Das Versprechen ist groß: Argentinien habe die Chance, schon bald die Wirtschaftskraft und den Wohlstand Deutschlands zu erreichen. Dazu müssten jetzt lediglich das Parlament und die Gerichte seine Vorschläge akzeptieren, erklärte Javier Milei Mitte März des Jahres.
Dabei stehen die heftigen Auswirkungen der Schocktherapie, die der neue argentinische Präsident dem Land verordnet hat, bereits jetzt vielen Menschen buchstäblich ins Gesicht geschrieben: Denn da sie nicht wissen, wie sie durch den Monat kommen sollen, breitet sich nackte Verzweiflung aus. Betroffen von den Schockwellen sind vor allem die unteren Gesellschaftsschichten, aber auch die Mittelklasse, die auf ihre eisernen Reserven zurückgreifen muss.
Der rechtslastige Milei, ein ultraliberaler Jünger Friedrich Hayeks, macht seinen Vorgänger, den glücklosen Peronisten Alberto Fernandéz, für diese Entwicklung verantwortlich. Dabei hat er selbst die Krise massiv verschärft, indem er gleich nach seinem Amtsantritt die Landeswährung Peso drastisch abwertete; ihr Wertverlust gegenüber dem US-Dollar hält seitdem an. Auch andere Sofortmaßnahmen Mileis haben den Absturz der Wirtschaft beschleunigt, vor allem die Aufhebung der Preisbindung für Grundnahrungsmittel und das abrupte Ende von Subventionen, das die Kosten für Transportmittel, Gas, Strom und Wasser geradezu explodieren ließ. Selbst den von Nichtregierungsorganisationen betriebenen Suppenküchen für die Bedürftigsten strich Milei die Hilfe. Der selbst ernannte «Kettensägen-Mann» hat also bereits in den ersten 100 Tagen seiner Amtsführung viel Schaden angerichtet.
Torge Löding leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires.
Milei auf Crashkurs
Viele Beobachter*innen vergleichen die aktuelle Krise Argentiniens mit jener der späten 90er Jahre. Aber neben Parallelen gibt es auch gewichtige Unterschiede: Damals hatte die Arbeiterklasse erst begonnen, sich von der vollständigen Zerschlagung ihrer Organisationen unter der brutalen Militärdiktatur (1976-83) zu erholen, die Gewerkschaften konnten der Implementierung der neoliberalen Agenda nur wenig entgegensetzen – bis es schließlich 2001 zur sozialen Rebellion kam.
So weit ist Argentinien derzeit zwar noch nicht, aber angesichts der wirtschaftlichen Misere regt sich vielerorts bereits Widerstand. Der argentinische Alltag ist – trotz der Verschärfung der Sicherheitsprotokolle, die Demonstrationen erschweren soll – geprägt von Streiks und Protesten. Weil der Präsident es mit seinem Crashkurs auf Konfrontation anlegt, dürfte es in den kommenden Wochen vermehrt zu Zusammenstößen kommen.
Seine Stärke zieht Milei primär aus seinem überzeugenden Wahlerfolg; schließlich gewann er die Stichwahl mit einem Vorsprung von fast zwölf Prozent gegenüber dem Kandidaten des peronistischen Lagers, Ex-Wirtschaftsminister Sergio Massa. Unterstützung für seine brutale Strukturreform des argentinischen Kapitalismus erhält er folglich nicht nur von seiner Partei La Libertad Avanza («Die Freiheit schreitet voran»), sondern auch von großen Teilen seiner radikalisierten Wählerschaft. Für das Unternehmerlager handelt es sich bei der Strukturreform gar um eine «historische Notwendigkeit», denn in Argentinien wirkten die sozialen Proteste von 2001 als «Bremse für weitergehende Privatisierungen, wie sie sonst fast überall in Lateinamerika durchgeführt wurden», sagt Hernán Ouviña, Sozialwissenschaftler an der Universidad de Buenos Aires. In der Tat ist Argentinien eines der wenigen Länder Lateinamerikas, in dem es ein öffentliches Gesundheits- und Bildungssystem gibt und zumindest teilweise gelungen ist, die Rentenkassen wieder in die öffentliche Hand zu überführen. Diese Errungenschaften habe auch die rechtskonservative Regierung Mauricio Macris (2015-2019) aufgrund der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nicht beseitigen können, meint Ouviña.
