Argentiniens Mitte-links-Regierung war im Dezember 2019 mit dem Ziel angetreten, die vom neoliberalen Präsidenten Mauricio Macri hinterlassene desaströse Wirtschaftslage umzukehren und die soziale Schieflage zu begradigen. Die Corona-Pandemie bremste erste Ansätze schnell aus. Nach den Vorwahlen zum Kongress am 12. September 2021 entbrannte in der Regierung des amtierenden Präsidenten Alberto Fernández ein offener Richtungsstreit über die künftige wirtschaftspolitische Ausrichtung. Nach den Teilwahlen zum Kongress am 14. November wird sich entscheiden, ob Argentinien eine erneute Zahlungsunfähigkeit vermeiden kann – es wäre die zehnte.
Im Oktober 2020 zog Wirtschaftsminister Martín Guzmán die Ausgabenbremse, im Oktober 2021 wird ihm dies schwerer fallen, obwohl der Wechselkurs wieder ähnlich stark unter Abwertungsdruck steht. Vor einem Jahr hatte Guzmán Argentinien einen relativen Sparkurs verordnet, um die Finanzierung der Staatsausgaben und Corona-Unterstützungsmaßnahmen durch die Notenpresse wenigstens zu begrenzen. Damals lag der «Dólar blue» bei 190 argentinischen Peso, derzeit liegt er bei über 180 Peso. Als Dólar blue wird der parallele Wechselkurs bezeichnet, mit dem auf der Straße und in Wechselstuben inoffiziell US-Dollar gekauft werden können.
Martin Ling ist Redakteur beim Neuen Deutschland.
Offiziell notiert der Peso noch bei knapp unter der Hunderter-Schwelle für einen US-Dollar. Es ist ein klares Indiz für die formelle Überbewertung des Peso, wenn der Parallelkurs fast doppelt so hoch liegt wie der offizielle bei den Banken. Diesen offiziellen Kurs zu halten, der zwar Importe verbilligt, kostet jedoch Tag für Tag Dollarreserven der argentinischen Zentralbank. Allein im September verkaufte die Zentralbank 500 Millionen US-Dollar, um den Peso zu stabilisieren und der Kapitalflucht in den Dollar entgegenzuwirken. Dass die Zentralbank diesen Spielraum überhaupt wieder hat, liegt vor allem an den hohen Sojapreisen und dem allgemeinen Argentinien begünstigenden Anstieg der Rohstoffpreise im Jahr 2021. Über die Exporte auf dem Weltmarkt spülten diese der Zentralbank Dollars in die Kassen.
Der im Herbst 2020 verordnete Sparkurs von Guzmán funktionierte in Teilen. Zumindest der Dólar blue fiel wieder auf 140 Peso. Die Inflation, die durch die hohen, nicht durch Rücklagen gedeckten, Staatsausgaben angeheizt wurde, stieg 2021 wieder Richtung 50 Prozent, nachdem der Wirtschaftseinbruch infolge der Corona-Pandemie sie 2020 auf 36 Prozent gedrückt hatte – begleitet von steigender Arbeitslosigkeit und Armut. Inzwischen leben 42 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Vor allem die steigenden Lebensmittel- und Kraftstoffpreise drücken auf das Realeinkommen und die Kaufkraft vor allem derjenigen, die einen Großteil ihres Einkommens für Essen und Transport ausgeben müssen. Es sind nicht nur Menschen aus dem informellen Sektor, die betroffen sind, sondern mehr als in vergangenen Krisen kommt es zu einer Verarmung von Beschäftigten in regulären Arbeitsverhältnissen, die unter anderem wegen Kurzarbeit nicht mehr ihren Lebensunterhalt über der Armutsschwelle sichern können. Die Zeiten, in denen die Armutsrate stark zurückging, als sie unter den mitte-links Regierungen von Néstor Kirchner (2003-2007) und Cristina Kirchner (2007-2015) unter 30 Prozent gedrückt werden konnte, sind lange vorbei.
