Nachricht | Rassismus / Neonazismus - Parteien / Wahlanalysen - Westafrika - Ostafrika Der neue Kolonialrevisionismus der AfD

Mit einer angeblich «objektiven» Sichtweise sollen koloniale Verbrechen relativiert werden.

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Robert Heinze,

«Askarikapelle» im damaligen Deutsch-Ostafrika (Foto von Walter Dobbertin, zwischen 1906 und 1918): An den Topos der so genannten «Zivilisierungsmission» knüpft auch der heutige Kolonialrevisionismus wieder an. CC BY-SA 3.0, Bundesarchiv, Bild 105-DOA0194

Humboldtforum, Restitutionen, Reparationen, «zweiter Historikerstreit»: Die deutsche Kolonialgeschichte steht neuerdings wieder im Fokus wichtiger geschichtspolitischer Debatten. Selbst in der Diskussion um die Frage, wie autoritär oder wie demokratisch das Kaiserreich war, spielt sie eine nicht unwesentliche, wenn auch nicht immer offen verhandelte Rolle. Umso erstaunlicher scheint zunächst, wie oberflächlich und auf wenige Ereignisse reduziert die Kolonialherrschaft der Deutschen in Namibia, Kamerun, Ruanda, Togo, Tansania, Qingdao sowie Gebieten von Papua-Neuguinea und der Südsee in weiten Teilen der Öffentlichkeit immer noch betrachtet wird. Der deutsche Kolonialismus steht der Kolonialherrschaft anderer Mächte wie Frankreich, England oder Belgien an Brutalität und Ausbeutung in nichts nach. Mit dem inzwischen auch von der deutschen Regierung anerkannten Völkermord an den Herero und Nama zeichnet er für eines der berüchtigtsten und brutalsten Beispiele kolonialer Gewalt verantwortlich. Während hierüber in einigen Kreisen Konsens herrscht, wird viel zu wenig darüber gesprochen, wie stark auch der koloniale Alltag, egal in welchem Kolonialreich, von kultureller Demütigung, politischer und sozialer Diskriminierung, struktureller und tätlicher Gewalt geprägt war und wie tiefgreifend die Auswirkungen dieser Gewalt auf Gesellschaften im globalen Süden bis heute sind.

Robert Heinze ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Afrika am Deutschen Historischen Institut Paris. Er forscht zur afrikanischen Zeitgeschichte mit Fokus auf Medien- und Technikgeschichte. Sein aktuelles Projekt beleuchtet die Geschichte der informellen Wirtschaft in afrikanischen Städten am Beispiel des ÖPNV.

Gleichzeitig entwickelt sich im Windschatten dieser Debatten ein neuer Kolonialrevisionismus, der teils an internationale rechte Diskurse anschließt und insbesondere von der Partei Alternative für Deutschland (AfD) gepflegt wird. Zwar ist die offene Kolonialapologie kein zentrales Thema der Partei, aber sie wird von prominenten Kadern vertreten und verbindet sich mit einigen der Kernthemen der AfD, vor allem in Bezug auf Migrations-, Entwicklungs- und Außenpolitik. Zudem schließt die Partei an einen globalen Diskurs an, der auch zur Integration in internationale Netzwerke der extremen Rechten dient (Heinze 2020). Mit einer potenziellen Bundesförderung in Millionenhöhe, die die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung nach der Wahl für Bildungsarbeit und Forschung in ihrem Sinne nutzen will, könnte dieser Kolonialrevisionismus auch in der deutschen Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit erlangen.

