Nachricht | Migration / Flucht - Südosteuropa - Türkei - Westasien im Fokus Flüchtlingsein für Anfänger*innen

Ertuğrul Mavioğlu schreibt über Flucht- und Asylerfahrungen

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Ertuğrul Mavİoğlu Foto: privat

Ich hätte gern mehr Zeit in den europäischen Städten verbracht, in die wir anlässlich der Festivalvorführungen des Dokumentarfilms Bakur, den ich zusammen mit Çayan Demirel gedreht habe, eingeladen wurden. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens ist es in diesem kurzen Leben mein größtes Bestreben, so viele Städte und Kulturen wie nur möglich kennenzulernen. Ich bin überzeugt davon, dass jede neue Stadt, die ich kennenlerne, jede Landschaft, die ich sehe, jedes architektonische Werk, das mich erstaunt, jede Person, die ich treffe, und jeder neue Geschmack sich in mein Gedächtnis einschreibt und mich bereichert. Deshalb war meine Antwort auf die Frage «Was lehrt mehr – viel reisen oder viel lesen?» immer schon «viel reisen».

Ertuğrul Mavioğlu ist türkischer Journalist und Dokumentarfilmer, der im Sommer 2019 für seinen Dokumentarfilm Bakur zu 4,5 Jahren Haft in der Türkei verurteilt wurde. Seiner Inhaftierung kam er durch die Flucht nach Griechenland zuvor. Er lebt jetzt als anerkannter Geflüchteter in Athen.

Der zweite Grund, warum ich ein paar Tage länger in den Städten bleiben wollte, die ich besuchte, sind meine Freunde aus Gefängniszeiten, die überall auf der Welt verstreut sind und mit denen ich einst hinter Stahltüren und Betonwänden auf und ab lief, vom gleichen Teller aß, der gleichen Gewalt ausgesetzt war und mit denen ich aller Widrigkeiten zum Trotz über die Witze lachte, die wir uns in all den langen Nächten unverzagt erzählten. Ohne zu übertreiben kann ich sagen, dass mir jedes Mal mindestens einer von ihnen zufällig in den Städten über den Weg lief, in die ich reiste. Wir saßen an einem Tisch, stießen auf unsere Vergangenheit an und teilten unsere Erinnerungen und unsere gegenwärtigen Herausforderungen miteinander. Außerdem fantasierten wir gerne ausgiebig über unsere Zukunft.

Ich spüre, wie ich wachse, wenn wir den Schmerz, den wir damals erleiden mussten, miteinander teilen und damit erleichtern. Meine Freunde und ich sind zu Spezialisten geworden, die genau wissen, wie wir unsere Schmerzen gegenseitig lindern können. Deshalb würde ich, wenn man mich jemals mit der Frage «Was lehrt mehr – viel reisen oder einsitzen?» konfrontieren sollte, mit dem Letzteren antworten.

Unterlegen in das Spiel starten

Meine Freunde hatten keine Chance in ihr Herkunftsland zurückzukehren, sobald sie im Ausland Asyl beantragt hatten. Unsere Begegnungen hatten daher immer etwas sehr Emotionales. Sie umarmten mich jedes Mal ganz fest und behaupteten, ich würde nach Heimat duften. Unser Leben in der Heimat war auch nicht besonders rosig, aber ich fühlte mich jedes Mal sehr glücklich, wenn ich meine Freunde um mich hatte. Im Anschluss an unsere Treffen reiste ich zurück in unser gemeinsames Herkunftsland, und sie mussten weiterhin mit den vielschichtigen Problemen kämpfen, die das Leben als Flüchtling mit sich bringt.

Yusuf, dem ich in der Schweiz begegnet bin, sagte, nachdem er mehrmals wiederholt hatte, dass er seit etwa zehn Jahren nicht in sein Herkunftsland zurückgekehrt ist: «Wenn ich nicht hierhergekommen wäre, hätte ich mehr als sechs Jahre im Hochsicherheitsgefängnis verbringen müssen. Aber ich bin hergekommen und habe über zehn Jahre in sehr schlechten Verhältnissen gelebt, wovon sich allein sechs Jahre im Flüchtlingslager abspielten. Wenn ich in meinem Herkunftsland geblieben wäre, wäre ich längst aus der Haft entlassen worden. Für Flüchtlinge gibt es so etwas wie Entlassung nicht», sagte er und fügte hinzu, «ein Flüchtling zu sein, ist wie als Sportmannschaft mit null zu zehn Punkten Rückstand in das Spiel zu starten. Nur um ein Unentschieden zu erreichen, musst du bereits zehn Punkte machen. Einige meiner Freund*innen konnten das Ruder tatsächlich herumreißen. Sie kauften Immobilien und Autos, auch wenn die meisten von ihnen in Schulden versinken. Was mich angeht, habe ich gravierende Kommunikationsprobleme, da ich nur sehr wenige Sprachen beherrsche. Doch nicht nur das. Mir wurde klar, dass ich keinerlei Qualifikationen besaß. Die Hunderte von Büchern, die ich im Gefängnis gelesen hatte, halfen mir im wirklichen Leben nicht. Ich habe keinen Job, kein Geld und keine Chance, mir ein neues Leben aufzubauen. Vor allem habe ich keine Zukunft und keine Sicherheit. Man sagt, die Geografie, in die du hineingeboren wurdest, sei dein Schicksal. Dementsprechend habe ich das Gefühl, mein Herkunftsland nie verlassen zu haben. Obwohl die Geografie anders ist, verlässt mich das gleiche schlechte Schicksal nicht. Ja, ich bin heimatlos und dieses Land konnte mir ebenfalls kein Zuhause bieten.»