Cristina Kirchner amtiert in der jetzigen Regierung als Vizepräsidentin. Sie selbst hatte ihren parteiinternen Rivalen Alberto Fernández im Mai 2019 strategisch geschickt auf das Kandidatenschild gehoben und so über die Einigung des peronistischen Lagers den Weg zum Wahlsieg geebnet. Seitdem hielt sich die ehemalige Präsidentin im Hintergrund. Nach der klaren Niederlage der peronistisch-kirchneristischen Regierungskoalition Frente de Todos (Bündnis von allen) bei den Vorwahlen zum Kongress am diesjährigen 12. September meldete sie sich jedoch in einem offenen Brief mit geharnischer Kritik zu Wort. Sie monierte unter anderem eine «falsche Sparpolitik», die Folgen für die Gesellschaft und auch die Wahlen habe. Sie habe Präsident Fernández immer gesagt, dass die angespannte soziale Lage und wachsende Armut beunruhigend sei, schrieb sie auf ihrer Website. Der gemaßregelte Präsident reagierte darauf mit einer umfassenden Kabinettsumbildung, wie sie Kirchner unverblümt gefordert hatte, hielt aber trotz starken Widerständen an Guzmán fest. Und auf Twitter stellte Alberto Fernández klar: «Die Regierungsführung wird sich nach meinem Ermessen entwickeln. Dafür bin ich gewählt worden.» Aufgehoben ist der Machtkampf zwischen Präsident und Vizepräsidentin damit nicht, lediglich aufgeschoben bis nach der zweiten Runde der Kongresswahlen am 14. November.
Guzmán, den der Präsident Alberto Fernández aus dem akademischen Bereich direkt ins Ministeramt gehievt hatte, steht nicht grundsätzlich für Sparpolitik, sondern für eine pragmatische, den Zwängen der Finanzmärkte angepasste Finanzpolitik mit gerade so viel Sozialpolitik wie von ihm für vertretbar gehalten. Unterm Strich heißt das, so viel Sozialausgaben, wie es die Inflations- und Wechselkursziele zulassen. Hohe Inflationsraten machen nicht zuletzt den Überlebenskampf der Ärmsten noch schwerer kalkulierbar, weil es keinen Sinn macht, einen Notgroschen in einer schnell an Wert verlierenden Währung wie dem Peso anzulegen.
Zu Beginn der Pandemie im März 2020 stockte die Regierung die Programme für auf Unterstützung angewiesene Menschen auf. Schon zuvor war Ende Dezember 2019 kurz nach Regierungsantritt am Tag der Menschenrechte – dem 10. Dezember – eine der ersten Maßnahmen der Regierung die Verabschiedung des Plans «Argentinien ohne Hunger». Mindestens 2,3 Millionen Familien mit Kindern erhalten inzwischen eine monatliche Unterstützung in Form von Lebensmittelkarten. Damit können sie für einen festgelegten Betrag jede Woche Nahrungsmittel in den Supermärkten einkaufen.
Außerdem hatte die Regierung trotz der prekären Schuldensituation ein Hilfspaket für die Wirtschaft geschnürt. Dafür stellte sie umgerechnet knapp zehn Milliarden Euro zur Verfügung. Das Paket umfasste Investitionen in die Infrastruktur, Steuererleichterungen für Unternehmen, eine Erhöhung des Kindergeldes und günstige Kredite. Arbeitgeberbeiträge wurden gesenkt, Gehaltszahlungen anteilig übernommen, das Arbeitslosengeld erhöht, Zuschüsse für Selbstständige und Beschäftigte im informellen Sektor sowie Sonderzahlungen für medizinisches und Pflegepersonal beschlossen.
Die dringend notwendigen Ausgaben trieben die Inflation in die Höhe und brachten den Wechselkurs im Oktober 2020 so stark unter Druck, dass Guzmán einer weiteren Erhöhung der Ausgaben entgegentrat, auch weil er sich mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) in Verhandlungen über eine Umschuldung befand und immer noch befindet. Im Dezember 2020 wurde ein einmaliger sogenannter Solidaritätsbeitrag im Kongress verabschiedet: Eine einmalige Abgabe für Reiche, deren Vermögen 200 Millionen Pesos (2,17 Millionen Dollar) übersteigt. Auf umgerechnet drei Milliarden Euro bezifferte die Regierung die dadurch erwarteten Einnahmen.