Vordenker des Kolonialrevisionismus

Eine breitere Öffentlichkeit wurde im Dezember 2019 mit dem Kolonialrevisionismus der AfD konfrontiert, als mehrere Medien über den Auftritt des US-amerikanischen Politologen Bruce Gilley in den Räumen der AfD im Bundestag berichteten. Gilley war zu diesem Zeitpunkt prominenter Vertreter einer Strömung (bestehend aus einigen britischen und US-amerikanischen Professoren), die einen antikolonialen akademischen «Mainstream» ausmachten, gegen den sie eine angeblich «objektive» Sicht auf den Kolonialismus setzten. Gilley war es 2017 gelungen, trotz zweier negativer Begutachtungsrunden einen Artikel in der wissenschaftlichen Zeitschrift Third World Quarterly zu platzieren. Unter dem programmatischen Titel «The Case for Colonialism» (Gilley 2017) argumentierte er nicht nur, kolonisierte Gesellschaften hätten von der Kolonialherrschaft profitiert, sondern er plädierte auch offen für neue Formen kolonialer Herrschaft und für die Fortsetzung der westlichen «Zivilisierungsmission». In seinem Vortrag vor Vertreter*innen der AfD 2019 ging er noch weiter, indem er den deutschen Kolonialismus als besonders erfolgreich und entwicklungsfördernd hervorhob. Inzwischen hat Gilley diese Behauptungen in einem beim rechten Verlag Manuscriptum veröffentlichten Buch noch weiter ausgebaut (Gilley 2021).

Am Tag von Gilleys Vortrag reichte die Bundestagsfraktion der AfD zudem einen Antrag mit dem Titel «Die deutsche Kolonialzeit kulturpolitisch differenziert aufarbeiten» (AfD 2019) ein. Wie Gilleys Vortrag kann dieser Antrag als aktuell programmatisch für die Haltung der AfD zur deutschen Kolonialgeschichte und ihrer Erinnerungspolitik betrachtet werden; beide weisen ähnliche Topoi und argumentative Strategien auf.

Die AfD übernimmt also Themen und Argumentationsweisen einer kleinen, aber nicht unwichtigen und in einigen Fällen publizistisch wirksamen kolonialrevisionistischen Strömung. Gilley ist aktuell nicht der einzige prominente Akademiker, der für eine angeblich objektive, «ausgeglichene» Sicht auf die Kolonialgeschichte plädiert. So sorgte auch der Oxforder Theologe Nigel Biggar mit seinem Projekt «Ethics and Empire» in den letzten Jahren immer wieder für Aufmerksamkeit. Auch der deutsche emeritierte Althistoriker Egon Flaig ist zum Stichwortgeber eines den Kolonialismus nicht nur verharmlosenden, sondern als positives Entwicklungsprojekt im Geiste der Aufklärung bewertenden neuen Diskurses geworden. Auch aus diesen Arbeiten bedient sich die AfD, die nicht nur Gilley, sondern auch Flaig schon mehrfach zu Kooperationen einlud, zuletzt als Sachverständigen für den Bundestagsausschuss Kultur und Medien.[1]

Topoi des kolonialrevisionistischen Diskurses

Viele der Topoi in diesem Diskurs gleichen sich, werden von den unterschiedlichen Akteur*innen immer wieder aufgenommen und neu verarbeitet. Einige greifen wesentlich ältere kolonialrevisionistische Diskurse auf. Besonders Gilley macht diese Übernahme ganz explizit, indem er sich zustimmend auf prominente Akteure des Weimarer Kolonialrevisionismus wie Heinrich Schnee bezieht. Die Vorgehensweise ähnelt anderen Bezugnahmen auf reaktionäre Strömungen der Weimarer Republik, insbesondere der in der Neuen Rechten beliebten Referenz auf die sogenannte Konservative Revolution (vgl. Weiß 2017; Abermeth 2017).

Die im kolonialrevisionistischen Diskurs aufgerufenen Topoi teilen sich in drei Felder. Erstens wird der Kolonialismus als legitimes Projekt dargestellt, oft unter Rückgriff auf koloniale Propaganda. Dazu gehören die Begründung durch den Kampf gegen die Sklaverei, der Verweis auf die «Zivilisierungsmission» (vgl. Barth/Osterhammel 2005) sowie auf die kolonialrevisionistische Propaganda der Weimarer Republik. So greifen Autoren wie Gilley oder Björn Höcke beispielsweise auf den Mythos der Askaritreue zurück – die angebliche Treue afrikanischer Kolonialsoldaten zu ihren deutschen Vorgesetzten im Ersten Weltkrieg, mit denen sie bis nach der Kapitulation des Kaiserreichs kämpften – und behaupten eine besondere Beliebtheit der deutschen Kolonialherren in Afrika (Hennig/Höcke 2018: 191 f.).

