Gine Elsner hat erneut eine hochinteressante Studie zur Geschichte der Medizin des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Die Autorin – Medizinerin, Soziologin und Historikerin, langjährige Ordinaria für Arbeitsmedizin der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, seit 2009 im Ruhestand – hat bereits zahlreiche Biographien zu disziplinprägenden Arbeits- und Sozialmedizinern veröffentlicht, zunächst zu solchen, die nationalsozialistischem Gedankengut nahe standen. Zunehmend stieß sie bei ihren Recherchen aber auf Vertreter des Faches, denen eine andere Sicht auf Mensch, Arbeit und Gesellschaft zueigen war: auf jüdische Ärzte, die bis heute aus dem kollektiven Gedächtnis der Medizin und der Wissenschaftsgeschichte gestrichen sind.
Dr. Wolfgang Hienlebt in Bremen. Er ist Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler. Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Körpergeschichte der Industriearbeit und verwandte Themen, insbes. jüdische Intellektuelle gegen Ausbeutung und Sozialdarwinismus.
Hier hatten die Nazis sozusagen ganze Arbeit geleistet. Elsner war, nachdem sie nach Frankfurt berufen worden war, verwundert und irritiert, dass über die in der Stadt tätigen jüdischen Ärzte so gut wie nichts bekannt war und dass auch die öffentlichen Institutionen nichts taten, sich jener zu erinnern. Elsner wollte sich damit nicht zufrieden geben und begab sich in die Archive, in die Nachlässe – auf die Spuren der vertriebenen und ermordeten Vorgänger ihres Faches, bedeutender Ärzte und Wissenschaftler, die so viele Jahrzehnte völlig vergessen waren. Dass die Nationalsozialisten und mit ihnen auch die im Nachkriegsdeutschland meinungsbildenden Konservativen die Geschichte
der jüdischen Ärzt/innen verdrängten und verleugneten, lag zum einen am weiterschwelenden Antisemitismus, zum anderen aber auch an der Tatsache, dass viele jüdische Ärzte zu sozialdemokratischen und sozialistischen Positionen tendierten. Diese Besonderheit lag darin begründet, dass jene aufgrund ihrer eigenen Lage ein Verständnis
für andere sozial oder kulturell diskriminierte Gruppen entwickelten.
Am Rande angemerkt: Was Elsner nicht diskutiert, ist die besondere jüdische Sozialethik, die Empathie für Marginalisierte ausdrücklich einfordert.
Die vollständige Rezension im PDF. Sie erschien zuerst in Heft 23 (2018) von Sozial Geschichte Online.
Gine Elsner: «Verfolgt, vertrieben und vergessen» – Drei jüdische Sozialhygieniker aus Frankfurt am Main: Ludwig Ascher (1865–1942), Wilhelm Hanauer (1866–1940), Ernst Simon (1898–1974); VSA-Verlag, Hamburg 2017, 334 Seiten, 24,80 Euro.