Argentinien ist der mit Abstand größte Schuldner des IWF. In der Krise 2018 gewährte der IWF auf Betreiben des US-Präsidenten Donald Trump der neoliberalen Regierung von Präsident Mauricio Macri einen Beistandskredit in der Rekordhöhe von 57 Milliarden Dollar, von denen 44 Milliarden abgerufen wurden. Die Regierung von Alberto Fernández verzichtet auf die ausstehenden 13 Milliarden Dollar und verhandelt seit ihrer Regierungsübernahme über eine Neustrukturierung der Schuldenlast, um den Schuldendienst aus Tilgungs- und Zinszahlungen zu strecken und erträglicher zu gestalten. Eine Einigung steht noch aus. Nach den Teilwahlen zum Kongress am 14. November sollen die Verhandlungen in die Endphase gehen.
Einen Teilerfolg bei der Neustrukturierung der immensen Auslandsverschuldung von 323 Milliarden Dollar, die die Regierung Fernández 2019 geerbt hat, erzielt Guzmán im vergangenen Jahr. 93,5 Prozent der Gläubiger*innen hatten das Umschuldungsangebot der argentinischen Regierung bis Ende August angenommen. Bei Lichte betrachtet hat Argentiniens Regierung wohl das herausverhandelt, was in der Lage 2020 möglich war. Eine harte Haltung wie sie die Regierung von Néstor Kirchner ab 2003 bei den Verhandlungen an den Tag legte, konnte sich die Regierung dieses Mal wegen der Pandemie nicht leisten.
2020 ging Argentiniens Regierung unter Guzmáns Verhandlungsleitung vorsichtiger vor. «Unser Angebot umfasst eine dreijährige tilgungsfreie Zeit, eine 5,5-prozentige Reduzierung des Anleihekapitals und eine 62-prozentige Reduzierung der Zinszahlungen. [...] Kurz gesagt, wir verlangen von unseren Gläubigern nicht, dass sie verlieren, sondern dass sie weniger verdienen», schrieb der Finanzminister in einem Gastbeitrag der Financial Times. Der 37-jährige Guzmán hatte vor seinem Wechsel in die Politik bis 2019 als Mitarbeiter des Wirtschaftsnobelpreisträgers und früheren Chefökonoms der Weltbank Joseph E. Stiglitz an der Columbia University in den USA zu Lösungen für die Schuldenkrisen von Staaten geforscht. «Die Zeit der Illusionen ist vorbei. In der neuen Covid-19-Welt können wir nicht weiterhin 20 Prozent der Staatseinnahmen oder mehr für die Schuldentilgung ausgeben – wie es einige Gläubiger effektiv gefordert haben. Es ist einfach unmöglich», hatte Guzmán in seinem Artikel die Forderung nach Umschuldung begründet.
Doch aus den ursprünglich von Buenos Aires und Guzmán geforderten 62 Prozent Forderungsverzicht sind dem Vernehmen nach nur 45 Prozent geworden. Und selbst das hört sich nach mehr an, als es ist – auf dem Sekundärmarkt werden argentinische Staatsanleihen unter 40 Cent pro Dollar gehandelt, sprich gut 60 Prozent unter dem Nominalwert. Das Verhandlungsergebnis lag damit um 15 Prozent über dem Marktwert, was die Gläubiger*innen freut.
Argentinien hat sich mit der Einigung vor allem Zeit gekauft: Es muss 2021 bis 2023 mit etwa 4,5 Milliarden Dollar nur einen vergleichsweise geringen Teil der in diesem Zeitraum eigentlich fälligen 41 Milliarden Dollar Schuldendienst begleichen. Das verschafft dem Land in der derzeitigen Wirtschaftskrise eine Atempause. Eine nachhaltige Lösung des Schuldenproblems ist das Ergebnis nicht: Argentinien zahlt weiter, soviel es eben kann, nur eben später. Und das Problem der steigenden Verschuldung privater Haushalte in Argentinien bleibt davon ohnehin unbenommen. Der erleichterte Zugang zu Konsument*innenkrediten und der Wegfall von staatlichen Unterstützungsleistungen in der Macri-Ära hat auch wenig betuchte Haushalte zur Aufnahme von Schulden gezwungen, um ihre Grundbedürfnisse decken zu können. Durch den Wegfall von Einkommen in der Corona-Pandemie wurden viele private Haushalte in die Zahlungsunfähigkeit getrieben. Bereits im April 2020 konnten laut der Zeitung Clarín 90 Prozent der Privathaushalte ihre diversen Versicherungsprämien nicht mehr zahlen, 60 Prozent konnten sich die Schulgebühren für die Kinder nicht mehr leisten und 50 Prozent waren nicht mehr in der Lage, die Monatsmiete zu stemmen. Seitdem haben sich weitere Privatschulden aufgetürmt. 70 Prozent der Befragten gaben in einer gemeinsamen Studie der CEPAL (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik) und der Universität San Martín an, sich während der Pandemie zwischen März und Juni 2021 für Medikamente und Lebensmittel verschuldet zu haben. Eine weitere soziale Baustelle für die Regierung Fernández, wo die Antworten ausstehen. Auch private Haushalte werden Umschuldungen benötigen, um der Privatinsolvenz zu entgehen.
Für die Verhandlungen mit dem IWF hat Guzmán jetzt ein Problem mehr. Nach den verlorenen Vorwahlen drängt der Flügel um Cristina Kirchner zu einer Abkehr vom Konsolidierungskurs, den der IWF für ein Entgegenkommen fordert. Bis Ende August habe Guzmán weniger als die Hälfte des im Haushalt 2021 veranschlagten Defizits ausgeschöpft, kritisierte Kirchner. Guzmán nutzte die zusätzlichen Einnahmen aus den Exportsteuern für Getreide- und Ölsaaten zur Stabilisierung des Finanzsektors, anstatt sie in Maßnahmen zur Unterstützung der Teile der Bevölkerung zu investieren, die spätestens seit der Pandemie auf staatliche Sozialleistungen angewiesen sind.
Gegenüber dem IWF standen im Herbst 2021 zwei Zahlungen in Höhe von 3,8 Milliarden Dollar aus. Diese wurden Ende September mit einem Teil der Sonderziehungsrechte bezahlt, die Argentinien wie andere bedürftige Länder Ende August vom IWF erhalten haben. Sonderziehungsrechte sind quasi eine Erweiterung des Kreditrahmens seitens des IWF, die aufgrund der Coronakrise gewährt werden.
Dass Guzmán Sparen nicht über alles setzt, zeigt sein Haushaltsansatz für 2022. Das sieht ein Primärdefizit des Bruttoinlandsproduktes von 3,3 Prozent vor – also noch ohne Berücksichtigung des Schuldendienstes. Die anfallenden Zins- und Tilgungszahlen treiben das Defizit weiter in die Höhe. Von einer schwarzen Null ist Guzmáns Vorgehen also weit entfernt. Auch eine Peso-Abwertung von 30 Prozent wird dort angenommen. Guzmán geht davon aus, dass die Aufwärtsentwicklung 2021 nach dem Krisenjahr 2020 mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von mehr als zehn Prozent auch 2022 anhält. Eine Einigung mit dem IWF und keine neuen Corona-Restriktionen wären hilfreich.
Guzmán gilt als herausragender Theoretiker und als undogmatisch, einer, der die Methoden an die Probleme anpasst. Sein erklärtes Ziel: die Schuldenprobleme zu lösen, ohne den ärmsten Argentinier*innen noch mehr Opfer abzuverlangen. Noch ist dieses Ziel in weiter Ferne.
Rund um die Herbsttagung von IWF und Weltbank in Washington wurde Guzmán am 12. Oktober erneut bei der IWF-Chefin Kristalina Georgieva vorstellig. Dabei kamen sie überein, weiter an der Entwicklung eines glaubwürdigen Schuldenrückzahlungsplans zu arbeiten. 19 Milliarden Dollar wären 2022 beim IWF eigentlich fällig. Es ist klar, dass Argentinien diese Summe nicht aufbringen kann, ohne große soziale Verwerfungen in Kauf zu nehmen. Guzmáns Mentor Joseph E. Stiglitz spricht dem neuen Abkommen Argentiniens mit dem IWF Modellcharakter zu. Die neue Vereinbarung werde einen «neuen IWF» widerspiegeln, «der anerkennt, dass die Sparpolitik nicht funktioniert, und der seine Besorgnis über die Armut anerkennt.» Doch noch gibt es dieses Abkommen nicht.