In Hanoi bewegte sich nichts mehr. Die achtspurige Autobahn vom Flughafen ins Zentrum war im September 2023 auf einer Länge von mehr als 20 Kilometern gesperrt, an den Zufahrten bildeten sich lange Staus. Bald hatte sich der Grund für den Stillstand herumgesprochen: US-Präsident Joe Biden war in der vietnamesischen Hauptstadt gelandet. Als dessen Wagenkolonne schließlich den Präsidentenpalast erreichte, empfing ihn dort der mächtigste Mann des Landes, Generalsekretär Nguyen Phu Trong von der Kommunistischen Partei Vietnams.
Es war nicht der erste Besuch eines US-Präsidenten. Nach Ende des Vietnamkriegs, der bis zu drei Millionen Tote forderte und in Vietnam als Widerstandskrieg gegen die USA gilt, hatte Bill Clinton im Jahr 2000 mit seiner Reise ein neues Zeitalter der bilateralen Beziehungen eingeläutet. Ungeachtet dessen muss auch der Besuch von Joe Biden als historisch bezeichnet werden, denn beide Seiten unterzeichneten ein Abkommen, mit dem die diplomatischen Beziehungen zu einer «umfassenden strategischen Partnerschaft» aufgewertet werden. Bis dahin hatte Vietnam solche Vereinbarungen nur mit China, Russland, Indien und Südkorea geschlossen. Kurz nach dem Biden-Besuch kam mit Japan ein sechstes Land hinzu, seit März gehört auch Australien zu diesem Kreis.
Stefan Mentschel leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi.
Vietnams nördlicher Nachbar China verfolgt diese Entwicklungen aufmerksam. Direkte Kritik an der Vertiefung der Beziehungen zwischen Vietnam und den USA äußerte Peking nicht. Eine Sprecherin des Außenministeriums forderte Washington allerdings dazu auf, sich an die Normen der internationalen Beziehungen zu halten und seine «hegemoniale und Kalte-Kriegs-Mentalität» im Umgang mit asiatischen Ländern abzulegen.
Die USA würden im Indopazifik und weltweit Allianzen schmieden, die offensiv gegen Pekings Interessen gerichtet seien, befand in einem Hintergrundgespräch auch ein früherer vietnamesischer Diplomat, der anonym bleiben möchte. Diese Politik verfolge das Ziel, den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg der Volksrepublik China einzudämmen. Auf der Suche nach Verbündeten in Südostasien versuche Washington, sich auch die Territorialstreitigkeiten im Südchinesischen Meer zunutze zu machen. Denn während China fast das gesamte Seegebiet, das in Vietnam Ostmeer genannt wird, für sich reklamiere, erhöben Anrainerstaaten wie die Philippinen und Vietnam ebenfalls Anspruch auf einzelne Inseln bzw. Inselgruppen. Das Südchinesische Meer sei mit Blick auf seine geostrategische und wirtschaftliche Bedeutung vergleichbar mit dem Mittelmeer, so der Diplomat weiter, und dürfe daher von keinem Land dominiert und kontrolliert werden.
Ambivalente Beziehungen zu China
Für Vietnam bedeutet das allerdings nicht, sich im Territorialstreit mit China nun die USA als den Feind des Feindes zum alleinigen Freund zu machen. Im Gegenteil: Vietnams Führung hat kein Interesse daran, Peking zu verprellen, auch wenn die Beziehungen ambivalent bleiben. Es gibt jahrzehntealte ideologische, politische und wirtschaftliche Verbindungen; so unterstützte China den Nachbarn in seinen Kriegen gegen Frankreich und die USA mit finanziellen und militärischen Mitteln. Doch nachdem Vietnam in Kambodscha die mit China verbündeten Roten Khmer gestürzt hatte, kam es Anfang 1979 zu einem kurzen und sehr blutigen Grenzkrieg, in dem insgesamt mehr als 100.000 Soldaten getötet oder verletzt wurden. In der vietnamesischen Bevölkerung hat dieser Krieg die Ressentiments gegenüber China verstärkt. Das Misstrauen gegenüber dem Nachbarn ist ohnehin historisch gefestigt, da China jahrhundertelang über das Gebiet des heutigen Vietnams herrschte.