Macris «Gradualismus» sei heute überholt, findet Milei – und der Ex-Präsident von der rechtskonservativen Propuesta Republicana («Republikanischer Vorschlag») pflichtet ihm bei. Macri hatte sich bereits im Wahlkampf Milei angenähert und gilt als der Brückenbauer zwischen den beiden Parteien, deren Bündnis Mileis Wahlsieg im November 2023 überhaupt erst möglich machte. Auch wenn viel spekuliert wird über den Geisteszustand des Präsidenten, der offenbar schnell aus der Haut fährt (und seinen verstorbenen Hund so sehr vermisst, dass er ihn geklont hat), ist sich Ouviña sicher:
Es handelt sich hier nicht einfach um das Projekt eines Verrückten, sondern um die konsequente Umsetzung eines aus Unternehmersicht notwendigen Plans.
Milei bezeichnet seinen Kurs der Zerstörung von Sozialstaat und demokratischen Institutionen als «Kampf gegen die Kaste». Mit diesem Framing trifft er nicht nur in Argentinien auf Zustimmung, sondern auch in den internationalen Alt-Right-Netzwerken. Milei ist dem Bolsonaro-Clan eng verbunden und ein Fan Donald Trumps. In seiner Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos bediente er am 17. Januar dementsprechend die wichtigsten Topoi der internationalen Rechten, hetzte gegen Klimapolitik und Feminismus. Sozial- und Christdemokrat*innen seien für ihn dasselbe wie Faschist*innen, meinte Milei: «Alles Kollektivisten».
Dennoch: Der Präsident kann keineswegs «durchregieren». In den beiden Parlamentskammern verfügt er nicht über die Mehrheit; seine Partei stellt nur wenige Abgeordnete und keinen einzigen Gouverneur oder Bürgermeister.
Stärke zieht er allein aus der Allianz mit dem rechtsbürgerlichen Lager. Aber auch diesem Bündnis sind enge Grenzen gesetzt, wie das Scheitern seines «Omnibusgesetz»-Pakets im Parlament zeigte. Durch dieses sollte der Präsident mehr Kompetenzen erhalten, um frei von störenden Verhandlungen im Parlament regieren zu können. Außerdem sollte die Umsetzung der Privatisierungen und Umstrukturierungen, die er bereits via Dekret erlassen hatte, näher definiert werden. Als das Parlament am 7. Februar mit klarer Mehrheit für den «Omnibus» votierte, sah alles nach einem durchschlagenden Erfolg für Milei aus. Doch direkt im Anschluss folgte die herbe Niederlage: Denn in den Abstimmungen über die einzelnen Maßnahmen kam keine Mehrheit zustande, und die Regierung sah sich gezwungen, das Gesetzespaket zurückzuziehen.
Im Anschluss an diese Niederlage eskalierte der Streit zwischen dem Präsidenten und den Gouverneuren, die sich gegen den «Omnibus» gestellt hatten. Milei fühlte sich von ihnen verraten und begann den Provinzen – unabhängig von der politischen Ausrichtung ihrer jeweiligen Regierung – den Geldhahn zuzudrehen. Jetzt fehlen dort die Mittel, um etwa die Staatsbediensteten zu bezahlen oder das öffentliche Transportwesen zu finanzieren. Das angespannte Verhältnis der Gouverneure zum Präsidenten schwankt seitdem zwischen Verhandlungsbereitschaft und offener Rebellion.
Die Krise des Peronismus
Die parlamentarische Opposition zerfällt in zwei Strömungen. Zur «harten Opposition» zählen derzeit 104 der insgesamt 257 Parlamentsabgeordneten, vor allem der Block der 99 peronistischen Parlamentarier*innen der Unión por la Patria («Einheit für die Heimat»), deren politische Ausrichtung von links bis Mitte-rechts reicht. Hinzu kommen die fünf Mandatsträger*innen der trotzkistischen Frente de Izquierda y de Trabajadores Unidad («Linke und Arbeiterfront – Einheit»). Ein anderer, 73 Abgeordnete zählender Teil der Opposition, zu dem die Liberalen sowie eine Reihe kleinerer Parteien zählen, gibt sich «verhandlungsbereit».