Ich erinnere mich, dass Yusuf während seiner Haft sehr viele Philosophiebücher las und hitzige Debatten führte. Aus diesem Grund nannten wir ihn den «Philosophen». Nun unterlässt er es jedoch, über tiefe philosophische Fragen zu diskutieren, und weil er mit der Flüchtlingshilfe nicht auskommt, arbeitet er mit seinem mageren Körper als Möbelpacker, um sich ein zusätzliches Einkommen zu verschaffen. Der Philosoph Yusuf wurde durch den Möbelpacker Yusuf ersetzt, der um seine Zukunft bangt, da er sehr genau weiß, dass er diesen Job in ein paar Jahren nicht mehr wird ausüben können.

Nicht das, was du dir erhoffst, sondern das, was du vorfindest

In Anatolien gibt es das Sprichwort: «Der Gast isst nicht das, was er sich erhofft, sondern das, was er vorfindet.» Mein Freund Ali Ekber in Deutschland murmelte dieses Sprichwort, während er fest auf die Pedale seines Taxis trat, das er seit zwanzig Jahren fuhr. Zu der Zeit, als ich ihn kennenlernte, besaß er einen mageren Körper, der zu seiner Körpergröße passte. Man traute sich damals kaum, ihn anzufassen, weil er so zart war. Der Ausdruck «wie ein hauchdünner Ast» war ihm auf den Leib geschrieben. Er hatte sich so sehr verändert, dass ich bei meiner Ankunft in Berlin eine Weile brauchte, um zu erkennen, dass er es war, der mich am Flughafen empfing. Natürlich hatte ich mich in all den Jahren ebenfalls sehr verändert, aber im Gegensatz dazu, wie er mir in Erinnerung geblieben war, war die Person, die mir hier entgegentrat, kugelrund. Seine Körpergröße war natürlich unverändert geblieben, was ihn wie eine angeschwollene Trommel wirken ließ. Er geriet bei dem kleinsten Schritt außer Atmen und musste husten wie verrückt. Er litt an einer Lungenkrankheit. «Das habe ich der Klimaanlage des Taxis zu verdanken», erzählte er mir später in einem Café in Kreuzberg. Dann blickte er ganz behutsam zurück in die Vergangenheit und erzählte mir im Detail, warum und wie er sein Herkunftsland verlassen hatte:

«In der Organisation gab es seltsame Entwicklungen. Jedwede Kritik war unzulässig. Die vorgebrachten Einwände wurden wie ein Übertritt ins Feindeslager betrachtet. Ich hatte ebenfalls Kritik anzubringen, und die Ausbildung, die ich erhielt, erforderte, dass ich meine Beschwerde laut aussprach. Ich ahnte, dass das nicht gut ausgehen würde, schwieg aber dennoch nicht. Denn wenn ich schweigen würde, könnte ich mich selbst nicht wiedererkennen. Aber sie haben mir nicht einmal zugehört. Sie entließen mich von meinem Posten und befahlen mir, in einer Unterkunft der Organisation zu warten, bis über mein Schicksal entschieden wurde. Die Tage vergingen, und niemand ging ein oder aus. Das war kein gutes Zeichen. Erst sehr viel später klopften sie an meine Tür und stürzten mich dann in ein neues Lebenskapitel. Sie beschuldigten mich der Feigheit und des Klassenverrats und erklärten mein jahreslanges Engagement in der Organisation für nichtig, was für mich viel schlimmer war als der Tod. Da es keinen anderen Ort für mich gab, musste ich in das Dorf zurückkehren, das ich als Kind verlassen hatte. Ich hatte mein Elternhaus sehr früh verlassen, sodass ich mich dort wie ein Fremder fühlte. Dann erfuhr ich, dass mich die Gendarmerie suchte. Ich war jemand, der von der Organisation ausgeschlossen worden war, hinter dem der Staat her war und der seine Beziehung zur Familie längst gekappt hatte. Ich dachte sehr viel darüber nach, was ich in dieser Situation tun könnte. Letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass ich so nicht leben kann. Selbstmord wäre keine Lösung gewesen, deshalb bestand meine einzige Möglichkeit darin, das Land zu verlassen. Ich besorgte mir einen gefälschten Reisepass und lebe nun seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland. Ich musste sehr viel Hunger leiden und wurde sehr oft betrogen. Klar, hier ist der Staat nicht hinter mir her, und meinen alten Freunden bin ich hier auch nie begegnet. Ja, ich habe überlebt, aber zu welchem Preis? Nach all den Jahren verstehe ich jetzt, dass es ein großer Fehler ist, das Land zu verlassen, sofern du nicht in Lebensgefahr schwebst. Ich mag das Wort ‹hätte› nicht, aber hätte ich doch bloß einen anderen Weg genommen...»