Spätestens seit der Unterzeichnung des Abkommens zur strategischen Partnerschaft im Jahr 2008 haben sich die Beziehungen jedoch wieder vertieft. Öffentlich sichtbar wurde das im Oktober 2022, als Generalsekretär Trong nach dem 20. Parteitag der KP Chinas als erster ausländischer Staatsgast nach Peking reiste, um Staatspräsident Xi Jinping zu dessen im Westen kritisierten Wiederwahl als Generalsekretär zu gratulieren.
Die China-Skepsis in Vietnam hat lange auch die wirtschaftlichen Beziehungen geprägt. Laut Weltbank ist China inzwischen allerdings der größte Handelspartner. 2021 kam ein Drittel aller vietnamesischen Importe mit einem Volumen von rund 110 Milliarden US-Dollar aus China, Güter und Waren im Wert von rund 56 Milliarden US-Dollar gingen in die andere Richtung. Gleichzeitig jedoch hielt sich Hanoi bei der chinesischen Initiative Neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI) lange zurück. Erst nach der Teilnahme des inzwischen zurückgetretenen Staatspräsidenten Vo Van Thuong am BRI-Forum im Oktober 2023 scheint Hanoi auch auf diesem Gebiet zu einer stärkeren Zusammenarbeit bereit zu sein.
Die guten Beziehungen wurden dann im Dezember 2023 durch den Besuch von Xi Jinping in Hanoi ausgebaut. Nur wenige Wochen nach dem Besuch Joe Bidens besaß das eine erhebliche Symbolkraft. Vor dem Hintergrund einer «gemeinsamen Zukunft von strategischer Bedeutung» vereinbarten beide Seiten eine Intensivierung der Beziehungen. So soll es künftig eine vertiefte Kooperation der beiden kommunistischen Parteien geben, zudem wollen die Länder stärker in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit, aber auch Wirtschaft und Kultur zusammenarbeiten.
Die «Identität des vietnamesischen Bambus»
Aus vietnamesischer Sicht sind die verbesserten Beziehungen zu China und den USA kein Widerspruch. Um der Polarisierung im Indopazifik etwas entgegenzusetzen, bemüht sich Vietnam um Ausgleich. Denn in der Region und zwischen den Ländern des südostasiatischen Staatenverbandes ASEAN gibt es bislang keine völkerrechtlich verbindliche Grundlage dafür, um im Ernstfall einen Konflikt friedlich beizulegen. Auch andere ASEAN-Länder haben kein Interesse daran, sich Peking oder Washington anzuschließen. Vietnam wolle sich aufgrund seiner wachsenden internationalen Bedeutung daher noch stärker für einen Friedensmechanismus im Indopazifik einsetzen, erklärt der bereits erwähnte ehemalige Diplomat.
Die politisch-ideologische Grundlage dieser ausgleichenden Außenpolitik geht auf den in Vietnam bis heute verehrten Parteigründer und früheren Staatschef Ho Chi Minh zurück. Bekräftigt wurde sie Anfang 2021 auf dem 13. Parteitag der Kommunistischen Partei. Ziel sei die Verbesserung der auswärtigen Beziehungen und eine noch stärkere internationale Integration, heißt es im Beschluss. Neben der Sicherung von Frieden und Stabilität genieße für Vietnam dabei die Wahrung seiner Unabhängigkeit sowie der Schutz territorialer Integrität höchste Priorität.
