Analyse | Globalisierung - China - Die Neuen Seidenstraßen Die «Digitale Seidenstraße»: Herausforderungen und Chancen für Zentralasien

Wie China die digitale Weltordnung reformieren möchte

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Autorin

Leyla Muzaparova,

Eine Frau steht in einer Messehalle vor einem Monitor, auf dem sie mit der Hand etwas auswählt. Der Monitor wird von einer Roboterfigur gehalten, die die Frau mit einem künstlichen aber menschlich wirkendem Gesicht anlächelt.
Eine Frau bedient einen Info-Roboter auf der dritten Internationale Seidenstraße Ausstellung , die im Mai 2018 in Xi'an, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Shaanxi im Nordwesten Chinas stattfand. picture alliance / Xinhua News Agency: Shao Rui

Das Projekt der «Neuen Seidenstraße» sieht nicht nur die Schaffung logistischer Netzwerke, sondern auch einer digitalen Infrastruktur vor. 2015 wurde von der Volksrepublik China die «Digitale Seidenstraße» (Digital Silk Road, abgekürzt DSR) ins Leben gerufen. Die Größenordnung der Investitionen zeugt von einem enormen Interesse Beijings an der Entwicklung dieses Vorhabens: Laut Angaben des Internationalen Instituts für strategische Studien (IISS) ist China bereits mit ca. 79 Milliarden US-Dollar an DSR-Projekten in etwa 80 Ländern weltweit beteiligt.

Reform der digitalen Weltordnung

Die Initiative soll es Beijing ermöglichen, die digitale Weltordnung zu reformieren, unter anderem, indem neue Märkte für Technologieriesen wie Alibaba, Tencent oder Huawei erschlossen werden.

Die Umsetzung der «Digitalen Seidenstraße» geht mit den Programmen «Made in China 2025» und «Chinese Standards 2035» einher und zielt darauf ab, Produktionskapazitäten und Innovationskraft auszubauen. Mithilfe von «Made in China 2025» wollte China in diversen Branchen, etwa Robotik, Luftfahrt, Werkstofftechnologie oder Energiewende im Verkehr, den Anschluss an andere Länder finden. Durch das Programm gegründete wettbewerbsfähige Unternehmen sollen es mit westlichen Global Playern im Bereich modernster Technologien aufnehmen können. Das Programm «Chinese Standards 2035» bildet die nächste Etappe, bei der in China entwickelte Technologiestandards im Ausland vermehrt Anwendung und Verbreitung finden sollen.

China strebt nach mehr Unabhängigkeit von den traditionellen Technologienationen, also den westlichen Ländern. Das DSR-Programm soll chinesischen Tech-Firmen dazu verhelfen, ihre internationale Position zu stärken und Investitionen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie anzuziehen.

Leyla Muzaparova promovierte in Wirtschaftswissenschaften und arbeitet als Projektmanagerin im Zentralasienbüro der Rosa Luxemburg Stiftung in Almaty

Einfluss auf andere Staaten

Auch der Raum Zentralasiens wird von der «Digitalen Seidenstraße» abgedeckt. Nachdem sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit verstärkt und die chinesischen Investitionen im Rahmen der «Neuen Seidenstraße» zugenommen haben, ist seit 2017 auch ein struktureller Einfluss der DSR auf die Digitalisierungsstrategien der zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan zu beobachten.

Das DSR-Programm birgt großes Potential für diese Region. Die fünf finanzschwachen Entwicklungsländer stehen bei der Digitalisierung ihrer Volkswirtschaften und ihres öffentlichen Sektors noch am Anfang und sind naturgemäß an einfachen und effektiven Lösungen interessiert, besonders nachdem die sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen durch die COVID-19-Pandemie weiter zugenommen haben. Vor diesem Hintergrund erweisen sich chinesische Produkte im Bereich Informations- und Kommunikationstechnik (ITK) als attraktiv und erschwinglich, zumal chinesische Unternehmen bisweilen sogar bereit sind, ihre Dienstleistungen zu vergünstigten Konditionen oder sogar kostenfrei anzubieten. Russische Expert*innen heben zudem hervor, dass «chinesische Angebote im Gegensatz zu den Angeboten amerikanischer und europäischer Unternehmen keinen politischen Einschränkungen im Zusammenhang mit dem Schutz von Menschenrechen und ‹demokratischen Werten› unterliegen».

Digitale Technologien aus China sind in Zentralasien sehr gefragt und die engen politischen und wirtschaftlichen Verbindungen helfen beim Ausbau der Zusammenarbeit in diesem Bereich. Im gemeinsamen Kommuniqué der Außenminister aller fünf zentralasiatischer Länder sowie Chinas vom 17. Juni 2020 wurde u. a. auch eine intensivierte Zusammenarbeit im Rahmen der DSR-Pläne zugesichert. Zudem wird die digitale Expansion der Volksrepublik in Zentralasien durch «weiche» (Vereinheitlichung von Normen und Anforderungen) und «harte» (Aufbau von Kommunikationsnetzen) Maßnahmen zur infrastrukturellen Kopplung begünstigt, ebenso durch den dynamisch wachsenden internationalen Handel (einschließlich des E-Commerce) sowie die zunehmende Zusammenarbeit bei der Ausbildung von Fachkräften und dem Wissenstransfer im ITK-Bereich. Auch die verschiedenen von China initiierten und finanzierten IT-Foren (World Internet Conference, World Artificial Intelligence Conference, Smart China Expo, Digital China Summit, “Innovations for Digital Central Asia” Conference, China–Central Asia Cooperation Forum ) erlauben es chinesischen Unternehmen, ihre Produkte und Dienstleistungen erfolgreich zu vermarkten und auf zentralasiatischen Märkten zu dominieren.

Im Rahmen des vielversprechenden Kooperationsschwerpunkts DSR fokussieren sich chinesische Unternehmen u. a. auf 5G-Technologien, «intelligente Städte» (d. h. Städte mit intelligenter Infrastruktur und komplett digitaler kommunaler Verwaltung), «Internet der Dinge», Glasfasernetze, mobile Bezahlsysteme, Telekommunikation und digitale Zollverfahren. Eine weitere Priorität bildet der grenzüberschreitende Onlinehandel. Der Zahl diverser bilateraler ITK-Projekte nach zu urteilen, sind Usbekistan und Kasachstan die wichtigsten zentralasiatischen Partnerländer für die DSR-Initiative. In Kirgisistan und Tadschikistan fließen chinesische Investitionen vor allem in die Schaffung von «intelligenten Städten» und Telekommunikationsnetzen der neuen Generation. In Turkmenistan besteht das Hauptvorhaben in der Verlegung einer Glasfaserleitung unter dem Kaspischen Meer.

Kooperationen mit Marktführer Huawei

Von der Inkorporation chinesischer Technologien, Geräte und Überwachungs- und Kontrollmethoden versprechen sich die zentralasiatischen Regierungen in erster Linie eine Steigerung der Kapazitäten ihrer Staatsapparate. So steht aktuell auch Kasachstan, einst an der regionalen Spitze im Bereich der Digitalisierung, vor der Notwendigkeit einer digitalen Transformation, da seine Plattform für E-Government eGov.kz technisch obsolet und ihren Anforderungen nicht mehr gewachsen ist. Die digitale Verwaltung Kasachstans muss dringend auf eine zeitgemäße Cloud-Plattform umsatteln, um die technologische Entwicklung voranzubringen. Doch die massiven staatlichen Investitionen der letzten Dekade in den IT-Sektor reichen dafür nicht aus, und nun soll die Kooperation mit Huawei, einem Marktführer im Bereich cloudbasierter Plattformen, Abhilfe schaffen. Wegen der US-Sanktionen gegen Huawei konnte sich Kasachstan jedoch nicht direkt an das Unternehmen wenden. Deshalb wurde eine Kooperationsvereinbarung zwischen der kasachischen Regierung und dem russischen Finanzinstitut Sberbank geschlossen, dessen Cloud-Plattform von Huawei entwickelt wurde. Dies führte allerdings zu einer Welle der Empörung und der Regierung wurde vorgeworfen, mit dieser Vereinbarung ihre Unfähigkeit zu demonstrieren, die digitale Transformation eigenständig umzusetzen.

Als DSR-Flaggschiff in Zentralasien, nimmt Huawei heute die führende Position auf dem ITK-Markt dreier Länder der Region ein: Usbekistan, Kasachstan und Kirgisistan. Das Unternehmen beabsichtigt, «ein digitales Zentralasien aufzubauen und die intelligente Transformation der Region zu fördern». Mit Kultur- und Bildungsmaßnahmen übt der Konzern in den Ländern zudem Soft Power aus. So hält Huawei seit 2017 abwechselnd in den Hauptstädten der fünf Staaten den jährlichen «Zentralasiatischen Innovationstag» ab, eine Dialogplattform zur «Digitalen Seidenstraße» in Zentralasien, und ist bei Rekrutierung und Ausbildung von IT-Fachleuten aus der Region aktiv. Der Konzern wirbt in Zentralasien für die Notwendigkeit der digitalen Wende und der Schaffung von Smart Governments, dabei legt er ein besonderes Augenmerk auf die Umsetzung von «intelligenten Städten» und sucht in diesem Bereich verstärkt nach Kooperationspartnern vor Ort. Laut Huawei bilden diese Initiativen die Grundvoraussetzung für die Modernisierung zentralasiatischer Volkswirtschaften und chinesische Investitionen, und der Ausbau von G5-Netzen mithilfe chinesischer Technologien einen Katalysator für die Entwicklung des «Internets der Dinge» und der «intelligenten Städte».

Ungehemmte Gewinnmaximierung und Demokratieabbau

Die Einführung der Technologien, für die sich China im Rahmen von DSR starkmacht, löst zwar zweifelsohne die meisten Probleme der modernen Stadtverwaltung, kann aber andererseits auch negative sozioökonomische und politische Auswirkungen auf die fragilen Demokratien Zentralasiens haben. Denn im neoliberalen Paradigma ablaufende Digitalisierungsprozesse können den Demokratieabbau verschärfen und zu einer Technokratie führen, die ungehemmte Gewinnmaximierung ermöglicht, ohne negative sozioökonomische Folgen zu bekämpfen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass IT-Giganten (wie Huawei) das Modell «intelligente Stadt» vorantreiben, um aus den umfassenden Verträgen mit Staaten und kommunalen Verwaltungen sowie der Verwertung der von ihnen gesammelten Big Data Profit zu schlagen. Das führt zu einer weiteren Rollenverschiebung des Staates vom Leistungsträger zur Unterstützung sozial und finanziell benachteiligter Bevölkerungsgruppen hin zum Anbieter kommerzieller Dienstleistungen und Güter für Bürger*innen aus der Mittel- und Oberschicht. Internationale Erfahrungen zeigen zudem, dass in Städten, die eine großer Schere zwischen Arm und Reich aufweisen und deren Bevölkerung mehrheitlich in Armenvierteln wohnt (bspw. Rio de Janeiro), die bereits existierende soziale Ungleichheit durch die Digitalisierung nur weiter zugespitzt wird.

Am kontroversesten wird derzeit an der «intelligenten Stadt» das integrierte Überwachungskamerasystem mit Gesichtserkennung diskutiert, v. a. in Hinsicht auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte und der drohenden Zunahme von Polizeikontrolle. Nicht nur Bürgerrechtsaktivist*innen in Zentralasien sind sich bereits dieser Gefahren bewusst und sind darüber alarmiert, dass Regierungen und Konzerne neue Instrumente zur Kontrolle und Manipulation der Bevölkerung erhalten könnten.

Was passiert mit den Daten?

Hinzu kommt noch, dass die chinesischen Technologie-Anbieter häufig ihre eigene Überwachungsausrüstung lancieren, was die lokalen Zivilgesellschaften noch mehr aufhorchen lässt. So gibt es sowohl in Fachkreisen als auch in der Bevölkerung der Region Besorgnis in Bezug auf die Speicherung und Sicherheit der Daten, die von chinesischen Unternehmen im Rahmen von digitalen Kooperationsprojekten gesammelt werden. Misstrauen und Spekulationen über mögliche Überwachung der Bevölkerungen mit Hilfe von chinesischen ITK-Technologien, begleitet von gelegentlich aufflammender Sinophobie, bleiben nicht ohne Folgen für die Umsetzung der «Neuen Seidenstraße» in Zentralasien. So sind in Kasachstan und Kirgisistan als Reaktion auf rege Wirtschaftsaktivitäten der Volksrepublik nationalistische und antichinesische Tendenzen festzustellen, wie die politischen Analysten und Chinaexperten Anton Bugajenko (Kasachstan) und Nargiza Muratalijewa (Kirgisistan) bei einer von der Vertretung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Zentralasien organisierten Online-Diskussion über den Einfluss der «Neuen Seidenstraße» auf soziowirtschaftliche Entwicklungen in Zentralasien am 19.11.2020 anmerkten.

Aufgrund dieser Schwierigkeiten verlagert sich für Beijng das Zentrum seiner Interessen in der Region nach Usbekistan. Der kasachische Sinologe Adil Kaukenow spricht davon, dass Kasachstan «trotz des objektiv begründbaren Interesses an Investitionen und wachsendem Absatz seiner Waren auf dem chinesischen Markt dem Druck der öffentlichen Meinung nachgibt, die einem regelrechten ‹Hype› aufgesessen ist, und dadurch genau die gegenteilige Entwicklung eintritt. Der Handel und die Investitionspartnerschaft mit dem wirtschaftlich stärksten Nachbarn schrumpfen immer mehr. Das ist auch verständlich, denn bei einem solchen Ausmaß an Mythenbildung, Sinophobie und Ablehnung in der Gesellschaft wird der kasachische Markt zu risikoreich und untauglich für die Zusammenarbeit».

Chancen und Risiken der Partnerschaft mit China

Die zentralasiatische Gemeinschaft ist sich also einerseits über die Unumgänglichkeit der Zusammenarbeit mit China im ITK-Sektor bewusst, sieht aber gleichzeitig eine Reihe von Herausforderungen und Risiken in diesem Zusammenhang. Das zentrale Risiko, das mit der «Neuen Seidenstraße» einhergeht, besteht für zentralasiatische Expert*innen in einer wachsenden Verschuldung aller fünf Länder gegenüber China: Schätzungen zufolge beträgt der chinesische Anteil der gesamten Auslandsverschuldung Kirgisistans über 43 Prozent, Tadschikistans knapp 38 Prozent, Usbekistans 20,6 Prozent und Kasachstans 14 Prozent.

Auch die Schieflage im Handel zwischen China und zentralasiatischen Ländern gibt zu bedenken: Während der Anteil der Volksrepublik in der Außenhandelsbilanz Zentralasiens sehr hoch ist (37 Prozent der Gesamtimporte und 22 Prozent der Gesamtexporte), entfallen auf die Länder dieser Region insgesamt lediglich 0,008 Prozent des chinesischen Außenhandelsumsatzes. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Projekte im Rahmen der «Digitalen Seidenstraße» es den Ländern Zentralasiens ermöglichen, ihre Wirtschaften zu transformieren. Alle fünf Staaten haben bereits in wesentlichen Zügen ihre Strategien für digitale Wirtschaft formuliert, in denen China als Quelle von Investitionen und Technologien eine zentrale Rolle zukommt. Die Partnerschaft mit China eröffnet für die Länder der Region vor allem Chancen bei der Entwicklung der Logistikbranche und der Bildung neuer Produktionscluster.

Die kürzlich zwischen den Ländern Zentralasiens und Beijing getroffenen Vereinbarungen über die Stärkung der Zusammenarbeit im Bereich der Medizin und des Gesundheitswesens sowie den Ausbau der Kooperation im Rahmen der «Neuen Seidenstraße» sehen ebenfalls vor, dass die Länder der Region in Digitalisierungsprojekte eingebunden werden, was in der aktuellen globalen Situation von besonders großer Relevanz ist: So gesehen hat die Coronaviruspandemie zwar 2020–2021 zu Einbußen im Handel zwischen China und den Ländern Zentralasiens geführt, aber andererseits einen Anstoß für eine engere Kooperation im Gesundheitssektor und bei digitalen Technologien gegeben.

Im Allgemeinen hat die Coronakrise den hohen Grad an Abhängigkeit von China und seiner Funktionen in Wertschöpfungsketten für die zentralasiatischen Volkswirtschaften veranschaulicht, auch für kleine und mittlere Unternehmen. Auch wenn eine Reihe von Herausforderungen und Risiken nicht von der Hand zu weisen ist, sehen deshalb Expert*innen aus der Region im Ausbau der «Neuen Seidenstraße» mit der «Digitalen Seidenstraße» einen Weg aus der wirtschaftlichen Krise, vorausgesetzt, die Regierungen gehen fallspezifisch und projektbasiert vor, um nationale Interessen sowie ökologische und sonstige Standards einzuhalten.