 und 1952/53 ist, so fehlt doch der Hinweis auf die Veränderungen in den realsozialistischen Ländern nach 1953/56. Zur von Brumlik in Bezug auf Israel heftig kritisierten Außenpolitik der DDR (S. 70) sei hier nur auf die Beiträge von Angelika Timm verwiesen;[3] zu Auswirkungen der Politik der DDR auf den heutigen Antisemitismus in Ostdeutschland sei wiederum auf die kontroversen aktuellen Beiträge von Micha Brumlik und Charlotte Misselwitz hingewiesen.[4] Angemerkt sei an dieser Stelle, dass der Umgang der DDR und dann auch des vereinigten Deutschland mit der Namensgebung der Greifswalder Universität nach Ernst Moritz Arndt, die bekanntlich und nicht zufällig 1933 erfolgte, freilich ein geschichtspolitisches Armutszeugnis darstellt. Erst 2018 wurde, maßgeblich auf Druck von Studierenden, die endgültige Ablegung des Namens vollzogen.
Trotz der der Reihe geschuldeten sehr knappen Gesamtdarstellung behandelt Brumlik die Thematik eines israelbezogenen Antisemitismus ausgesprochen differenziert (S. 78ff.), was angesichts der in und von unterschiedlichen politischen Lagern verhärtet und aufgeladen geführten Auseinandersetzungen (von Debatten und Diskussionen lässt sich dabei selten sprechen) ebenso wohltuend wie hilfreich ist.
Kontroverse Reaktionen kann sicherlich auch Brumliks Einschätzung eines «islamistischen Antisemitismus» in der Gegenwart und in europäischen Einwanderungsgesellschaften auslösen. Solche Debatten sind zu führen und in der Form, wie Brumlik sie vornimmt, auch sinnvoll möglich. Weniger strittig im Kontext der RLS dürften Brumliks Ausführungen zum rechten Antisemitismus sein (S. 82ff.). Brumlik formuliert dabei zum Vergleich von Antisemitismus und «heutiger Islamophobie»:
«Für eine strukturelle Ähnlichkeit des Antisemitismus im späten Kaiserreich mit der heutigen Islamophobie, für semantische Überschneidungen zwischen den Äußerungen Treitschkes und Thilo Sarrazins sowie auch Helmut Schmidts, liegen viele Indizien vor – Staatsanwälte würden von einem >begründeten Anfangsverdacht< sprechen.» (S. 85)
Brumlik plädiert abschließend dafür, «(…) die Perspektive einer universalistischen Bildung zu den Menschenrechten sowie zu einem im Zeitalter der UN-Konventionen auch effektiv gewordenen Weltbürgertum an[zu]streben.» (S. 99)
Dazu passt es, dass nun gerade in diesen Tagen rund um Achille Mbembe und die Ruhrtriennale wieder ein heftiger Streit in Deutschland entbrannt ist, in dem auch Micha Brumlik mit anderen im Sinne interveniert hat («Solidarität mit Achielle Mbembe»).[5]) Brumliks «Antisemitismus. 100 Seiten» ist nicht nur eine in ihrer hoch anspruchsvollen Knappheit gelungene Überblicksdarstellung, sondern auch eine gute Grundlage für etwas, das in verschiedenen «Lagern» so oft fehlt: eine auf Sorgfalt fußende, seriöse Debattenkultur, die eine andere Art von Kontroversen und Problembeschreibungen ermöglicht - und somit letztlich auch eine wirkungsvolle Bekämpfung jedes Antisemitismus.
[2] Z. B. Keßler, Mario, Antisemitismus, Zionismus und Sozialismus, Mainz 1993; ders., Zionismus und internationale Arbeiterbewegung 1897 bis 1933, Berlin 1994; Jacobs, Jack, Sozialisten und die „Jüdische Frage“ nach Marx, Mainz 1994.
[3] So etwa Timm, Angelika, Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997.
[4] Bundeszentrale für politische Bildung, https://m.bpb.de/308504.
[5] Siehe etwa diesen Aufruf: https://www.dropbox.com/s/idp56qbs3wh4k05/Aufruf%20-%20Solidarit%C3%A4t%20mit%20Achille%20Mbembe.pdf?dl=0&fbclid=IwAR2n2F_SkTE--cKjDQqs08x6d2Zl2UyLj5YSZ2Rh6Ppz7WjSCE10TRFF06E