Wenn dein gesamtes Wissen an einem Tag unnütz wird

Als wir Hasan in Stockholm trafen, rückte die Gerichtsverhandlung über meinen Dokumentarfilm in die entscheidende Phase. «Worauf wartest du?», fragte er mich. «Alles ist möglich», erwiderte ich, obwohl ich fest damit rechnete, dass ich bestraft werden würde. Ich dachte das nicht, weil ich nicht von unserer Kunst überzeugt war, sondern weil ich kein Vertrauen in das Justizsystem der Türkei besaß. Die Gerichte wurden lange Zeit von der politischen Macht wie Knüppel gegen Oppositionelle eingesetzt. Viele Intellektuelle wurden zu schweren Strafen verurteilt, um Exempel zu statuieren, die Gleichgesinnte zum Schweigen bringen sollten. Die Verhandlungen über Bakur waren ebenfalls ein Schauprozess. Eine schwere Bestrafung würde andere Filmregisseur*innen und Produzent*innen ernsthaft einschüchtern – insbesondere diejenigen, die regierungskritische Werke produzierten.

Meine Antwort konnte Hasan natürlich nicht zufrieden stellen. «Geh' nicht zurück, bleib hier. Wenn du wieder ins Gefängnis kommst, wirst du gar nichts mehr produzieren können. Wenn du hierbleibst, kannst du weiterhin Filme drehen und Bücher schreiben.» Hasans Umstände waren im Vergleich zu den Lebensverhältnissen meiner anderen geflüchteten Freunde gut. Er besitzt seine eigenes Tourismusunternehmen. Seinem Auto und Haus nach zu urteilen ist sein Einkommen gar nicht mal so schlecht. Augenscheinlich hatte er sich an ein Leben in Schweden angepasst. Ich fragte, er antwortete. Aber seine Antworten erschreckten mich. Er sagte zwar «Geh' nicht, bleib hier», aber anscheinend ist das Leben als Flüchtling trotz der Programme der Europäischen Union und der Vereinten Nationen nicht so einfach, wie man es sich vorstellt:

«Mein Gesicht wurde auf einem der Fahndungsplakate abgebildet, sodass ich nirgendwo im Land in Sicherheit war. Ich vergrub mich wie ein Maulwurf in einem Haus, das ich für halbwegs sicher hielt. Letztendlich fand auch dort eine Razzia statt. Ich entkam nur knapp und versteckte mich diesmal in einer ländlicheren Gegend. Da ich nicht lange an einem Platz bleiben konnte, schmiedete ich schnell einen Plan und entschloss, die Grenze nach Syrien zu überqueren. Ich werde meinen ersten Morgen dort niemals vergessen. Ich bin vor Erschöpfung sehr früh zu Bett gegangen und wachte am frühen Morgen wegen des Lärms vor der Tür auf. Ein paar Leute diskutierten sehr hitzig miteinander, und ich verstand kein einziges Wort. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich ein Flüchtling war. Ich öffnete den Vorhang und sah die syrische Flagge im gegenüberliegenden Gebäude wehen. Die türkische Flagge lag mir nicht besonders am Herzen, aber diese Flagge erschien mir noch viel fremder. Die Tage vergingen, und ich versuchte, ein wenig Arabisch zu lernen. Gerade als ich ein paar Worte gelernt hatte, verkündeten meine Freunde, dass sie ein Boot für die Überfahrt nach Europa organisiert hätten. Zuerst fuhr ich nach Zypern und von dort aus nach Athen. In Athen kam ich eine Weile im Camp unter und musste diesmal Griechisch lernen. Einige Monate später stellte sich heraus, dass Griechenland meinen Asylantrag abgelehnt hatte. Ich wurde zurück nach Syrien geschickt. Griechisch hatte ich vergebens gelernt. Noch dazu hatte ich in den Monaten meiner Abwesenheit das Arabisch vergessen, das ich gelernt hatte, obwohl es nur ein paar wenige Vokabeln waren. Zum Glück war ich nicht zu lange in Syrien. Mein zweiter Versuch war ein Erfolg. Ich lebe jetzt seit mehr als dreißig Jahren in Schweden. Obwohl ich bei meiner Ankunft aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse große Schwierigkeiten hatte, konnte ich mit jedem Lernerfolg immer mehr an dem Leben hier teilnehmen. Heute verstehe ich: Flüchtling zu sein bedeutet, dass dein ganzes Wissen, unabhängig von deinem Bildungsniveau, innerhalb von einem Tag nutzlos sein kann.»

