Streiten um Erinnerung(en)

Überlegungen zu einer postkolonialen Debatte

«Was heißt es, in den Mythen und Traditionen anderer zu leben? Was passiert, wenn man merkt, dass diese Mythen und Träume, die man für Wahrheiten hielt, sich als Legenden erweisen? Lehnt man sie komplett ab, oder übernimmt man sie in der Hoffnung, dass sie die Existenz in einer lebensbejahenden Weise orientieren? Jeder Kolonisierte stellt sich diese Fragen. Sie sind nicht abstrakt. Sie bestimmen unsere Existenz.» 

–Achille Mbembe, «Brief an die Deutschen»

Vandalisierte Statue des belgischen Kolonialisten Émile Storms in Brüssel, Juni 2020. picture alliance / NurPhoto | Jonathan Raa

Beiträge zur «Causa Mbembe»

von Florian Weis

Im April 2020 entbrannte, ausgehend von einer scharfen Kritik des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, an der Einladung des kamerunischen Historikers Achille Mbembe als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale, eine heftige Debatte in Deutschland. Klein warf Mbembe antisemitische Positionen vor, was er an dessen Kritik an Israel, einer Befürwortung der BDS-Kampagne und anderen Aussagen festmachte. In der folgenden Debatte, die sich im weiteren zeitlich und teilweise auch inhaltlich mit der nun auch in Deutschland, Großbritannien und einigen anderen europäischen Ländern erstarkten «Black Lives Matter»-Bewegung überschnitt, kreuzten sich so zunehmend postkoloniale, antirassistische und anti-antisemitische Zugänge und Positionierungen.

Florian Weis ist Historiker (Schwerpunkte Neuere und Neueste Britische und Deutsche Geschichte) und arbeitet in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Darin liegen Chancen, wenn etwa eine zuweilen zu enge deutsche oder europäische Perspektive in Bezug auf verschiedene Formen von Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung sowie auf Genozide erweitert werden kann. Allerdings ist es nicht per se kritikwürdig und problematisch, wenn eine Debatte in Deutschland und anderen Ländern Europas, in denen der Antisemitismus am heftigsten wütete, diesen Antisemitismus und die eigene deutsche und europäische Erfahrung in den Vordergrund einer selbstkritischen Bearbeitung rückt. Genauso wenig ist es kritikwürdig, wenn diskriminierungskritische Impulse etwa in Afrika von der eigenen kolonialen und postkolonialen Ausbeutung und Erfahrung ausgehen. Allzu leicht aber entsteht dann jene Situation, die mit dem bösen Wort der „Opferkonkurrenz“ beschrieben wird. Michael Rothberg hat dazu angemerkt:

Wenn Erinnern an Kolonialismus, Besatzung, Sklaverei und den Holocaust in multikulturellen Gesellschaften der Gegenwart aufeinanderprallen, muss daraus notwendigerweise Opferkonkurrenz entstehen? ... Ich argumentiere gegen eine auf dem Nullsummenspiel beruhende Logik der Opferkonkurrenz, die viele populäre und wissenschaftliche Zugänge zu einer öffentlichen Erinnerungskultur dominiert hat. Ihrem Verständnis nach verdrängen sich Erinnerungen gegenseitig aus dem öffentlichen Raum – so wird beispielsweise gesagt, dass eine Überbetonung des Holocaust andere Traumata marginalisiert, oder umgekehrt, so heißt es, wenn im Sprechen über diese anderen Traumata die Rhetorik des Holocausts übernommen wird, wird dessen Singularität relativiert, wenn nicht sogar negiert.

Damit einher geht für Deutschland die Notwendigkeit einer angemessenen Weiterentwicklung der Erinnerungskultur, die in Bezug auf die Nazi-Herrschaft und die Shoah nicht nur dem mittlerweile fast völligen Fehlen von überlebenden NS-Opfern Rechnung tragen muss, sondern auch der Veränderung Deutschlands hin zu einem in den letzten Jahren diverser gewordenen Einwanderungsland. Diesen Veränderungen Rechnung zu tragen, bedeutet nicht, die Shoah und die zahlreichen anderen Verbrechen Nazi-Deutschlands zu relativieren, auch wenn eine solche Haltung bedauerlicherweise manchmal zu spüren ist. Vielmehr geht es darum, sich neue Kontexte zu erschließen, Zugänge zu erweitern, Geschichte von Gewalt und Verbrechen in Beziehung zueinander setzen zu können, ohne dabei Unterschiede auszuradieren.  

Schwieriger noch wird die Debatte, wenn sie nicht sogar verunmöglicht wird, wenn allzu schnell zahlreiche Vorbedingungen aufgestellt werden. Sicherlich besteht in einem Umfeld, in dem sich etwa die Rosa-Luxemburg-Stiftung bewegt, Einigkeit darüber, dass bestimmte Standpunkte, etwa eine Relativierung und Verharmlosung der Shoah, keinerlei Anspruch auf eine Debattenberücksichtigung haben. Doch wo sind die Grenzen zu ziehen?

Wenn sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung in erster Linie mit Achille Mbembe und erst in zweiter Hinsicht mit der Debatte um ihn in Deutschland in diesem Frühjahr befasst, dann bedeutet dies nicht, dass alle Akteur*innen in ihrem Umfeld sich durchweg positiv auf Mbembe beziehen. Als Stiftung mit dem Untertitel „Gesellschaftsanalyse und politische Bildung“ müssen, können und wollen wir Differenzen aushalten und sie nach Möglichkeit so aufbereiten, dass ein – auch streitbarer – Dialog möglich wird.

