Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Antisemitismus und Nahost global Moshe Zuckermann: «Antisemit!». Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Wien 2010.

Verdinglichte Antisemitismuskritik – Der Antisemitismusvorwurf als Herrschaftsinstrument: ein höchst wichtiges Korrektiv gegenüber einer Antisemitismuskritik, die außer Rand und Band geraten und zur Beliebigkeit verkommen ist.

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Autor

Peter Ullrich,

Moshe Zuckermann, Soziologe, Historiker und exponierter israelischer Vertreter der Kritischen Theorie, und mit seinen Positionen gerade zuhause oft Kämpfer auf verlorenem Posten, untersucht in seinem Buch, wie der notwendige kritische Diskurs über Antisemitismus, eine der verruchtesten modernen Ideologien, selbst in Ideologie umschlägt und zu einem «herrschaftlichen Bekenntnis» wird. Die schier unfassbaren Wirkungen des Antisemitismus in Auschwitz sorgten für eine «Antisemitismus-Rezeption nahezu vollständig in der Sphäre moralischer Entrüstung», in der sich die «Moral zur Worthülse verdinglichte». (S. 9)

Die Wirkungsweisen und Hintergründe dieses Prozesses untersucht er am Beispiel des israelischen und des deutschen Diskurses. Im israelischen Fall liegt der Fetischisierung des Holocaust ein Paradoxon zugrunde: Der Zionismus ist nicht ohne den Antisemitismus zu verstehen, der quasi axiomatischen Charakter für ihn hat und somit zur Staatsdoktrin wurde. Damit aber wurde auch die Erhaltung des Antisemitismus notwendig, solange das zionistische Projekt in seinem eigenen Anspruch noch nicht abgeschlossen ist – also solange noch Jüdinnen und Juden andere Antworten auf die Shoah finden, als nach Israel zu emigrieren.

In unserem Kontext interessiert jedoch mehr der zweite Teil des Buches, der, schlicht mit «Deutschland» überschrieben, hiesige Erinnerungsriten untersucht. Ausgangspunkt ist für Zuckermann die Verdinglichung der Beziehung zwischen Deutschland und dem Staat der Jüdinnen und Juden (durch schnelle Institutionalisierung & diskursive Formalisierung). Hier liegt der neuralgische Punkt, der positive Folgen zeitigen konnte (wenn beispielsweise die 68er sich gegen die Geschichtsvergessenheit der alten BRD auflehnten). Doch der Kampf gegen Antisemitismus sei mittlerweile zu einem Fetisch geronnen, der, von «scharfrichterlichen Gesinnungspolizisten» (S. 104) beliebig auf jede und jeden angewandt wird – um den Preis der Banalisierung des real existenten Antisemitismus.

Zuckermanns empirische Beispiele zeigen vor allem, dass dort, wo ein Antisemitismusvorwurf angebracht wird, häufig ganz andere und oft naheliegendere Deutungen möglich sind. Viele Beispiele entnimmt er dafür linksdeutschen Debatten wie der um die (verhinderte) Hamburger Aufführung des Claude-Lanzmann-Films «Warum Israel». Was die einen (nicht zuletzt die großen Medien) mit aller Macht als antisemitischen Akt denunzierten, sieht Zuckermann als symbolische Aktion mit ganz anderem Hintergrund. Die zur Verhinderung angetretenen Aktivist*innen nämlich errichteten eine Art Checkpoint vor dem geplanten Abspielort, um darauf aufmerksam zu machen, welcher Teil der Realität Israels, also die seit Jahrzehnten andauernde gewalttätige Besatzung der palästinensischen Gebiete, im Film komplett ausgespart bleibt.

Im Vergleich zwischen diesem oft auch als Zensur gebrandmarkten Vorfall mit der Verhinderung öffentlicher Auftritte von Norman Finkelstein (Autor des Buches «Die Holocaust-Industrie» und Kind von Holocaust-Überlebenden) zeigt Zuckermann auf, wie der deutsche Diskurs Jüdinnen und Juden zu unantastbaren Symbolen überhöhen kann (wenn sie legitim in das hegemoniale Erinnerungsarrangement eingepasst werden können), «ideologisch unverträglichen Juden» (S. 171) jedoch leichtfertig jede Legitimität (oder gar ihre Lebensgeschichte) abgesprochen wird, denn, so Zuckermann, um reale Jüdinnen und Juden gehe es den Debattierenden ohnehin nie.

Er zeigt, dass besonders die Linke von dieser neuen Qualität und Quantität der Beliebigkeit des Antisemitismusvorwurfs betroffen ist – als Opfer falscher Anschuldigungen, wie auch selbsttätig im vorauseilenden Gehorsam in Unterwerfung unter deutsche Diskursrituale, die die Voraussetzung für eine Etablierung im politischen Mainstream darstellen. Besonders betont er die Nichtidentität von Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik, die mit unterschiedlichsten Kombinationen von Motiven und Zielen einhergehen können. Antisemitismus kann sich zwar, muss sich aber nicht, in Israelkritik ausdrücken. Letztere sieht Zuckermann insbesondere im gewalttätigen Besatzungsregime begründet. Dass auch dessen Kritik zu ideologisierten Ressentiments führen kann, bestreitet er nicht. Diese unterschieden sich jedoch in der Essenz vom Antisemitismus westlicher Prägung.

Zuckermanns Bestreben, die zur Ideologie geronnene falsche Antisemitismuskritik zu kritisieren, führt leider gelegentlich auch dazu, dass schlicht eine entgegengesetzte Deutung vorgelegt wird und reale Komplexität, also die Verwobenheit verschiedener Momente (bspw. antisemitischer und nicht antisemitischer), kaum Raum findet oder gar vertiefend erörtert wird. Um wortgewaltige Deutungen und anschauliche Beispiele zu bekommen, muss man sich durch einen in Zuckermann'scher Manier verfassten, ingesamt also recht schwer verdaulichen Text hin durcharbeiten, der von Verklausulierungen, einer Konjunktivinflation und gestelzten Endlossätzen in Adorno'schem Sprachduktus nur so strotzt. Der Klarheit der Argumente dient dies nicht unbedingt.

Und doch ist das Buch höchst wichtig als Korrektiv gegenüber einer Antisemitismuskritik, die außer Rand und Band geraten und zur Beliebigkeit verkommen ist. Deutlich systematischere Untersuchungen könnten, durch diesen umfangreichen Essay inspiriert, angegangen werden.
 


Zuckermann, Moshe: «Antisemit!». Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, 2., unveränd. Aufl., Wien 2010: Promedia-Verlag (208 S., 15,90 €).