Was von der Solidarität übrig blieb

Wenn sich die Schwierigkeit des Flüchtlingseins darauf beschränken würde, dass dein ganzes Wissen schlagartig nutzlos wird, wäre das ja vielleicht noch zu verkraften. Das Hauptproblem des Flüchtlingseins ist aber die Herausforderung, sich erneut am Leben festhalten zu können. Wer die Thematik verfolgt, weiß auch: Die Situation ist nicht vergleichbar mit der Zeit nach den Militärputschen vom 12. März 1971 und dem 12. September 1980. Danach zu urteilen, was die Flüchtlinge aus dieser Zeit erzählen, stand man damals geschlossen zusammen, und niemand hätte zugelassen, dass dem anderen etwas geschieht. Aber in Bezug auf die Solidarität scheinen die Dinge heutzutage weniger erfreulich abzulaufen, denn an vielen Orten ist sie auf ein Mindestmaß reduziert.

Als ich mit Adnan in einem Café in Exarchia, dem anarchistischen Viertel von Athen, Kaffee trank, verstand ich, dass er sich am meisten über den Mangel an Solidarität beschwerte. An die seltsame Gemütslage eines Menschen erinnernd, der sich selbst als Komplize eines großen Fehlers enttarnt hat, sah er mich an und sagte:

«Wenn du in eine Grube fällst, packt dich niemand an der Hand und hilft dir heraus. Es scheint, als wäre der revolutionäre Geist abhandengekommen. Ich musste zu einer sehr ungünstigen Zeit fliehen. Heutzutage bedeutet Flüchtling sein, einer großen und verzweifelten Kette der Einsamkeit anzugehören.»

Ja, die Solidarität unter den politischen Flüchtlingen hat sich weitgehend ausgeschöpft, was laut Adnan verschiedene Gründe hat. Zum Beispiel komme die wahre Persönlichkeit einer Person erst dann zum Vorschein, wenn sie sich von der Disziplin einer Organisationsstruktur abwendet, und bei manchen bestehe diese Persönlichkeit aus einem individualistischen Klumpen, der bald das ganze Verhalten dieser Personen dominiert. Einige Flüchtlinge beuteten diejenigen aus, die ihnen halfen: Sie borgten sich Geld, das sie nicht zurückzahlten, machten Versprechen, die sie nicht hielten, sie arbeiteten nicht, bemühten sich nicht und waren eine Last für andere, was diejenigen abschreckte, für die Solidarität und gegenseitige Hilfestellung eine Herzensangelegenheit war. Adnan nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und fuhr mit einem Gesichtsausdruck fort, dem kein Lächeln zu entlocken war:

«Griechenland ist für die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge eine Brücke zu den anderen europäischen Ländern. Sie ziehen nicht weiter, weil sie Griechenland nicht mögen. Klar, du weißt nie, wann und warum dir beim Laufen auf der Straße plötzlich Wasser auf den Kopf fällt. Überall riecht es nach Pisse und aufgrund des vielen Hundekots sind die Straßen kaum begehbar. Der Müll wird immer zu spät abgeholt. Wohin du auch blickst, siehst du gebrauchte Spritzen und wirst von Menschen angesprochen, die vollkommen high durch die Gegend spazieren. Vor allem in Vierteln mit hohem Flüchtlingsanteil triffst du auf eine Armee von Polizist*innen und wirst von ihnen belästigt. Natürlich gefällt das niemandem. Aber auf der anderen Seite besitzt dieses Land eine widerstandsfähige und kämpferische Jugend. Die Leute in diesem Land sind gut organisiert, sie haben die demokratischen Werte fest verinnerlicht, ihr politisches Verständnis macht dem Namen der Menschheit alle Ehre. Davon abgesehen kannst du einfach mit einem U-Bahn-Ticket Orte erreichen, die den Ferienorten Bodrum, Antalya und Kuşadası ähneln. Zudem ist das hier ein sehr unterhaltsamer Ort, an dem du ein entspanntes Leben führen kannst. Trotz aller Widrigkeiten reichen die Dinge, die ich aufgezählt habe, bei weitem aus, um das Leben in Athen erstrebenswert zu machen. Aber die Menschen brauchen Arbeit um zu leben, und das größte Problem ist, dass es hier keine Arbeitsmöglichkeiten gibt. Darüber hinaus ist die Hilfe und Unterstützung für Flüchtlinge äußerst begrenzt.