Im öffentlichen Disput halten sich die bekanntesten Gesichter des Peronismus bislang sichtlich zurück. Der Parteivorsitzende, Ex-Präsident Alberto Fernandéz, weilt seit geraumer Zeit in Europa, Wahlverlierer Massa übt sich in moderaten Tönen, Ex-Präsidentin Cristina Fernandéz meldete sich jüngst mit einem offenen Brief zu Wort und signalisierte ihre Verhandlungsbereitschaft bei der Arbeitsrechtsreform. Lediglich in den Regionen versuchen peronistische Gouverneure – allen voran jene von Rioja und Buenos Aires –, sich als entschlossene Gegenspieler Mileis zu profilieren. Doch auch deren Auftritte können nicht über die schwere Krise hinwegtäuschen, in die der Peronismus durch die Wahlniederlage geraten ist.
Während die peronistischen Granden wenig Zuversicht ausstrahlen, mobilisieren die Gewerkschaften zum Widerstand. Am 25. Januar kam es bereits zu einem ersten Generalstreik – vor allem im öffentlichen Sektor mit seinen 3,5 Millionen Beschäftigten, auf den sich Mileis Angriffe konzentrieren. Auch unter den insgesamt 6,5 Millionen Beschäftigten der Kernindustrie, die sich vor allem im Industriegürtel um Buenos Aires oder Cordoba konzentrieren, rufen die Gewerkschaften ihre Mitglieder zu Protesten auf.
Widerstand regt sich inzwischen auch an der Basis der peronistischen Partei, wo der Sprecher der Gewerkschaft der prekär Beschäftigten (UTEP), Juan Grabois, zum Hoffnungsträger eines «Peronismus von unten» geworden ist. Die UTEP organisiert die Arbeiter*innen des informellen Sektors, dem etwa die Hälfte der rund 20 Millionen Beschäftigten zugerechnet werden.
Grabois gilt auch deshalb als Hoffnungsträger, weil Milei gerade im Milieu der Prekarisierten viele Wählerstimmen gewinnen konnte, indem er an die hier reichlich vorhandene Unzufriedenheit anknüpfte. Seine Kritik am «System» und an der «Kasted traf ebenso auf einen fruchtbaren Nährboden, wie seine Rede vom Aufschwung durch die Dollarisierung der Wirtschaft. Viele glaubten ihm gar das Versprechen, der privilegierte Teil der Bevölkerung werde die Kosten der Krise tragen.
Aber in seinen ersten 100 Tagen im Amt hat Milei bereits demonstriert, wie wenig ihn sein Geschwätz von gestern angeht. Er hat sich mit ebenjenen Teilen der «Kaste» verbündet, die er im Wahlkampf geißelte – und lässt, einmal im Amt, nicht die Privilegierten, sondern die breite Bevölkerung für die Kosten der Krise aufkommen.
Milei posiert gern als Ultraliberaler, der einen übergriffigen Staat bekämpfen will. Aber er benötigt für seinen Umbau den starken ebenso wie den schwachen Staat: stark in der selektiven Repressionsfähigkeit und in der Militarisierung, schwach in der Umverteilung und sozialen Absicherung. Ob er sein Projekt des Staatsumbaus durchsetzen kann, ist indes offen. Die zahlreichen Proteste und Streiks haben gezeigt, dass es durchaus breiten Widerstand gibt. Noch fehlt der gesellschaftlichen und parlamentarischen Opposition jedoch eine gemeinsame Agenda, die die breiten Massen begeistern und für den Kampf gegen den Präsidenten mobilisieren kann. Das aber wird – schon angesichts der Unterstützung, die der Präsident im Unternehmerlager genießt – nötig sein, will man Milei besiegen.
Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.