Im Dezember 2021 goss Generalsekretär Trong diese Strategie dann erstmals in eine griffige Formel. In der Geschichte Vietnams seien Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und die Wahrung nationaler Interessen immer «unveränderliche Prinzipien» gewesen, betonte er. Gleichzeitig gehe es darum, Konflikte frühzeitig zu lösen und Kriege zu verhindern. Auf den Idealen Ho Chi Minhs aufbauend, sei die Außenpolitik daher durchdrungen von der «Identität des vietnamesischen Bambus«, mit «fester Wurzel, robustem Stamm und flexiblen Zweigen», befand Trong und schuf damit den Begriff «Bambus-Diplomatie», der seitdem Teil des offiziellen Sprachgebrauchs ist.
Die «feste Wurzel» entspreche den Grundprinzipien und Zielen der vietnamesischen Außenpolitik, erklärte der Präsident der Vietnamesischen Union befreundeter Organisationen (VUFO), Phan Anh Son, in einem Interview mit der Zeitung «Viet Nam News». Seine Institution repräsentiert die – neben Partei und Regierung – dritte Säule der Außenbeziehungen, bei der es in erster Linie um die internationalen Kontakte auf gesellschaftlicher Ebene geht. Auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung und andere in Vietnam tätige Organisationen sind Teil des weltweiten VUFO-Netzwerks. Der «robuste Stamm» der Bambus-Diplomatie steht für Son daher vor allem für die enge Zusammenarbeit zwischen diesen außenpolitischen Säulen. Die «flexiblen Zweige» symbolisierten hingegen eine proaktive, flexible und vor allem zweckdienliche Außenpolitik im Interesse des Landes.
Diplomatischer Drahtseilakt
Diese «Flexibilität» wird in der Praxis anhand der erwähnten strategischen Partnerschaften deutlich. Nach den traditionellen Verbündeten China (2008) und Russland (2012) kam 2016 mit Indien ein Land hinzu, das sich außenpolitisch ebenfalls zwischen den neuen Machtblöcken positioniert und für einen regelbasierten Multilateralismus stark macht. Erst danach folgten mit Südkorea, den USA, Japan und Australien westlich orientierte Staaten.
Für die Partnerschaften mit Seoul und Tokio scheinen wirtschaftliche Erwägungen die entscheidenden Faktoren zu sein, denn Vietnam möchte seine Abhängigkeit von China schrittweise verringern. So ist Südkorea nach China und den USA Vietnams drittwichtigster Handelspartner. Zudem engagieren sich zahlreiche Konzerne mit milliardenschweren Direktinvestitionen in Vietnam, darunter die Technologieriesen Samsung und LG. Nicht unterschätzt werden sollte auch der Einfluss koreanischer Popkultur, die in den vietnamesischen Metropolen inzwischen omnipräsent ist. Von Japan verspricht sich Hanoi zukünftig vor allem Investitionen in die Infrastruktur, etwa bei der Modernisierung der Eisenbahn oder dem Ausbau von Fernstraßen und Häfen.
Dem Vernehmen nach stehen Singapur und Indonesien als nächste Länder auf der Liste strategischer Partner. Ob Vietnam bilaterale Abkommen auch mit EU-Ländern abschließen wird, ist ungewiss. Diplomaten in Hanoi können sich allerdings eine strategische Partnerschaft mit der gesamten Europäischen Union vorstellen. Immerhin gibt es seit 2020 zwischen der EU und Vietnam das Freihandelsabkommen EVFTA.
Vietnams Bambus-Diplomatie verfolgt das Ziel, seine Neutralität und Souveränität zu wahren, um einerseits von der wirtschaftlichen Dynamik in der Region zu profitieren und andererseits nicht in das gefährliche Machtspiel zwischen den USA und China hineingezogen zu werden. Generalsekretär Trong brachte das 2021 mit dem Verweis auf Ho Chi Minh so auf den Punkt: Vietnam müsse seinen Wurzeln treu bleiben und sich dennoch anpassen. Zudem brauche es mehr Freunde – und weniger Feinde. Das Ergebnis ist ein diplomatischer Drahtseilakt, der, wie die Besuche von Joe Biden und Xi Jinping belegen, bislang jedoch gut zu funktionieren scheint.
Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.