Mal davon abgesehen, dass es hier schwierig ist, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist es noch viel schwieriger, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Diejenigen, die die Grenze überqueren, bekommen bei ihrer Einreise ein Dokument in die Hand gedrückt und müssen fünf oder sechs Jahre lang auf einen Gesprächstermin warten. Dabei ist es den Behörden egal, unter welchen Umständen die Eingereisten solange leben. Deshalb wollen fast alle Flüchtlinge in Ländern wie Schweden, Norwegen, den Niederlanden, Deutschland und der Schweiz leben. Die Einreise in diese Länder ist besonders schwierig, da die Grenzen strengstens kontrolliert werden. Du bist dazu gezwungen, Schmuggler*innen zu bezahlen. Je höher der Preis, desto größer sind deine Chancen auf eine Überreise. Wer dieses Geld nicht hat, sitzt hier fest und muss die härtesten, schlechtesten und niedrigbezahltesten Jobs annehmen. Du kannst dich glücklich schätzen, wenn du ein Dach über dem Kopf hast. Die Situation ist so schlecht, dass man in meiner Nachbarschaft denselben Mann das ganze Jahr über immer auf derselben Bank schlafen sehen kann. Was können sich Flüchtlinge von einem Land erhoffen, in dem schon die junge Bevölkerung angesichts der Arbeitslosigkeit keine Perspektive hat?»

Adnan seufzte tief, kniff die Augen zusammen und sah zum Exarchia-Park. Dann zeigte er auf die Jugendlichen und fügte hinzu: «All diese Kinder sind Flüchtlinge. Der Park wimmelt nur so von Araber*innen, Kurd*innen, Iraner*innen, Türk*innen, und alle sind sich spinnefeind. Es wird viel gedealt. Der Markt ist klein, aber sie machen viel Geld, daher kommt es jeden Tag zu Prügeleien zwischen ihnen, manchmal auch zu Todesfällen. Du kriegst bei ihnen Marihuana, Heroin, Kokain, geschmuggelte Zigaretten und was auch immer. Ich bin sogar auf politische Flüchtlinge gestoßen, die hier mit dem Dealen begonnen haben. Deshalb sehen sie ihren einzigen Ausweg darin, in andere europäische Länder zu flüchten. Sie haben keine andere Wahl, wenn sie nicht noch tiefer sinken wollen. Dort erhoffen sie sich Arbeit und Brot. Ha, und was erwartet sie, wenn sie weiter nach Europa durchdringen? Sie werden entweder in Pizzerien oder in Dönerläden angestellt. Keiner erwartet sie dort mit offenen Armen und ist bereit, ihnen Jobs in der Direktion zu geben.»

Entweder Pizzeria oder Dönerladen

Einer der Jungs aus dem Organisationsteam des kurdischen Filmfestivals in Kopenhagen nahm mich am Arm und führte mich in eine Pizzeria: «Sie haben bestimmt Hunger. Wir haben zwar kein Budget, aber dafür haben wir Beziehungen zu Sponsoren.» Die Abmachung mit dem Sponsor bestand darin, dass das Organisationsteam im Gegenzug für die Verköstigung der Festivalgäste das Wochenende über in der Pizzeria arbeiten sollte. Der Pizza-Sponsor kam mir bekannt vor. Nachdem auch er mich sorgfältig gemustert hatte, machte sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit. Ich stand von meinem Tisch auf und ging zu ihm. Es war kein anderer als İbrahim, mit dem ich im Davutpaşa-Gefängnis gesessen hatte. Er flüsterte mir zu: «Man kennt mich hier unter dem Namen Kemal.» Dann wandte er sich den Jugendlichen des Organisationsteams zu und sagte: «Den Hoca könnt ihr mir überlassen, konzentriert euch auf eure Arbeit.» (Anm. d. Übers.: «Hoca» – Türkisch für «Lehrer*in». Höfliche Anrede für Lehrer*innen, Professor*innen, Geistliche, Intellektuelle etc.)