Das ist in vielen Debatten leichter proklamiert als getan. Dabei kann es nicht darum gehen, überspitzt formuliert, Antisemitismus gegen Rassismus aufzurechnen oder gegeneinander auszuspielen, oder Misogynie und Antifeminismus gegen Klassismus. Was versucht werden soll, ist dies: Widersprüche und Ambivalenzen zunächst auszuhalten, um sie dann, idealerweise, in gemeinsamen emanzipatorischen Perspektiven zu verbinden und aufzulösen: Solidarity across difference[s].[1]

Auf dem (vorläufigen) Höhepunkt der britischen BLM-Proteste und der Debatte um die britische Kolonialvergangenheit und ihren Ausdruck in der Erinnerungskultur plädierte der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan (Labour Party) genau dafür: Widersprüche zur Kenntnis zu nehmen und in bestimmten Fällen auszuhalten. Er verwies dabei auf so unterschiedliche Personen wie Winston Churchill, Mahatma Gandhi und Malcolm X:

Auf Nachfragen im britischen Nachrichtensender Sky News, wo genau die Grenze zu ziehen sei, wo doch Winston Churchill einige rassistische Ansichten vertreten hatte, legte Khan dar, dass Churchill, Gandhi oder MalcomX erkennen lassen, dass historische Figuren nicht perfekt waren und Geschichte „mit all ihren Fehlern und Schwächen“ gelehrt werden sollte. Allerdings, so der Bürgermeister, gab es eindeutig Figuren, wie jene die aktiv am Sklavenhandel beteiligt und Sklavenhalter waren, die nicht gepriesen werden sollten.

 Winston Churchill etwa, Großbritanniens konservativer Premierminister im Zweiten Weltkrieg, wechselte in seiner langen Laufbahn nicht nur mehrfach die Partei und auch die Meinungen. Er steht für einen tatsächlich konsequenten Kampf gegen Nazi-Deutschland und damit auch dessen antisemitischen Völkermord und Vernichtungskrieg. Gleichzeitig war er aber auch unwillig und unfähig, zu erkennen, dass die Herrschaft Großbritanniens gegenüber Indien und anderen Ländern ebenso imperialistisch wie amoralisch und schließlich auch realpolitisch unhaltbar war. Über die Frage, in welchem Ausmaße Karl Marx und Friedrich Engels, um näher im Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu schauen, von antisemitischen und rassistischen Vorurteilen beeinflusst waren, gibt es nicht erst im Jahre 2020 kontroverse Einschätzungen.

Darüber hinaus, darauf haben Micha Brumlik, Wolfgang Benz, Eva Illouz, Moshe Zimmermann, Susan Neiman und andere in ihrem Aufruf im Mai 2020 hingewiesen, geht es in der Mbembe-Kontroverse auch um die Grundlagen wissenschaftlicher Debatten an sich:

Geschichte als wissenschaftliche Disziplin kommt jedoch ohne analytische Vergleiche nicht aus. Ohne die vergleichende Betrachtung wäre ein Erkenntnisgewinn in der Geschichtswissenschaft, wie in den meisten anderen Wissenschaftsdisziplinen, grundsätzlich nicht möglich. Unseren Kollegen dafür der Verharmlosung der Shoa oder gar Gleichsetzung des Genozids an den europäischen Jüdinnen und Juden mit dem rassistischen Regime Apartheid-Südafrikas zu bezichtigen, stellt eine fundamentale Grundlage der Wissenschaft in Frage und ist deshalb falsch. Historische Vergleiche, die ja dazu dienen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Ereignissen, Diskursen und Prozessen herauszuarbeiten, sind nötig und legitim.

Der folgende Beitrag von Dorothee Braun, die das Ostafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Sitz in Dar es Salaam leitet, will deutschen und europäischen Leser*innen eine andere Lesart des Werkes von Achille Mbembe als eines international äußerst bekannten afrikanischen Intellektuellen vermitteln. Ein solcher Zugang zu Mbembe und seiner Arbeit fehlte in der aufgeregten deutschen Debatte im Frühjahr 2020 oftmals.

Natürlich kann und will dieser Beitrag weder das Werk und die Wirkung Mbembes umfassend darstellen, noch alle Aspekte der hiesigen Kontroverse kommentieren. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung möchte mit diesem Text einen Beitrag zur Versachlichung und Annäherung an einen wichtigen Autor und Wissenschaftler leisten. Weitere sollen folgen. Ebenfalls wird die Rosa-Luxemburg-Stiftung sich verstärkt mit eigenen Beiträgen zur Analyse des Antisemitismus in Deutschland und Europa und des Kampfes gegen ihn einbringen.[2]


[1] Dies ist ein durchaus universalistischer Ansatz, was wiederum auch kein unumstrittener Begriff sein dürfte.

[2] Voraussichtlich im November 2020 wird eine Studie „Aktueller Antisemitismus in Deutschland – Verflechtungen, Diskurse, Befunde“ von Anne Goldenbogen und Sahra Kleinmann veröffentlich werden, die die RLS beauftragt hat. Hingewiesen sei auch auf die kurze Einführung von Tsafrir Cohen, Katja Hermann und Florian Weis aus dem Jahre 2019 zu einem Gutachten von Peter Ullrich zur Arbeitsdefinition Antisemitismus der IHRA.