Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Europa - Osteuropa Der Hoffnungslauf der Opposition

Vorwahlen in Ungarn

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Foto: Bildercollage von Hungary Today: Die fünf oppositionellen Kandidierenden Fekete-Győr, Jakab, Dobrev, Karácsony, and Márki-Zay (von links nach rechts) (via MTI und Facebook)

In den letzten Monaten hat sich die vereinte ungarische Opposition zu einer politischen Innovation entschlossen: Sie hat nämlich ihren gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten im Rahmen eines zweistufigen Vorwahlverfahrens von der oppositionellen Wählerschaft auswählen lassen. Die einzelnen Direktkandidat*innen der Opposition für die Parlamentswahl im April 2022 hingegen wurden in einer Runde im September nach dem einfachen Mehrheitswahlrecht bestimmt.

Die Vorwahlen waren wegen des von der Regierungsmehrheit verabschiedeten Wahlrechts notwendig geworden. Laut dem aktuell gültigen Wahlgesetz werden die Direktmandate statt in den bis 2010 üblichen zwei Wahlgängen nur noch in einem einzigen bestimmt. Auf Grundlage dieses Verfahrens hatten die heterogenen Kräfte der Opposition keine Chance, die Wahlen 2014 oder 2018 – oder auch jene in 2022 – zu gewinnen.

Noch vor drei Jahren waren manche Mitglieder des neuen Oppositionsbündnisses in entscheidenden politischen Fragen zutiefst zerstritten. In ihrer Spaltung war die Opposition dazu verdammt, eine Wahl nach der anderen zu verlieren. Mittlerweile jedoch haben die unterschiedlichen Kräfte in ihrem Bemühen, die Regierung Orbán zu stürzen, zueinander gefunden. In jedem Fall stärkt die Erkenntnis, dass nur ein Bündnis eine effiziente Wahlstrategie darstellt, die ungarische Opposition.

Potenzielle Herausforderer von Regierungschef Viktor Orbán benötigten 20.000 Unterstützungsunterschriften, um auf den Wahlzettel der Vorwahl zu gelangen; die Direktkandidat*innen der sechs miteinander verbündeten Parteien brauchten jeweils 4.000 Unterschriften. Alle Wahlberechtigten, die bis April 2022 ihr 18. Lebensjahr vollenden, konnten entweder in einem der rund 775 Wahlzelte oder online an den Vorwahlen teilnehmen.

Im ersten Wahlgang gaben schließlich mehr als 633.000 Bürger*innen ihre Stimme ab. Für das Amt der Ministerpräsidentin bzw. des Ministerpräsidenten traten eine Politikerin und vier Politiker an. Der Jüngste von ihnen war der Vorsitzende der liberalen, noch außerparlamentarischen „Momentum“-Bewegung, András Fekete-Győr. Der 33-jährige Jurist musste sich angesichts seiner mangelnden politischen Erfahrung mit einem Ergebnis von lediglich 3,8% zufriedengeben. Péter Jakab, der Vorsitzende der ehemals rechtsradikalen, in den letzten Jahren jedoch in Richtung Mitte gerückten Partei „Jobbik“ war besonders in den kleinen Gemeinden populär; weil es dort aber nur eine niedrigere Wahlbeteiligung gab, erreichte er nur knapp 15% der Stimmen. Ein weiterer Konkurrent war Péter Márki-Zay, der Bürgermeister der in Süd-Ungarn gelegenen Kleinstadt Hódmezővásárhely. Viele meinten, er könne mit seiner konservativ-bürgerlichen Haltung auch unentschlossene und ehemalige Fidesz-Wähler*innen gewinnen. Im ersten Wahlgang erreichte Márki-Zay 20% und zog damit, zur Verwunderung vieler politischer Beobachter*innen, in die Stichwahl.

Die meisten Beobachter*innen waren der Ansicht gewesen, dass der Budapester Oberbürgermeister Gergely Karácsony – der als Kandidat der ehemaligen Regierungspartei MSZP und der linksgrünen Partei Párbeszéd, unterstützt von der rechts-grünen Partei LMP, antrat – aufgrund seiner auf Kompromisse orientierten, zuvorkommenden Persönlichkeit bei der Parlamentswahl der aussichtsreichste Spitzenkandidat der Opposition sei; er blieb aber im ersten Wahlgang auch hinter Klára Dobrev, der Kandidatin der Partei „Demokratische Koalition“, zurück. Die Ehefrau von Ferenc Gyurcsány, dem ehemaligen Ministerpräsidenten und größten politischen Gegner Orbáns, vertrat als einzige Bewerberin konsequent den Standpunkt, dass das vom Fidesz 2011 geschaffene ungarische Grundgesetz verfassungswidrig sei, da es einer einzigen Partei ermögliche, alle Macht an sich zu reißen – was Orbán mit seinem Fidesz bekanntlich auch gelungen war. Da die Opposition in der nächsten Legislaturperiode indes mit keiner Zweidrittelmehrheit rechnen könne, dürften das Grundgesetz und jene Gesetze, für deren Änderung eine Zweidrittelmehrheit vonnöten sei, mit absoluter Mehrheit geändert werden. Diese Ansicht wird von einigen Juristen mit der sogenannten Radbruch’schen Formel untermauert, die besagt, dass „extremes Unrecht kein Recht“ sei und das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen habe. Es gehe bei der Wahl, so Dobrev, nicht nur darum, die Regierung Orbán abzulösen, sondern es brauche auch einen Systemwechsel vom autokratischen Orbán-Regime zurück zur europäischen Demokratie. Klára Dobrev ging aus dem ersten Wahlgang mit knapp 35% der Stimmen als klare Siegerin hervor.

Nachdem kein*e Kandidat*in im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen konnte, fand im Oktober eine Stichwahl statt, bei der die drei Bestplatzierten aus dem ersten Wahlgang antreten konnten; mit 662.000 Wähler*innen beteiligten sich sogar noch mehr Bürger*innen als beim ersten Wahlgang. Dabei gelang es Péter Márki-Zay offensichtlich, mehr Neuwähler*innen zu mobilisieren und die Vorwahl mit 56,7% der Stimmen für sich zu entscheiden. Der Zweitplatzierte des ersten Wahlganges, Gergely Karácsony, hatte kurz vor dem Wahlgang seinen Rücktritt zugunsten von Márki-Zay erklärt, um einen Sieg Klára Dobrevs zu verhindern. Einer in der Opposition weit verbreiteten These zufolge kann die Opposition mit einer Spitzenkandidatur Dobrevs die Parlamentswahl gegen Orbán nicht gewinnen, da sie als Ehefrau von Ferenc Gyurcsány, gegen den der Fidesz seit vielen Jahren eine Hetzkampagne führt, besonders angreifbar ist. Offenbar waren es vor allem die jungen Wähler*innen, die der Orbán-Gyurcsány-Dichotomie der ungarischen Innenpolitik überdrüssig waren und mit Márki-Zay einen Außenseiter bevorzugten. Die Gruppe der Jungen machte etwa ein Drittel der Wähler*innen im zweiten Wahlgang aus.

Ob die Kandidatur des rechtskonservativen, aber für Inhalte der politischen Mitte offenen Márki-Zay der Opposition zum Sieg verhelfen kann, wird sich im kommenden Mai erweisen. Bis dahin stehen Ungarn spannende politische Monate bevor.