Ich wusste nicht, dass İbrahim im Ausland lebte. Als wir alleine waren, bat ich ihn, mir zu erzählen, was passiert ist. «Ich kann dir nur so viel sagen: hier habe ich keine Identität. Ich habe mir einen gefälschten Ausweis machen lassen, mit dem ich mich irgendwie durchschlage. Als mein Asylantrag abgelehnt wurde, hätten sie mich beinahe abgeschoben. Seitdem bin ich auf der Flucht.» Dann rief er scherzend seinem Lehrling zu: «Sohn, sieh gefälligst nach dem Ofen, damit die Pizzen nicht anbrennen, bevor ich dich anbrenne.» Daraufhin redete er wie ein Wasserfall:

«Du hast bestimmt gehört, dass mein Gerichtsverfahren beendet und ich in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Wäre ich im Land geblieben, hätte man mich hundertprozentig geschnappt. Ich beschloss ins Ausland zu gehen und plante mithilfe eines Schmugglers in Kadıköy meine Überreise. Ursprünglich wollte er mich in die Schweiz bringen. Eigentlich hatte ich keinen Schimmer, warum ich damals unbedingt in die Schweiz wollte. Vermutlich, weil ich gehört hatte, dass es den politischen Flüchtlingen dort sehr gut gehen soll. Jedenfalls fuhren wir um Mitternacht mit dem Boot von Meriç aus los. Es war ein kalter und regnerischer Tag. Von irgendwo hörte ich einen Hund bellen. ‹Das sind patrouillierende Soldaten. Warte hier, beweg dich bloß nicht›, sagte der Schmuggler. Ich legte mich in den Schlamm und bewegte mich nicht. Daraufhin rannte der Schmuggler davon und ließ mich allein. Wenn die Soldaten nicht so dicht dran gewesen wären, wäre ich dem Schmuggler wütend nachgerannt. Nachdem ich lange im Schlamm gewartet hatte, begann ich auf allen Vieren in irgendeine Richtung los zu kriechen. Nach einer Weile vernahm ich Gespräche, die mir verrieten, dass ich nicht mehr in der Türkei war, jedoch wusste ich weder, was ich tun, noch wo ich hingehen sollte. Etwas weiter vorne erblickte ich ein Dorf, das vermutlich eines der Grenzdörfer war. Ich war komplett übersät mit Schlamm. Als ich durch das Dorf ging, stieß ich auf die Polizei. Sie brachten mich zur Polizeistation und so begann mein Abenteuer in Griechenland, das fast ein Jahr dauerte. Sie hielten mich etwa 20 Tage lang auf der Polizeistation fest. Dann drückten sie mir ein Dokument in die Hand und ließen mich gehen. Ich hatte etwas Geld bei mir, mit dem ich mir eine Hose, ein Hemd und einen Mantel aus dem Second-Hand-Laden besorgte. Dann ging ich in ein Hotel, nahm eine Dusche, schlief und ging am nächsten Tag nach Athen. Ich kannte niemanden, hatte keinen Job und mein Geld neigte sich dem Ende zu. Damals ging es Griechenland noch gut. Du konntest hier und da Jobs finden. Ich fand Arbeit in einem türkischen Dönerladen. Ich übernachtete im Laden und machte alles von Kebapzubereitung bis hin zu Geschirrdienst und Toilettenreinigung. Als ich nach einem Monat mein Gehalt bekommen sollte, feuerte mich der Ladenbesitzer. Als ich um mein Gehalt bat, erwiderte er dreist: ‹Du hast hier übernachtet, deinen Magen vollgeschlagen, und jetzt willst du auch noch Geld? Sei nicht undankbar!› Ich war so wütend. Mein Geld bekam ich trotz aller Proteste nicht.

Nachdem ich ein paar Tage lang in verschiedenen Parks übernachtet hatte, fand ich einen neuen Job in einer Pizzeria. Der Besitzer war ein albanischer Einwanderer. Er besorgte mir einen Schlafplatz und bezahlte mir anstandslos mein Gehalt. So lernte ich einen Beruf und konnte genug Geld sparen, um das Land zu verlassen. Als ich auf den Anhänger eines Lastwagens stieg und Griechenland verließ, wusste ich nicht einmal, wo Dänemark auf der Weltkarte lag. Seitdem ist über ein Jahrzehnt vergangen, aber es lief nie wirklich gut für mich. Ich arbeite ohne Krankenversicherung, weil mein Asylantrag abgelehnt wurde. Mein Traum von einem eigenen Laden ist dahin. Natürlich war es nicht meine Wunschvorstellung, in einer Pizzeria oder in einem Dönerladen zu arbeiten, als ich die Türkei verließ. Wenn du jedoch ein Flüchtling bist, besitzen die Qualifikationen, die du außerhalb Europas erworben hast, hier keinen Wert. Deine Arbeitsmöglichkeiten sind deshalb sehr begrenzt: entweder arbeitest du in einer Pizzeria oder in einem Dönerladen oder wirst Taxifahrer, bis du eines Tages am Steuer erkrankst und verreckst. Oder du verschwendest dein Leben als Türsteher vor Clubeingängen...»