Zweitens wird koloniale Gewalt wenn nicht geleugnet, so doch heruntergespielt und in ihrer Bedeutung stark relativiert. In der Version der Kolonialrevisionisten wird sie oft auf eine erste Phase der Eroberung beschränkt und ist für sie ordnungsstiftende (geradezu rechtsetzende) Gewalt (Flaig 2018: 216). Koloniale Eroberungskriege und Aufstandsbekämpfung, selbst die Systeme der Zwangsarbeit werden mit der «Zivilisierungsmission» gerechtfertigt (ebd.: 213–215). Gilley rechnet den Völkermord in Namibia gegen den Rest der deutschen Kolonialherrschaft auf – und zwar wortwörtlich, indem er behauptet, die deutsche Kolonialpräsenz habe nach der Anzahl an «Lebensjahren» der Kolonisierten in Deutsch-Südwestafrika nur zwei Prozent ausgemacht. Er lehnt die Bezeichnung «Völkermord» ab und stellt die Geschehnisse als Taten eines einzelnen «kriegstraumatisierten Außenseiters», des Oberbefehlshabers und Gouverneurs Deutsch-Südwestafrikas, Lothar von Trotha, dar. Die Autor*innen des oben erwähnten AfD-Antrags behaupten, nach 1907 sei die deutsche Kolonialherrschaft ohne Gewalt ausgekommen und habe sich um den friedlichen Aufbau von Schulen sowie medizinischer und technischer Infrastruktur gekümmert (AfD 2019: 4).[2]

Um schließlich drittens diese revisionistische Version der Kolonialgeschichte zu legitimieren, muss sie gegen überwältigende Evidenz der historischen Forschung verteidigt werden. Dies tun ihre Fürsprecher*innen durch selektives Zitieren aus aktuellen wissenschaftlichen Arbeiten bei gleichzeitiger Denunzierung der Forschung insgesamt als von «postkolonialen» und «kulturmarxistischen» Ideologien dominiert und deswegen einseitig den Kolonialismus verdammend (ebd.: 7). Gilley und Höcke treiben diese Interpretation noch weiter und sprechen von einer «kolonialen Schuldlüge» (Gilley 2019, einen revisionistischen Titel von Heinrich Schnee zitierend) bzw. einer «Kolonialismus-Keule» (Henning/Höcke 2018: 190), die die Erinnerung an den Kolonialismus heute dominiere.

Kolonialrevisionismus als Wahrung nationalistischer Tradition

Im letzten Punkt wird deutlich, wozu der Kolonialrevisionismus gerade den Rechten dient: Die kolonialen Verbrechen der Deutschen stören den positiven Rückbezug auf das Kaiserreich und die völkische Bewegung in der Weimarer Republik. Dieser Rückbezug dient ihnen als Ausweicherinnerungsort, der es erlaubt, sich in der Öffentlichkeit in eine reaktionäre, nationalistische Traditionslinie zu stellen, die den Holocaust überspringt. Er taugt auch zum Angriff auf deutsche Geschichts- und Erinnerungspolitik insgesamt. In einer Beratung des Bundestags zu Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen und der AfD zur Frage der Restitution geraubter Kulturgüter spricht der AfD-Abgeordnete Marc Jongen im November 2020 von einem «undifferenzierte[n] Schuldnarrativ in Bezug auf die gesamte deutsche Geschichte». Dieses sei die «Maxime grün-linker Gedächtnispolitik», in der «alle deutsche Staatlichkeit und Kultur konsequent auf das Dritte Reich und seine Verbrechen zuläuft» (Deutscher Bundestag 2020a; vgl. Deutscher Bundestag 2020b).

Über diese inhaltliche Neuauflage alter kolonialer Propaganda und Anschlüsse an aktuelle Debatten hinaus eint die heutigen Kolonialrevisionisten aber vor allem ihre Inszenierung als Kämpfer für eine angeblich «objektive» Sicht auf den Kolonialismus. Sie behaupten, der akademische Mainstream sei links und antikolonial und priorisiere seine ideologische Vorprägung gegenüber dem Interesse an historischer Erkenntnis. Dem setzen sie eine angeblich objektive Methode entgegen, die die «guten» und «schlechten» Aspekte des Kolonialismus gegeneinander abwäge. Diese «ausgeglichene» Sicht auf den Kolonialismus sei komplexer und differenzierter als eine einseitige, moralisierende Verdammung. Damit beanspruchen die Kolonialrevisionisten eine historische Methode für sich, die sie dem Gros akademischer Historiker*innen absprechen. Dabei sind sie selbst diejenigen, die in mechanistischen und moralisierenden Kategorien (wie «gute» und «schlechte» Seiten des Kolonialismus) argumentieren und versuchen, diese Kategorien der Debatte aufzuzwingen.

«Bilanzierung» als Methode

Den Begriff des balance sheet für diese Methode brachte der Historiker Niall Ferguson in einem Interview mit dem britischen Guardian 2006 auf, indem er sein Projekt einer Verteidigung des Erbes des British Empire gegen eine angebliche linke Diskursübermacht beschrieb: «[...] all I did was to create a balance sheet which showed that some good things emerged alongside the bad» (Crace 2006). Gilley brachte diesen Ansatz direkt mit nach Deutschland: Sein Vortrag vor der AfD trägt den Titel «Die Bilanz des deutschen Kolonialismus» (Gilley 2019). Diese Rahmung passt der AfD sehr gut in ihr geschichtspolitisches Konzept. Die Partei beklagt schließlich schon länger auch in geschichtspädagogischen Debatten eine angebliche einseitige Betonung der NS-Verbrechen und will (damals noch mit ihrem Sachverständigen Egon Flaig) mehr «positive Aspekte» der deutschen Geschichte in der Erinnerungspolitik berücksichtigt wissen (Jongen 2019). In ihrem Antrag vom Dezember 2019 fordert die AfD, die «gewinnbringenden Seiten der deutschen Kolonialzeit» mittels einer eigenen Bundesstiftung in die Erinnerungspolitik zu integrieren, und stellt einer angeblich kulturmarxistisch inspirierten «normativen Vergangenheitsdeutung» im Stile Biggars eine «differenzierte» Aufarbeitung entgegen (AfD 2019: 2).

Die Problematik der «Bilanz» für Debatten um koloniale Gewalt und die Frage, wie ihrer am besten zu gedenken sei, zeigt sich in der Reaktion auf den beschriebenen Kolonialrevisionismus. Denn eine Antwort auf die Relativierungen, Apologetik und den Revisionismus, die allein die «schlechten» Seiten des Kolonialismus betont, greift zu kurz. Tatsächlich geschieht dies aber teilweise in aktuellen Debatten. Die Historikerin Claudia Gatzka (2021) hat anlässlich der Diskussionen um die Frage einer «positiveren» Neubewertung des Kaiserreichs eine «Tendenz zum Chiaroscuro» – zur Hell-Dunkel-Malerei – auf beiden Seiten kritisiert. «Das deutsche Kaiserreich» als Ganzes zu bewerten, gelte in der Geschichtswissenschaft eigentlich als methodisch unzulänglich, in öffentlichen Diskussionen griffen aber auch in ihrer Rolle als wissenschaftliche Expert*innen wahrgenommene Historiker*innen auf solche Bewertungen zurück. Ähnliches geschieht in den Debatten um die Kolonialgeschichte. In einer Rezension von Priya Satias Buch «Time’s Monster. History, Conscience and Britain’s Empire» (2020) erklärt der Historiker Kim Wagner das Problem mit dieser Reaktion: «This critique simply tallies the balance-sheet differently, with imperialism coming up short, but does not ultimately challenge the basic premise of historical judgement.» (Wagner 2021)

Satia (2020) verortet die Wurzeln des «balance sheet» in der aufgeklärten Historiografie des 19. Jahrhunderts selbst. Diese habe wesentlich zur imperialen Eroberung beigetragen, indem sie als Schule der Moral agierte, die es Imperialist*innen erlaubte, ihre Handlungen im Sinne eines guten größeren Ganzen zu konzeptualisieren. Ideen der Aufklärung von linearer Zeit, von Fortschritt und Geschichte als einer in sich selbst moralischen Kraft, die unwiderstehlich vorwärts treibe, bildeten den Unterbau des «liberal empire» (ebd.: 28, 77–85). Kriege, Hungersnöte und Massaker sind in diesem Narrativ «Kollateralschäden» (Wagner 2021; eigene Übersetzung) der Geschichte. Vor diesem Hintergrund zeigt sich das Problem einer «Bilanzierung» des Kolonialismus: Alles, was auf der «schlechten» Seite steht, wird nicht einfach durch die «guten» Seiten aufgehoben, sondern waren notwendige Nebeneffekte, um das «gute» Werk der Zivilisierungsmission, der Abschaffung der Sklaverei, des Baus von Eisenbahnen, der Einführung eines «Rechtsstaats» zu vollbringen – die Geschichte, so könnte man Fergusons und Biggars Position beschreiben, habe den Kolonisator*innen «unterm Strich» Recht gegeben.

Dementsprechend ist es nur wenig zielführend, den «Bilanzierer*innen» mit Abhandlungen über die Gewalt der kolonialen Eroberung und Herrschaft zu antworten, zumal dabei oft der Fehler begangen wird, extreme Ereignisse ins Zentrum der Analyse zu stellen und damit tendenziell die alltägliche Gewalt und Demütigung, die den Kolonisierten angetan wurde, sowie die gesellschaftszerstörenden Effekte jenseits des (oft relativ kleinen) Bereichs direkter kolonialer Intervention auszublenden (vgl. Hunt 2016; Vansina 2010). Jenseits einzelner, auch extrem gewalttätiger, Episoden war die koloniale Herrschaft an sich gewaltförmig, da sie afrikanische Gesellschaften destabiliserte, umwälzte und ihre Institutionen auf prägende Art umstrukturierte. Der Prozess der Kolonisierung allein zeitigte Welleneffekte, die auch Gesellschaften außerhalb des direkten kolonialen Einflussbereichs der Gewalt aussetzte, wie zum Beispiel Jan Vansina (2010) gezeigt hat. Zudem machen viele Werke deutlich, wie sehr der koloniale Alltag von ständiger Demütigung und Gewalt geprägt war. Auch in vielen Regionen, in denen die koloniale Herrschaft schwach ausgeprägt war, wirkte sie sich gesellschaftlich und politisch aus. Die politischen Institutionen des Kolonialstaats selbst, wie Mahmood Mamdani in seinem inzwischen zum Klassiker avancierten Werk «Citizen and Subject» darlegte, waren geprägt von rassistischer Segregation und einem «dezentralen Despotismus» (Mamdani 2018). Die ungleiche Position, in der der Kolonialismus afrikanische Staaten in ein kapitalistisches Weltsystem integrierte, ist von Samir Amin bis Walter Rodney von vielen aufgezeigt worden. Nicht einzelne Effekte des Kolonialismus machten ihn zu einem Unrechtssystem, der Kolonialismus war selbst eines.

Die «Methode» der Bilanzierung drängt ihren Gegner*innen eine moralisierende, mechanistische Sichtweise erst auf, um sie dann auf sie zu projizieren und sich selbst als «objektiv» zu inszenieren. Der Versuchung des «Chiaroscuro» gilt es aber zu widerstehen, auch und gerade in öffentlichen Debatten. Auf der Komplexität so tiefgreifender historischer Prozesse wie der Kolonisierung weiter Teile der Welt durch europäische Mächte zu bestehen, sollte nicht zu banalen Diagnosen der «Ambivalenz» führen, die relativierend «helle und dunkle Seiten» konstatieren. Stattdessen gilt es, an der Komplexität und Widersprüchlichkeit der kolonialen Erfahrung und den Reaktionen darauf festzuhalten. Um dies auch in öffentlichen Geschichtsdebatten tun zu können, ist empirische Konkretheit und Spezifizierung vonnöten. Es gibt keine sinnvolle historische Bewertung «des Kolonialismus» als Ganzes. Nichtsdestotrotz bleibt die grundlegende Erkenntnis, dass der Kolonialismus zuallererst ökonomisch ein Ausbeutungsverhältnis darstellte und sozial wie kulturell eine massive Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen herbeiführte, die afrikanische Gesellschaften bis heute prägt.

Literatur

Abermeth, Katharina (2017): Heinrich Schnee. Karrierewege und Erfahrungswelten eines deutschen Kolonialbeamten, Kiel.

AfD (2019): Die deutsche Kolonialzeit kulturpolitisch differenziert aufarbeiten. Antrag Fraktion der AfD, BT-Drucksache 19/15784 vom 11.12.2019, unter: https://dip.bundestag.de/vorgang/.../256669.

Barth, Boris/Osterhammel, Jürgen (Hrsg.) (2005): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Historische Kulturwissenschaften Bd. 6, Konstanz.

Brodkorb, Matthias (2021): Er spräche selbst mit dem Teufel, in: FAZ, 15.4.2021, 6.

Crace, John (2006): Niall Ferguson: Unforgiven, unrepentant, in: The Guardian, 30.5.2006, unter: www.theguardian.com/education/2006/may/30/academicexperts.highereducationprofile.

Deutscher Bundestag (2020a): Plenarprotokoll 19/192, 19.11.2020, 24231.

Deutscher Bundestag (2020b): Antrag der Fraktion der AfD: Restitution von Sammlungsgut aus kolonialem Kontext stoppen, Drucksache 19/19914, 4.

Flaig, Egon (2018): Weltgeschichte der Sklaverei, München.

Gatzka, Claudia C. (2021): «Das Kaiserreich» zwischen Geschichtswissenschaft und Public History, in: Merkur 866, unter: www.merkur-zeitschrift.de/2021/06/30/das-kaiserreich-zwischen-geschichtswissenschaft-und-public-history.

Gilley, Bruce (2017): The case for colonialism, in: Third World Quarterly, 8.9.2017, unter: www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/01436597.2017.1369037.

Gilley, Bruce (2019): «Why the Germans do not have to apologize for the colonial period». Vortrag im Bundestag, in: Deutschland Kurier, 3.12.2019, unter: www.web.pdx.edu/~gilleyb/DK_Vortrag%20von%20Kolonialismus-Experten%20im%20Bundestag.pdf.

Gilley, Bruce (2021): Verteidigung des deutschen Kolonialismus, Lüdinghausen: Manuscriptum.

Heinze, Robert (2020): Colonial revisionism; German edition, in: Africa Is a Country, 22.1.2020, unter: https://africasacountry.com/2020/01/colonial-revisionism-in-germany.

Hennig, Sebastian/Höcke, Björn (2018): Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig, Lüdinghausen: Manuscriptum.

Hunt, Nancy R. (2016): A Nervous State. Violence, Remedies, and Reverie in Colonial Congo, Durham/London.

Jongen, Marc (2019): Die Gedächtnispolitik muss auch positive Aspekte der deutschen Geschichte umfassen, 22.1.2019, unter: https://afdbundestag.de/jongen-die-gedaechtnispolitik-muss-auch-positive-aspekte-der-deutschen-geschichte-umfassen/.

Mamdani, Mahmood (2018): Citizen and Subject. Contemporary Africa and the Legacy of Late Colonialism, Princeton.

Satia, Priya (2020): Time’s Monster. How History Makes History, London.

Vansina, Jan (2010): Being Colonized. The Kuba Experience in Rural Congo, 1880–1960, Madison.

Wagner, Kim A. (2021): Review of Priya Satia «Time’s Monster: History, Conscience and Britain’s Empire» (Allen Lane, 2020), in: Medium, 8.2.2021, unter: https://kim-ati-wagner.medium.com/?p=d08b965abbb4.

Weiß, Volker (2017): Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart.


[1] Nach eigenen Angaben nimmt Flaig seit Mitte 2019 keine Einladungen der AfD mehr an, da er den «dominierenden Einfluss des Höcke-Flügels» und dessen ethnopluralistische Ideen ablehne (vgl. Brodkorb 2021).

[2] Ein Beispiel, das diese Behauptung widerlegt, findet sich im Bundesarchiv.