Der einsame Flüchtling sucht Trost im Alkohol

Neben den seit langem bestehenden Problemen – die schon die Migrant*innen der ersten Generation betrafen, als sie für Arbeit in Länder wie Deutschland und die Niederlande gingen – stellte ich fest, dass politische Geflüchtete, die die Türkei aufgrund ihrer regimekritischen Haltung verlassen mussten, relativ oft zum Alkoholismus neigen. Als ich Serhat in Brüssel traf, klagte er am meisten über die Einsamkeit. Er vermisste nicht nur sein Herkunftsland, sondern vor allem seinen Freundeskreis. Er seufzte tief und begann zu erzählen. Er wiederholte unentwegt, dass er irgendwann allem und allen überdrüssig wurde: «Wenn du darüber nachdenkst, wird dir auffallen, dass im Grunde alle Menschen gleich sind. Die Menschen hier sind genauso wie die Menschen in der Türkei. Es sind Menschen, die sich dem System entgegengestellt und für ihre Überzeugungen gekämpft haben. Aber aus irgendeinem Grund kann ich den Leuten hier nicht wirklich vertrauen.»

Serhat hatte sich von den Menschen distanziert, niemand schien ihm aufrichtig genug zu sein. Er fiel dem Alkohol anheim. Je mehr er trank, desto mehr erzählte er: «Menschen ohne gemeinsame Vergangenheit versuchen zunächst, durch Gemeinsamkeiten in ihren Fluchtgeschichten eine Bindung zu forcieren, aber diese Art von Freundschaften enden unweigerlich genauso schnell, wie sie begonnen haben. Derlei Beziehungen hängen am seidenen Faden. Es macht keinen Sinn, mit irgendwelchen Menschen dein Leben zu vergeuden, nur weil du nicht einsam sein möchtest. Du bist so oder so zur Einsamkeit verurteilt. Ich bin zwar ein Flüchtling, aber offen gesagt mag ich keine Flüchtlinge. Ich will mich von all diesen Bindungen, Organisationen und der Politik fernhalten und nur Beziehungen zu den Einwohner*innen dieses Landes eingehen, aber auch das funktioniert nicht. Denn weder unsere Sprache noch unsere Kultur sind miteinander vereinbar. Es gibt also nur eine Lösung: vergessen. Oder wie es Tanju Okan ausdrückt: ‹Meine besten Freunde sind mein Drink und meine Zigarette, aber auch die würden mich verlassen, wenn ich kein Geld mehr hätte.› Darum geht es. Ich möchte mich nicht wie andere an die Metropole klammern, ein besseres Haus und ein schönes Auto besitzen. Ich möchte nur trinken; trinken, um zu vergessen. Wenn ich trinke, verschwindet alles, was ich sehe, und alles, was ich erlebt habe, vor meinen Augen. Es ist ein Paradoxon: Obwohl ich die Einsamkeit bevorzuge, trinke ich als Mittel gegen die Einsamkeit. Wenn ich nicht trinken würde, würde ich verrückt werden. Deshalb trinke ich, um nicht verrückt zu werden. Entscheide du, ob ich richtig oder falsch liege...»

Flüchtlingsein ist eine Sache der Kalkulation

Wie Berlin ist auch Köln eine deutsche Stadt, die politische Flüchtlinge regelrecht anzieht. Einige Tage nach meiner Ankunft in Köln verabredete ich mich mit Hakan in einem Café. Ich wusste, dass Hakan nach seiner Flucht geheiratet hatte und Vater von zwei Kindern ist. Ich wunderte mich, warum wir uns draußen trafen und nicht bei ihm zu Hause. Als er jedoch zu erzählen begann, erübrigte sich meine Frage. «Vermutlich weißt du es noch nicht, aber wir haben uns scheiden lassen», sagte er und führte aus: «Im Grunde waren wir gezwungen, uns scheiden zu lassen. Wir haben lange überlegt und hin und her gerechnet. Ich bin scheinarbeitslos. Meine Frau arbeitet nicht, und wir haben zwei Kinder. Für unsere Kinder erhalten wir verschiedene Sozialleistungen, aber diese Leistungen werden jedes Jahr gekürzt, weil ich die Jobangebote nicht annehme, die sie für mich heraussuchen. Wir fanden heraus, dass sich die Leistungen, die wir erhalten, erheblich erhöhen würden, wenn meine Frau geschieden wäre. Daraufhin mietete ich zwei Straßen weiter eine andere Wohnung. Wir zahlen weiterhin die Miete für die erste Wohnung. Trotzdem steht uns insgesamt viel mehr Geld zur Verfügung. Da sich die Steuern, die meine Frau zahlen muss, verringert haben, müssen wir viel weniger in die Krankenkasse einzahlen. Zudem gibt es Organisationen, die alleinerziehenden Frauen zusätzliche Unterstützung anbieten. Auch davon profitieren wir. All das hat den einzigen Nachteil, dass ich nicht in Ruhe zu Hause sitzen und die Füße ausstrecken kann. Wenn sie mich in der Wohnung meiner Frau erwischen, finden sie heraus, dass wir uns nicht wirklich getrennt haben und dann stecken wir in Schwierigkeiten. Also schleiche ich mich nachts heimlich in die Wohnung. Wir schlafen mit einem Auge offen. Frühmorgens verlasse ich unser Zuhause wieder und lasse keinen meiner persönlichen Gegenstände zurück. Wir haben gehört, dass Sozialarbeiter*innen bei ihren Kontrollbesuchen sogar die Zahl der Zahnbürsten kontrollieren.»

Ich fand sehr interessant, was mir Hakan erzählte. Andere geflüchtete Freunde berichteten mir von ähnlich interessanten Lebensumstellungen, die aus vergleichbaren Beweggründen heraus entschieden wurden Zum Beispiel hatte mir Ali Ekber erzählt, dass seine Frau ihre Arbeit gekündigt hatte, um die Steuerforderungen zu senken. Zudem konnten sie sich durch die Arbeitslosigkeit seiner Frau das Geld für die Kinderbetreuung sparen. Wenn die Frau nicht arbeitet und der Mann eigenständig für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen muss, verringert sich der Gesamtsteuersatz. Das durch die obsolet gewordene Kinderbetreuung gesparte Geld bereicherte die Familienkasse erheblich. Dies hatte aber natürlich auch seine Nachteile, denn rund um die Uhr zu Hause sein zu müssen und nicht mehr arbeiten gehen zu können, machte Ali Ekbers Frau geradezu wahnsinnig. Die Streitigkeiten zu Hause nahmen zu, und es herrschte ständige Unruhe. Ali Ekber fasste die Situation in aufgebrachtem Tonfall wie folgt zusammen: «Klar, unsere finanzielle Situation hat sich verbessert, aber Gesundheit und Frieden kann ich mir von dem Geld nicht kaufen...»

Flüchtlingsein lehrt

Nachdem ich zu mehreren Gefängnisstrafen verurteilt worden war, überquerte ich endlich die Grenze. Dabei wurde mir klar, dass ich all diese Lektionen über das Flüchtlingsein in einem bestimmten Teil meines Kopfes abgespeichert hatte. Ja, wie alle Flüchtlinge werde auch ich meine Pläne, mein Leben und beinahe alles, was ich gelernt hatte, hinter mir lassen und mit Rückstand in das Spiel starten. Wie alle Flüchtlinge werde auch ich nicht das essen können, was ich mir erhoffte, sondern das, was ich vorfinde. Wie alle Flüchtlinge werde auch ich nach dem Überqueren der Grenze meine Augen in einem Land öffnen, dessen Sprache ich nicht verstehe und mich deshalb blind und dumm fühlen. Die Solidarität und Unterstützung, die ich von meinen Bekannten erwarte, werde ich nicht bekommen, und wer weiß, was ich dann alles über mich ergehen lassen muss, um zu überleben. Um meine Einsamkeit zu überwinden, werde ich hin und wieder im Alkohol Trost suchen und womöglich auch finanzielle Notlagen mit umständlichen Lebensumstellungen zu überbrücken versuchen. Vor allem aber werde ich, sobald ich in ein mir völlig unbekanntes Land emigriere, all diese Dinge im Voraus schon wissen. Wenn man mich dann schlussendlich fragt «Was lehrt mehr – oft einsitzen oder aus dem Herkunftsland fliehen?», dann werde ich zweifelsfrei antworten «Aus dem Herkunftsland fliehen.»

Denn all dieses Wissen konnte ich nur dank all derjenigen erwerben, die vor mir flüchten mussten, und diese Lektionen über das Flüchtlingsein werden mir dabei helfen, meine Füße auf festen Boden zu setzen.

[Übersetzung von Çiğdem Üçüncü & Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective]